8

[309] Es war Nacht geworden. Theodor und Wilhelm durchwanderten noch immer die Straßen von Hamburg; Theodor ergötzte sich kindlich an all den Herrlichkeiten, die besonders zur Weihnachtszeit in den festlich geschmückten Buden aufgestellt sind; nur zuweilen machte er seiner Freude und Verwunderung in einem Ausrufe Luft; denn er mochte seinen Bruder, der ihm still und bleich zur Seite ging, nicht stören.

Wilhelm ergriff von Stunde zu Stunde tiefere Unruhe, bald wünschte er meilenweit von Hamburg entfernt zu sein; bald sehnte er sich nach der Erscheinung des Hageren; zuletzt versank er ganz und gar in jene Art trüber Gleichgültigkeit, die vielleicht unter allen Gemütszuständen die meiste Ähnlichkeit mit dem Tode hat.

Die Uhr schlug elf, da standen die Knaben wieder auf dem Petri-Kirchhofe. In demselben Augenblicke schritt der hagere Mann auf sie zu; er sagte Wilhelm guten Abend und musterte Theodor mit einem stechenden Blick, der diesen, wie ein glühender Pfeil, durchdrang.

Theodor fühlte sich im Innersten wie von dem Finger des Todes berührt; er ahnte, daß ihm eine feindliche Natur, mit welcher er nichts gemein habe, gegenüberstehe; er faßte seinen Bruder, der den Hageren sprachlos anstarrte, bei der Hand sagte: »Laß uns diesen Ort verlassen, Wilhelm!«

Wilhelm zuckte zusammen; aber er preßte die Hand seines Bruders heftig in die seinige und rief: »Jawohl, wir wollen gehen!«

Der Hagere lachte laut auf, wandte sich um und bog um die Ecke der Kirche. Noch einmal schaute er zurück; da fühlte[309] Wilhelm sich unwiderstehlich fortgerissen; er ließ die Hand seines Bruders los und schrie:

»Ich muß ihm nach, er darf nicht fort!«

»Ich warte!« rief der Hagere zu ihm herüber, Wilhelm stürzte auf ihn zu.

»Gib mir die Hand und sei kein Tor!« sagte der Hagere.

Wilhelm gab sie ihm; aus den kalten Fingerspitzen des Hageren schien sich ein elektrisches Feuer in ihn zu ergießen; ihm war wie damals, als er aus der Flasche getrunken hatte; eine wunderbare Welt umgaukelte ihn; noch einmal, wie einst in der Hütte, ging das Leben in all seinen Erscheinungen an ihm vorüber; noch einmal stand das Mädchen in vollem Liebreiz vor ihm da.

Wilhelm schloß vor Entzücken seine Augen; als er sie wieder aufschlug, fiel sein erster Blick auf das unheimliche Gesicht des Hageren, der ihn mit steinernem Ernst betrachtete. Er tat einen Schritt zurück; dann fragte er mit unsicherer Stimme: »Wer bist du?«

»Was kümmerts dich, Knabe, wer ich bin!« antwortete der Hagere mit finsteren Stirnfalten, »du weißt, was ich kann!«

»Du sagtest, du wärest der Teufel«, fuhr Wilhelm fort, »bist du der Teufel?«

»Schweig!« rief der Hagere zornig und trat dicht vor Wilhelm hin. Wilhelm zitterte, ihm brachen die Knie zusammen, und er wäre zu Boden gesunken, wenn der Hagere ihn nicht schnell bei der Hand ergriffen hätte. Doch, sobald dies geschehen war, fühlte er sich wieder stark, wie zuvor; er schlug seine Augen wieder zu dem Hageren auf und begriff nicht, wie er sich vor ihm habe fürchten können.

