Delaroche

[327] ist der Chorführer einer solchen Schule. Dieser Maler hat keine Vorliebe für die Vergangenheit selbst, sondern für ihre Darstellung, für die Veranschaulichung ihres Geistes, für Geschichtschreibung mit Farben. Diese Neigung zeigt sich jetzt bei dem größten Teile der französischen Maler: der Salon war erfüllt mit Darstellungen aus der Geschichte, und die Namen Devéria, Steuben und Johannot verdienen die ausgezeichnetste Erwähnung.

Delaroche, der große Historienmaler, hat vier Stücke zur diesjährigen Ausstellung geliefert. Zwei derselben beziehen[327] sich auf die französische, die zwei andern auf die englische Geschichte. Die beiden ersten sind gleich kleinen Umfangs, fast wie sogenannte Kabinettstücke, und sehr figurenreich und pittoresk. Das eine stellt den Kardinal Richelieu vor, »der sterbekrank von Tarascon die Rhone hinauffährt und selbst in einem Kahne, der hinter seinem eigenen Kahne befestigt ist, den Cinq-Mars und den de Thou nach Lyon führt, um sie dort köpfen zu lassen«. Zwei Kähne, die hintereinander fahren, sind zwar eine unkünstlerische Konzeption; doch ist sie hier mit vielem Geschick behandelt. Die Farbengebung ist glänzend, ja blendend, und die Gestalten schwimmen fast im strahlenden Abendgold. Dieses kontrastiert um so wehmütiger mit dem Geschick, dem die drei Hauptfiguren entgegenfahren. Die zwei blühenden Jünglinge werden zur Hinrichtung geschleppt, und zwar von einem sterbenden Greise. Wie buntgeschmückt auch diese Kähne sind, so schiffen sie doch hinab ins Schattenreich des Todes. Die herrlichen Goldstrahlen der Sonne sind nur Scheidegrüße, es ist Abendzeit, und sie muß ebenfalls untergehen; sie wird nur noch einen blutroten Lichtstreif über die Erde werfen, und dann ist alles Nacht.

