4

[292] Wilhelm stand noch lange in Gedanken, dann ging er in die Stube. Theodor war seinetwegen in großer Angst gewesen; er hatte das Ächzen des alten Weibes, dann die Stimme des hageren Mannes gehört, sich aber nicht getraut, hinauszugehen. Es war dunkel geworden; dumpf heulte der Sturm. Wilhelm stellte sich ans Fenster; er sagte zu seinem Bruder kein Wort und antwortete nicht einmal auf seine Fragen, er sah unverwandt hinaus, obwohl er der Dunkelheit wegen nichts bemerken konnte. Endlich kehrte er sich um und sprach:

»Ich denke, wir verlassen die Hütte.«

»Ja«, antwortete Theodor, »das laß uns um Gottes willen tun. Wären wir nur aus dem Walde heraus!«

»Komm!« versetzte Wilhelm und öffnete die Tür.

»Noch in dieser Nacht!« fragte Theodor erstaunt.

»Noch in dieser Nacht!« entgegnete Wilhelm.

»Wohlan«, sagte Theodor, »ich folge dir; doch laß mich das kleine Gebetbuch mitnehmen, worin unsere Mutter so oft las und dann immer weinte.«

»Gut, daß du mich erinnerst«, versetzte Wilhelm, »bald hätte[292] ich vergessen, den blanken Dolch mitzunehmen, den der Vater immer zu sich steckte, wenn er zuweilen auf mehrere Tage die Hütte verließ. Mir sagt eine innere Stimme, daß der uns nützen kann.«

»Laß den Dolch liegen, Bruder«, erwiderte Theodor, »mich schaudert, wenn ich ihn ansehe.«

»Sei kein Narr«, antwortete Wilhelm spöttisch, »ich will einen Kienspan anzünden, damit ich den Dolch finde.«

»Du wirst ihn gewiß liegen lassen«, versetzte Theodor, »wenn ich dir etwas erzähle, was ich dir noch niemals erzählt habe und was ich gern ewig verschwiegen hätte.«

»Nun? was ist es denn?« fragte Wilhelm ungeduldig, indem er zugleich einen Kienspan anzündete und in einer alten Schublade aufzukramen begann.