»Ich will dich jetzt einführen in die Tiefen der Natur und in die Geheimnisse deines Lebens«, begann der Hagere; »ich will den Fluch von deinem Haupte nehmen, der dich erdrücken würde; ich will dir den Feind zeigen, der sich all deinen Bestrebungen in den Weg stellen wird, wenn du ihn nicht vernichtest!«

Wilhelm erglühte; unverwandt, mit leuchtenden Blicken hing sein Auge an dem Munde des Hageren; seine Hand ballte sich, ihm selber unbewußt, zusammen; er fragte:

»Wer ist mein Feind,«

»Dein Bruder!« erwiderte der Hagere.[310]

»Du lügst, du lügst!« rief Wilhelm heftig, »mein Bruder ist mir zugetan in ewiger Liebe; er ist besser als ich.«

»Und doch dein Feind!« versetzte der Hagere ruhig. »Wer war der Liebling deiner Eltern? Er oder du,«

»Es ist wahr«, erwiderte Wilhelm, innerlich zerknickt, »ihm steckte die Mutter täglich Leckerbissen zu, ihm schnitt der Vater zuerst Brot, und selten trug ich ein so gutes Kleid wie er.«

Er hielt inne, denn er erinnerte sich, daß auch die Frau ihn und seinen Bruder nur deswegen so freundlich bei sich aufgenommen hatte, weil Theodor ihrem Sohne glich.

»Versenke dich tief in die Vergangenheit«, sagte der Hagere nach einer langen Pause, »und dann frage dich, ob es nicht immer dein Bruder war, dem du deine schmerzlichsten Stunden verdanktest.«

Wilhelm schwieg; aber das Andenken einer Stunde, durch die er einst in seinen heiligsten Gefühlen verletzt und seinen Eltern ohne sein Zutun entfremdet worden war, ging schauerlichdüster an seiner Seele vorüber. Die Mutter hatte einmal eine schöne Tasse zerbrochen gefunden; sie hatte geglaubt, daß Wilhelm, den sie immer den Ungestümen, den Wilden zu nennen pflegte, am Zerbrechen der Tasse schuldge wesen sei; sie hatte ihn zur Rede gesetzt und, ohne auf die flehenden Beteuerungen seiner Unschuld zu hören, ihn hart gezüchtigt. Späterhin, als Theodor von einem Spaziergange mit seinem Vater aus dem Walde zurückgekehrt war, hatte dieser bekannt, er habe die Tasse unvorsichtigerweise an die Erde geworfen, und statt ihn zu strafen, hatte die Mutter ihm seine Unvorsichtigkeit kaum in einigen gelinden Worten verwiesen und ihn dann, als ihm eine Träne über die Wangen floß, gleich wieder geliebkost.

»O, das war hart!« rief Wilhelm aus. Er war zu tief in Erinnerungen versunken, um zu wissen, daß er seinen Gedanken Worte gab.

In diesem Augenblicke rauschte es über Wilhelms Haupt; er kannte dieses Rauschen und zitterte heftig; da scholl es aus der Luft herunter: »Mörder! Mörder!«

»O Gott!« rief Wilhelm aus.

»Laß das, Knabe«, sagte der Hagere, und eine unheimliche Glut flammte in seinem Auge auf, »du hast einst den Teufel an[311] gerufen, und er hats nicht vergessen. Denk lieber an deinen Bruder; wär er nicht gewesen, so wärest du nimmer ein Mörder geworden.«

»Nimmer, nimmer!« wiederholte Wilhelm langsam und biß die Zähne zusammen.

»Fühlst du dies? erkennst du dies?« versetzte der Hagere lebhaft, »nun, so wirst du jenen Tag verfluchen, an welchem du den unnützen Bruder durch meinen Trunk vom Tode errettetest. Ich wollte dir nicht verweigern, was dein Unverstand von mir verlangte – hätt ichs getan, dir wäre besser!«

»Was geschehen ist, das ist geschehen!« sagte Wilhelm in dumpfem Hinbrüten.

»Aber, du hast ihm das Leben gegeben – du mußt es ihm wie der nehmen«, versetzte der Hagere leise.

»Entsetzlicher!« rief Wilhelm und starrte den Furchtbaren an.

»Höre mich an«, fuhr der Hagere fort, »ich muß dich etwas fragen. Ich habe dir die Welt gezeigt in ihrer Herrlichkeit; du sahest Krieger und Künstler, den Kaufmann und den Gelehrten. Hast du keinen unter ihnen beneidet?«

»Ich möchte werden wie sie!« erwiderte Wilhelm.