Ebenso farbenglänzend und in seiner Bedeutung ebenso tragisch ist das historische Seitenstück, das ebenfalls einen sterbenden Kardinal-Minister, den Mazarin, darstellt. Er liegt in einem bunten Prachtbette in der buntesten Umgebung von lustigen Hofleuten und Dienerschaft, die miteinander schwatzen und Karten spielen und umherspazieren, lauter farbenschillernde, überflüssige Personen, am überflüssigsten für einen Mann, der auf dem Todbette liegt. Hübsche Kostüme aus der Zeit der Fronde, noch nicht überladen mit Goldtroddeln, Stickereien, Bändern und Spitzen, wie in Ludwigs XIV. späterer Prachtzeit, wo die letzten Ritter sich in hoffähige Kavaliere verwandelten, ganz in der Weise, wie auch das alte Schlachschwert sich allmählich verfeinerte, bis es endlich ein alberner Galanteriedegen wurde. Die Trachten auf dem Gemälde, wovon ich spreche, sind noch einfach, Rock und Koller erinnern noch an das ursprüngliche Kriegshandwerk des Adels, auch[328] die Federn auf dem Hute sind noch keck und bewegen sich noch nicht ganz nach dem Hofwind. Die Haare der Männer wallen noch in natürlichen Locken über die Schulter, und die Damen tragen die witzige Frisur à la Sévigné. Die Kleider der Damen melden indes schon einen Übergang in die langschleppende, weitaufgebauschte Abgeschmacktheit der späteren Periode. Die Korsetts sind aber noch naiv zierlich, und die weißen Reize quellen daraus hervor, wie Blumen aus einem Füllhorn. Es sind lauter hübsche Damen auf dem Bilde, lauter hübsche Hofmasken: auf den Gesichtern lächelnde Liebe und vielleicht grauer Trübsinn im Herzen, die Lippen unschuldig wie Blumen und dahinter ein böses Zünglein, wie die kluge Schlange. Tändelnd und zischelnd sitzen drei dieser Damen, neben ihnen ein feinöhriger, spitzäugiger Priester mit lauschender Nase, vor der linken Seite des Krankenbettes. Vor der rechten Seite sitzen drei Chevaliers und eine Dame, die Karten spielen, wahrscheinlich Landsknecht, ein sehr gutes Spiel, das ich selbst in Göttingen gespielt und worin ich einmal sechs Taler gewonnen. Ein edler Hofmann in einem dunkelvioletten, rotbekreuzten Sammetmantel steht in der Mitte des Zimmers und macht die kratzfüßigste Verbeugung. Am rechten Ende des Gemäldes ergehen sich zwei Hofdamen und ein Abbé, welcher der einen ein Papier zu lesen gibt, vielleicht ein Sonett von eigner Fabrik, während er nach der andern schielt. Diese spielt hastig mit ihrem Fächer, dem luftigen Telegraphen der Liebe. Beide Damen sind allerliebste Geschöpfe, die eine morgenrötlich blühend wie eine Rose, die andere etwas dämmerungssüchtig, wie ein schmachtender Stern. Im Hintergrund des Gemäldes sitzt ebenfalls schwatzendes Hofgesinde und erzählt einander vielleicht allerlei Staatsunterrocksgeheimnisse oder wettet vielleicht, daß der Mazarin in einer Stunde tot sei. Mit diesem scheint es wirklich zu Ende zu gehen: sein Gesicht ist leichenblaß, sein Auge gebrochen, seine Nase bedenklich spitz, in seiner Seele erlischt allmählich jene schmerzliche Flamme, die wir Leben nennen, in ihm wird es dunkel und kalt, der Flügelschlag des nächtlichen Engels berührt schon seine Stirne;[329] – in diesem Augenblicke wendet sich zu ihm die spielende Dame und zeigt ihm ihre Karten und scheint ihn zu fragen, ob sie mit ihrem Cœur trumpfen soll.

Die zwei andern Gemälde von Delaroche geben Gestalten aus der englischen Geschichte. Sie sind in Lebensgröße und einfacher gemalt. Das eine zeigt die beiden Prinzen im Tower, die Richard III. ermorden läßt. Der junge König und sein jüngerer Bruder sitzen auf einem altertümlichen Ruhebette, und gegen die Türe des Gefängnisses läuft ihr kleines Hündchen, das durch Bellen die Ankunft der Mörder zu verraten scheint. Der junge König, noch halb Knabe und halb schon Jüngling, ist eine überaus rührende Gestalt. Ein gefangener König, wie Sterne so richtig fühlt, ist schon an und für sich ein wehmütiger Gedanke; und hier ist der gefangene König noch beinahe ein unschuldiger Knabe und hülflos preisgegeben einem tückischen Mörder. Trotz seines zarten Alters scheint er schon viel gelitten zu haben; in seinem bleichen, kranken Antlitz liegt schon tragische Hoheit, und seine Füße, die mit ihren langen, blausamtnen Schnabelschuhen vom Lager herabhängen und doch nicht den Boden berühren, geben ihm gar ein gebrochen Ansehen wie das einer geknickten Blume. Alles das ist, wie gesagt, sehr einfach und wirkt desto mächtiger. Ach! es hat mich noch um so mehr bewegt, da ich in dem Antlitz des unglücklichen Prinzen die lieben Freundesaugen entdeckte, die mir so oft zugelächelt und mit noch lieberen Augen so lieblich verwandt waren. Wenn ich vor dem Gemälde des Delaroche stand, kam es mir immer ins Gedächtnis, wie ich einst auf einem schönen Schlosse im teuren Polen vor dem Bilde des Freundes stand und mit seiner holden Schwester von ihm sprach und ihre Augen heimlich verglich mit den Augen des Freundes. Wir sprachen auch von dem Maler des Bildes, der kurz vorher gestorben, und wie die Menschen dahinsterben, einer nach dem andern – ach! der liebe Freund selbst ist jetzt tot, erschossen bei Praga, die holden Lichter der schönen Schwester sind ebenfalls erloschen, ihr Schloß ist abgebrannt, und es wird mir einsam ängstlich zumute, wenn ich bedenke, daß nicht bloß unsere[330] Lieben so schnell aus der Welt verschwinden, sondern sogar von dem Schauplatz, wo wir mit ihnen gelebt, keine Spur zurückbleibt, als hätte nichts davon existiert, als sei alles nur ein Traum.