»Du weißt«, begann Theodor, »daß ich im vorigen Winter das Fieber hatte. Da saß eines Abends die Mutter spät bei mir auf, um mir zu trinken zu geben, wenn ich durstig wurde. Der Vater war schon mehrere Tage abwesend gewesen, und ich bemerkte, daß die Mutter zu wiederholten Malen tief aufseufzte. Ich meinte, daß sie sich wegen meiner Krankheit gräme, und richtete mich einmal auf, ihr die Hand drückend. Sie streichelte mir die Wange; ich sah aber wohl, daß sie an mich nicht gedacht hatte. Es dauerte noch eine ziemliche Weile, und ich war fast eingeschlafen, als der Vater kam. Er war sehr still, setzte sich auf einen Stuhl, stützte das Haupt auf den Tisch und antwortete der Mutter, als diese ihn fragte, ob sie ihm etwas zu essen bringen solle, er sei nicht hungrig. Die Mutter setzte sich zu ihm; erst schien sie nicht zu wagen, ihn anzureden; denn du weißt, daß er zuweilen sehr hart gegen sie war und sie schlug; zuletzt faßte sie ein Herz und fragte: ›Friedrich, was fehlt dir?‹ ›Schlafen die Kinder?‹ entgegnete er und warf einen scheuen Blick zu mir hinüber. Ich hatte mich noch eben unruhig hin und her gewälzt; jetzt aber lag ich mäusestill und stellte mich, als ob im tiefstem Schlafe läge. Die Mutter stand auf, ging erst zu meinem Bett und dann zu deinem; darauf sagte sie: ›Sie schlafen süß!‹ und setzte sich wieder nieder bei dem Vater. Nun zog der Vater den Dolch hervor und legte ihn mit einem gräßlichen Lächeln auf den Tisch. Die Mutter nahm ihn in die Hand; aber entsetzt ließ sie ihn fallen und schrie: ›Abscheulicher,[293] es ist ja Blut darauf!‹ ›Weib, schweige!‹ rief jener wild und ergriff sie heftig beim Arm. Mit der anderen Hand nahm er den Dolch auf; ich zitterte, nie hat der Vater so schrecklich ausgesehen, wie in diesem Augenblick. Die Mutter sah ihn nicht wieder an; sie weinte still. Er stand auf und ging einige Minuten auf und ab in der Stube; dann trat er vor sie hin, faßte sanft ihre Hand und sagte: ›Marie, fasse dich, was geschehen ist, das ist geschehen!‹ ›O, wärest du geblieben, was du warst, als du mich heiratetest‹, antwortete sie, und zog ihre Hand zurück, ›wärest du noch Tagelöhner! Hättest du niemals eine Flinte in die Hand genommen! O, der abscheuliche, fremde Jäger, der den Hang, die Wälder zu durchstreifen, zuerst in dir aufweckte und nährte!‹ ›Fluch ihm nicht, Weib‹, entgegnete der Vater ernst, ›er hat uns in diese sichere Höhle hineingeführt und mir in mancher Nacht die Fährte eines edlen Wildes gezeigt; und jetzt bedarf er überhaupt keines Fluches mehr!‹ ›Friedrich, ist das Menschenblut?‹ fragte die Mutter leise und langsam, indem sie auf den Dolch zeigte. ›Es ist Menschenblut‹, entgegnete der Vater dumpf und trocknete den Dolch in einem Tuche ab, welches er darauf aus dem Fenster warf. O Wilhelm, wie wurde mir zumute, als ich dies alles hörte. Ich hätte laut aufschreien mögen, aber meine Angst war so groß, daß ich kaum atmen und viel weniger einen Laut von mir geben konnte.«

»Fahre fort«, sagte Wilhelm, der seinen Bruder mit fieberhafter Aufmerksamkeit angehört hatte, »unterbrich dich nicht!«

Theodor seufzte tief auf; dann fuhr er fort:

»Der Vater sah nun einige Augenblicke aus dem Fenster, welches er geöffnet hatte, um das blutige Tuch herauszuwerfen. Darauf machte er es heftig zu, daß es klirrte, und setzte sich an den Tisch. ›Ich kann dein Stillschweigen und dein Gewimmer nicht ausstehen, Weib!‹ rief er nach einer langen Pause der Mutter zu, ›laß dein Heulen und sprich mit mir!‹ ›Ich kann nicht mit dir sprechen‹, antwortete sie, ›ich kann dich nicht ansehen, du bist ein Mörder!‹ ›Schweig, oder ich morde dich auch‹, fuhr er auf und schlug wütend auf den Tisch, ›mir ist nun alles einerlei! Gott, Friedrich, du bist tief gesunken!‹ antwortete die Mutter mit einem schmerzlichen Lächeln. ›Willst du mich verhöhnen?‹ schrie der Vater wie außer sich und sprang auf. Da sah die Mutter[294] zu ihm auf; er konnte ihren Blick nicht aushalten, er taumelte auf seinen Stuhl zurück und sagte kein Wort mehr. Als die Mutter ihn aber so zerknirscht sitzen sah, ergriff sie inniges Mitleid; sie stand auf, fiel ihm schluchzend um den Hals und rief: ›Ach Friedrich, wie war es möglich!‹ Er drückte sie sanft von sich; doch plötzlich sprang er vom Stuhle auf und rief: ›Was ich getan habe, das kann ich auch sagen.‹ Nun ging er einige Male in der Stube auf und ab; dann fuhr er fort: ›Du weißt nicht, Maria, daß der allergnädigste König auf den Kopf des verruchten Wild schützen einen Preis gesetzt hatte, und daß die Gefahr, beim Verkaufe der nächtlichen Beute entdeckt und dann lebenslänglich eingekerkert, wenn nicht gar an den Galgen gehängt zu werden, sich täglich steigerte; du weißt nicht, daß mich einmal sogar ein Schurke von Bauer, dessen Acker ich von manchem gefährlichen Feinde befreit hatte, verriet und meinen Verfolgern fast in die Hände spielte. Alles dieses weißt du nicht; um dich nicht zu ängstigen, um gegen deine Lamentation gesichert zu sein, habe ich es dir bisher verschwiegen. So aber steht es mit mir, ich bin nicht sicherer wie das Reh im Walde, das ich hetze, wie die Drossel im Baum, die ich fange; ich muß auf andere Erwerbsmittel sinnen, die Kinder werden von Tag zu Tag größer. Da begegne ich gestern abend auf einmal, nachdem ich den ganzen Tag vergebens umhergestrichen hatte, dem hageren Jäger. Du weißt, wie zerlumpt er aussah, als er zum ersten Male, wie wir noch im Dorfe wohnten, bei uns einsprach; du hast ihn seitdem nicht wiedergesehen, mir ist er indes noch oft zur Dämmerungszeit in den Weg geraten, und immer war er ein Jammerbild des Hungers und des Elends. Gestern abend aber war er stattlich in Samt und Seide gekleidet, eine neue, blankgeputzte Büchse prangte auf seiner Schulter, und einige wohlgenährte Hunde sprangen lustig um ihn herum. Ich sah ihn mit Erstaunen an; er tat, als ob ers nicht bemerkte und zog eine goldene Uhr aus der Tasche.‹«