»Ich zeigte dir die Schönheit in ihrer Allmacht; du sahest die Jungfrau, die Blume der Schöpfung, vor welcher der Erdkreis sich beugt. Blieb dein Herz kalt bei dem Anblick der Schönheit.«

»Ach, ich verging in unendlicher Sehnsucht«, sagte Wilhelm und gab dem Hageren die Hand, nach welcher er faßte, willig hin, »und eben jetzt ist es mir, als stiege jenes Bild leuchtender vor meiner Seele auf, als jemals. Kann ich denn leben, wenn ich sie nimmer besitzen soll;«

»Und auch sie«, fuhr der Hagere fort, »ist mit unauflöslichen Banden an dich geknüpft, wie du an sie; doch sie wird sich deinem Bruder zuneigen in unwiderstehlicher Verblendung, und sie wird verbluten und du wirst verbluten, denn also beschloß es die Natur, als sie neben dir deinen Bruder hervorbrachte. Auf sein Haupt wird sich alles häufen, was von Ewigkeit her für dich bestimmt war; er ist wie die unverschämte, breitblätterige Sonnenblume, ohne Duft und Farbenpracht, die den Tau auffängt, der das an ihrer Seite aufgeschossene Veilchen erquicken sollte; die Bahn der Ehre ist für dich verschlossen, damit sie sich für ihn eröffne;[312] ihm wird alles Schöne zuteil werden, und du wirst ewig darben!«

Der Hagere, dessen Stimme immer voller und gewaltiger geworden war, schwieg einen Augenblick; dann sagte er: »Armer Knabe!« und drückte Wilhelm die Hand. Dieser Händedruck durchdrang Wilhelm bis ins Innerste, seine Sinne verwirrten sich, er rief: »Was soll ich tun!«

»Ihn töten, töten!« antwortete der Hagere.

»Ich nicht, du! du!« sagte Wilhelm, und seine Zähne klapperten.

»Wohlan, ich, wenn du es befiehlst«, versetzte der Hagere trocken; »er kommt eben auf uns zu. Ich will seine Gebeine zerschmettern, daß keine Spur von ihm übrigbleibt!«

Seine Augen sprühten Funken, seine Gestalt wuchs ins Unendliche, er tat einen Schritt vorwärts. Wilhelm sah, daß Theodor sich schüchtern nahte; da schrie er laut auf: »Nein, Schrecklicher, nicht du, ich selbst, ich selbst!« Zugleich stürzte er in entsetzlicher Angst auf seinen Bruder und rief: »Theodor, Theodor!

Du mußt fliehen oder sterben!« »Bruder, wie bist du blaß – was fehlt dir,« sagte Theodor im Tone des innigsten Mitleids.

»Ach, ich –« Die Stimme brach Wilhelm, die Anrede seines Bruders hatte ihn im tiefsten erschüttert, der Zauber, der ihn bisher geblendet hatte, wirkte nicht mehr; mit dem Ausrufe:

»Schütze mich! Schütze mich!« fiel er Theodor an die Brust.

In diesem Augenblicke erscholl eine Weihnachtsmusik vom Turme. O, Musik, heilige Stimme der Natur, worin sie alles aus spricht, was zu flüchtig ist für die Gestaltung in einer ihrer tausendfachen Formen und zu zart für die Gedanken des Menschen, welcher die Wasserlilien, die sich aus ihren ewigen Tiefen empor ringeln, nur pflücken, aber nicht bis an die Wurzeln verfolgen kann! Du entblätterst die Welt wie eine Rose, aber nur, um in ihr Innerstes einzudringen und von der Kraft nippen, die ewig neue Blüten treibt, du führst den Geist in schwindelndem Fluge bis an seine Grenze, aber nur, weil diese Grenze der Anfang der Gottheit ist.

Theodor und Wilhelm hatten nie eine Musik gehört. Brust an Brust gelehnt, standen sie da, ohne Worte, nur Empfindung,[313] Vergangenheit Gegenwart und Zukunft schwebten an ihnen vorüber; jede Saite, die bisher in den Tiefen ihrer Brust nur noch gezittert hatte, erklang. Es gab für Theodor nichts mehr, was er fürchtete, für Wilhelm nichts mehr, was er hoffte. Das Gemüt gab sich kund, hier in der Zerknirschung, die, wie jeder Tod, der Herold unsterblichen Lebens war, und dort in der Erhebung zum Zenitpunkte geistiger Freiheit.