Indessen noch weit schmerzlichere Gefühle erregt das andere Gemälde von Delaroche, das eine andere Szene aus der englischen Geschichte darstellt. Es ist eine Szene aus jener entsetzlichen Tragödie, die auch ins Französische übersetzt worden ist und so viele Tränen gekostet hat diesseits und jenseits des Kanals und die auch den deutschen Zuschauer so tief erschüttert. Auf dem Gemälde sehen wir die beiden Helden des Stücks, den einen als Leiche im Sarge, den andern in voller Lebenskraft und den Sargdeckel aufhebend, um den toten Feind zu betrachten. Oder sind es etwa nicht die Helden selbst, sondern nur Schauspieler, denen vom Direktor der Welt ihre Rolle vorgeschrieben war und die vielleicht, ohne es zu wissen, zwei kämpfende Prinzipien tragierten? Ich will sie hier nicht nennen, die beiden feindseligen Prinzipien, die zwei großen Gedanken, die sich vielleicht schon in der schaffenden Gottesbrust befehdeten und die wir auf diesem Gemälde einander gegenüber sehen, das eine schmählich verwundet und verblutend, in der Person von Karl Stuart, das andere keck und siegreich, in der Person von Oliver Cromwell.

In einem von den dämmernden Sälen Whitehalls, auf dunkelroten Sammetstühlen, steht der Sarg des enthaupteten Königs, und davor steht ein Mann, der mit ruhiger Hand den Deckel aufhebt und den Leichnam betrachtet. Jener Mann steht dort ganz allein, seine Figur ist breit untersetzt, seine Haltung nachlässig, sein Gesicht bäurisch ehrenfest. Seine Tracht ist die eines gewöhnlichen Kriegers, puritanisch schmucklos: eine langherabhängende dunkelbraune Sammetweste; darunter eine gelbe Lederjacke; Reiterstiefeln, die so hoch heraufgehen, daß die schwarze Hose kaum zum Vorschein kommt; quer über die Brust ein schmutziggelbes Degengehänge, woran ein Degen mit Glockengriff; auf den kurzgeschnittenen, dunkeln Haaren des Hauptes ein schwarzer, aufgekrempter Hut mit einer roten[331] Feder; am Halse ein übergeschlagenes weißes Kräglein, worunter noch ein Stück Harnisch sichtbar wird; schmutzige gelblederne Handschuhe; in der einen Hand, die nahe am Degengriffe liegt, ein kurzer, stützender Stock, in der andern Hand der erhobene Deckel des Sarges, worin der König liegt.