Theodor fuhr fort:

»›Ich gestehe dir, Weib‹, sagte der Vater, ›daß sich meiner die tiefste Unzufriedenheit mit meinem Schicksal bemeisterte, als ich diesen Menschen sah, der seiner elenden Lage so plötzlich, wie durch Zauberschlag, entrissen zu sein schien, während es mit mir von Tag zu Tag schlechter ging; mich beleidigte jeder seiner[295] Blicke, der Glück und Freude verkündigte, und ich konnte die hämische Frage nicht unterdrücken: ob er in die Lotterie gesetzt und das große Los gewonnen habe? In eine Lotterie, wo man immer gewinnt‹, war seine Antwort, ›die Zahlen sind eins und zwei, ein Messer und zwei Fäuste, und der Gewinn sitzt in meiner Tasche.‹ Dabei zog er eine volle Börse hervor und zeigte mir Goldstücke. Ich verstand den Sinn seiner zweideutigen Redensarten sehr wohl, dennoch gab ich mir den Anschein, als ob ich sie nicht enträtseln könne, und fragte, was er meine. Er warf einen schnöden, verächtlichen Blick auf mich und sagte: ›Ihr seid zu dumm, um so etwas auch nur zu begreifen, und gewiß zu feig, um es je zu versuchen!‹ Damit wollte er gehen. Diese vornehme Abfertigung verdroß mich aber über die Maßen; ich rief wütend: ›Ihr irrt Euch!‹ zog den Dolch und stieß ihm denselben in die Seite. Er kehrte sich, ohne einen Schrei von sich zu geben, zu mir um und drohte mir mit dem Finger; dann sank er tot zu Boden. Es war nicht meine Absicht gewesen, ihn zu töten. Da er aber einmal tot war, wußte ich mich bald darin zu fassen, es war mir nicht viel anders zumute, als ob ich ein Wild erlegt hätte, und, wie ich dieses auszuweiden pflege, zog ich ihm Uhr und Börse aus der Tasche. Kaum war ich hiermit fertig, als mich plötzlich eine Schar Soldaten umringte; sie drangen auf mich ein, sie wollten mich gefangennehmen; ich aber rief ihnen zu: ›Was, an mir, dem treuesten Diener eures Königs, wollt ihr euch vergreifen, und eben habe ich den Wilddieb, dem ihr schon so lange vergeblich nachstellt, niedergestochen und mir den Preis verdient, der auf seinen Kopf gesetzt ist?‹ Hierdurch wurden sie stutzig gemacht; als sie nun mit der Laterne, die sie bei sich führten, den Körper des Ermordeten beleuchteten, rief einer aus ihrer Mitte: ›Dies ist derselbe, auf den ich mehrere Male geschossen, ihn aber beständig verfehlt habe!‹ Jetzt glaubten fast alle, in dem Toten einen Menschen zu erkennen, der ihnen auf ihren Streifzügen zuweilen begegnet und aufgefallen, aber immer wieder auf unbegreifliche Art verschwunden war. Der Offizier des Korps klopfte mich auf die Schultern und sagte mir, daß, wenn er mich gleich ersuchen müßte, ihn zu begleiten, mir doch meine wohlverdiente Belohnung nicht entgehen werde. Ich konnte es nicht ablehnen, mit ihnen in die Stadt zu gehen;[296] hier wurde ich einem weitläufigen Verhör unterzogen, in welchem ich aussagte, daß ich dem erstochenen Jäger schon längst auf der Spur gewesen sei und ihn betroffen habe, wie er eben auf einen Hirsch angelegt; ich wurde wegen meines Mutes belobt und erhielt die Prämie in baren, blanken hundert Gulden; von diesen, sowie von der Börse und der goldenen Uhr des Jägers können wir lange leben; der Leichnam des Jägers ist heute an den Galgen gehängt worden! Als der Vater seine Erzählung geendet hatte, legte er den Dolch in die Schieblade; du wirst ihn nun wohl liegen lassen, Wilhelm!« Theodor schwieg, Wilhelm sah ihn lange an; dann sagte er:

»Ich könnte dir auch etwas erzählen, wovor sich dir die Haare emporsträuben würden; ich weiß, daß unser Vater den Dolch mehr als einmal gebraucht hat, und eben, weil ich dies wußte, war ich in der letzten Zeit oft so widerspenstig gegen ihn. Aber wir wollen uns nicht noch mehr ängstigen; nimm du dein Gebetbuch, dann wollen wir gehen.«

Theodor antwortete nichts und tat, wie ihm geheißen war. Wilhelm steckte, ohne daß sein Bruder es gewahr wurde, den Dolch zu sich; dann verließen beide die Hütte.

Die Nacht war so freundlich, wie eine Winternacht nur irgend sein kann. Der Mond schien hell, und so schwer Wilhelm und Theodor es sich vorgestellt hatten, sich aus dem dichten Walde herauszufinden, so leicht schien es ihnen zu gelingen. Schon waren sie auf einen gebahnten Steig gelangt, den sie munter verfolgten; da hörten sie über sich ein dumpfes Rauschen, wie von den schweren Flügelschlägen eines Raubvogels, und eine heisere Stimme erscholl: »Du bist ein Mörder, ich verfolge dich, Mörder!«

Wilhelm erkannte die Stimme, es war die Stimme des alten Weibes; alle Angst, die er gefühlt hatte, als die Alte leblos zu Boden gesunken war, ergriff ihn wieder; er zitterte, und seine Füße versagten ihm den Dienst. Theodor indes, als er sah, daß sein Bruder fast ohnmächtig zusammensank, erglühte von ungewohntem Mut; als es noch einmal aus den dunkeln Lüften herunterscholl: »Du bist ein Mörder!« rief er laut mit feierlicher Stimme: »Wer du auch sein magst, du lügst; wir sind fromme Kinder und stehen in Gottes Schutz!« Wilhelm hielt ihm aber die Hand vor den Mund und sagte ängstlich:[297] »Schweig, Bruder, reize die Alte nicht, ich bin ein Mörder!« Theodor starrte ihn sprachlos an, Wilhelm aber, in ungeheurer Angst, ergriff seine Hand und zog ihn hastig mit sich fort; ohne einen Augenblick zu rasten, eilten sie über die Landstraße, bis der kleine Theodor endlich keuchend, fast atemlos zu Boden stürzte und dadurch auch seinen Bruder, der noch immer die heisere Stimme des alten Weibes über sich zu hören glaubte, zum Stehenbleiben bewog.

Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 3, München 1963, S. 292-298.
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