»Das ist der Gesang der Engel«, sagte Theodor leise, »von dem Mutter uns so oft erzählte; mir ist, als ob ich in diesem Augen blicke den lieben Gott sähe; ich will beten.«

»Bete mit für mich«, sagte Wilhelm, »ich sterbe!«

Theodor hörte nicht, was sein Bruder gesagt hatte; er war auf seine Knie gesunken und hatte die Hände in frommer Andacht gefaltet. Wilhelm sah ihn beten; er wandte sich von ihm ab, und Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er glaubte vor dem unsichtbaren Richterstuhl desjenigen zu stehen, der die Gedanken erkennt, bevor sie ausgesprochen werden, und Schauer des Todes rieselten ihm durch die Gebeine. Doch jener unvorsätzliche Totschlag in der Hütte war es nicht mehr, der seine Seele beängstigte; auch die letzte, finstere Stunde folterte ihn nicht. Aber es wurde ihm klar, daß er immer die Kraft in sich getragen hatte, den unheimlichen Blend- und Zauberwerken, die sich ihm entgegendrängten, zu widerstehen, und das Bewußtsein, den Hageren nicht in heiligem Ernst von sich gestoßen, sondern sich seinen Verlockungen willig hingegeben und um das Höchste des Lebens aus Trotz und Eitelkeit freventlich gespielt zu haben, zermalmte ihn.

Die tiefen, langgezogenen Töne des Horns bohrten sich wie Keile in seine Seele, und er fühlte zugleich, daß sie ihn zum Himmel würden erhoben haben, wenn sie ihn nicht in die Hölle hätten hinunterstürzen müssen. All die reizenden Lebensbilder, die der Hagere an ihm vorübergeführt hatte, grüßten ihn auch jetzt, aber reiner, lauterer, und ohne sein Herz zu rasender Begierde zu entflammen, wie einst. »Mir selbst und dem Himmel hat der Entsetzliche die Blumen gestohlen, durch die ich mich verlocken ließ!« rief er aus. Dies war sein größter und sein letzter Schmerz.

Die Musik verstummte. »Ach, Wilhelm,« sagte Theodor, tief[314] aufatmend, indem er wieder aufstand, »ich glaubte, schon oft gebetet zu haben, aber ich habe zum ersten Male gebetet!«

»O Bruder, Bruder!« rief Wilhelm aus und bedeckte mit der Hand das Gesicht, »sag mir, wie werd ich wie du?«

Theodor wollte Wilhelm umarmen, doch schnell trat er, von einem großen Gedanken ergriffen, zurück und sagte:

»Bruder, hebe deine Hände empor zu den Sternen und schwöre, wie ich eben geschworen, allem, was edel und gut ist, ewige Treue!« Da faltete Wilhelm seine Hände und blickte zum Himmel auf und stammelte: »Ewig, ewig!« Sein Angesicht leuchtete.

In diesem Augenblicke gingen an den Knaben mehrere Männer mit Blasinstrumenten unter dem Arme vorbei. Es waren die Musikanten, die vom Turme kamen.

Da klopfte plötzlich der Hagere Wilhelm auf die Schulter und sagte, indem er auf die Musikanten zeigte: »Siehe, Knabe, das sind deine Götter!« Dann verschwand er mit einem heiseren Gelächter.

Jetzt sind wir zu dem Punkte gekommen, wo wir den Zwiespalt, der Wilhelms Natur zerriß, geschlichtet sehen. Wir wollen nun von den einsamen Kindern Abschied nehmen und nur noch bemerken, daß sie zu der Frau, die sie einst so freundlich aufgenommen hatte, zurückkehrten, und daß diese sich späterhin, als Theodors Gebetbuch ihr zufällig in die Hände kam, als die Schwester ihrer Mutter auswies.

Wilhelm, von seinem inneren Zwiespalt genesen, ward sich, unter freundlichen Verhältnissen, bald der Kraft bewußt, die in jedem Menschen lebt, der Kraft: dem Bösen widerstehen zu können, sobald man nur ernstlich will. Das Gemüt war in ihm erwacht, und dieses, in Verbindung mit der Religion, von der er bald die gehörigen Begriffe bekam, beschützte ihn gegen spätere Verirrungen. Er wurde gut und fromm, wie sein Bruder, und wenn er einmal vom Pfade des Guten abweichen wollte, erinnerte er sich der Schrecknisse, in die ihn seine frühere Gemütlosigkeit und Begehrlichkeit gestürzt hatten, und kehrte schaudernd der Versuchung den Rücken.[315]

Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 3, München 1963, S. 309-316.
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