Die Toten haben überhaupt einen Ausdruck im Gesichte, wodurch der Lebende, den man neben ihnen erblickt, wie ein Geringerer erscheint; denn sie übertreffen ihn immer an vornehmer Leidenschaftslosigkeit und vornehmer Kälte. Das fühlen auch die Menschen, und aus Respekt vor dem höheren Totenstande tritt die Wache ins Gewehr und präsentiert, wenn eine Leiche vorübergetragen wird, und sei es auch die Leiche des ärmsten Flickschneiders. Es ist daher leicht begreiflich, wie sehr dem Oliver Cromwell seine Stellung ungünstig ist bei jeder Vergleichung mit dem toten Könige. Dieser, verklärt von dem eben erlittenen Märtyrtume, geheiligt von der Majestät des Unglücks, mit dem kostbaren Purpur am Halse, mit dem Kuß der Melpomene auf den weißen Lippen, bildet den herabdrückendsten Gegensatz zu der rohen, derblebendigen Puritanergestalt. Auch mit der äußeren Bekleidung derselben kontrastieren tiefschneidend bedeutsam die letzten Prachtspuren der gefallenen Herrlichkeit, das reiche grünseidene Kissen im Sarge, die Zierlichkeit des blendendweißen Leichenhemds, garniert mit Brabanter Spitzen.

Welchen großen Weltschmerz hat der Maler hier mit wenigen Strichen ausgesprochen! Da liegt sie, die Herrlichkeit des Königtums, einst Trost und Blüte der Menschheit, elendiglich verblutend. Englands Leben ist seitdem bleich und grau, und die entsetzte Poesie floh den Boden, den sie eh'mals mit ihren heitersten Farben geschmückt. Wie tief empfand ich dieses, als ich einst um Mitternacht an dem fatalen Fenster von Whitehall vorbeiging und die jetzige kaltfeuchte Prosa von England mich durchfröstelte! Warum war aber meine Seele nicht von ebenso tiefen Gefühlen ergriffen, als ich jüngst zum ersten Male über den entsetzlichen Platz ging, wo Ludwig XVI. gestorben? Ich glaube, weil dieser, als er starb, kein König mehr[332] war, weil er, als sein Haupt fiel, schon vorher die Krone verloren hatte. König Karl verlor aber die Krone nur mit dem Haupte selbst. Er glaubte an diese Krone, an sein absolutes Recht; er kämpfte dafür wie ein Ritter, kühn und schlank; er starb adelig stolz, protestierend gegen die Gesetzlichkeit seines Gerichts, ein wahrer Märtyrer des Königtums von Gottes Gnaden. Der arme Bourbon verdient nicht diesen Ruhm, sein Haupt war schon durch eine Jakobinermütze entkönigt; er glaubte nicht mehr an sich selber, er glaubte fest an die Kompetenz seiner Richter, er beteuerte nur seine Unschuld; er war wirklich bürgerlich tugendhaft, ein guter, nicht sehr magerer Hausvater; sein Tod hat mehr einen sentimentalen als einen tragischen Charakter, er erinnert allzusehr an August Lafontaines Familienromane: – eine Träne für Ludwig Capet, einen Lorbeer für Karl Stuart!

»Un plagiat infâme d'un crime étranger« sind die Worte, womit der Vicomte Chateaubriand jene trübe Begebenheit bezeichnet, die einst am 21. Januar auf der Place de la Concorde stattfand. Er macht den Vorschlag, auf dieser Stelle eine Fontäne zu errichten, deren Wasser aus einem großen Becken von schwarzem Marmor hervorsprudeln, um abzuwaschen – »ihr wißt wohl, was ich meine«, setzt er pathetisch geheimnisvoll hinzu. Der Tod Ludwigs XVI. ist überhaupt das beflorte Paradepferd, worauf der edle Vicomte sich beständig herumtummelt; seit Jahr und Tag exploitiert er die Himmelfahrt des Sohns des heiligen Ludwigs, und eben die raffinierte Giftdürstigkeit, womit er dabei deklamiert, und seine weitgeholten Trauerwitze zeugen von keinem wahren Schmerze. Am allerfatalsten ist es, wenn seine Worte widerhallen aus den Herzen des Faubourg St. Germain, wenn dort die alten Emigrantenkoterien mit heuchlerischen Seufzern noch immer über Ludwig XVI. jammern, als wären sie seine eigentlichen Angehörigen, als habe er eigentlich ihnen zugehört, als wären sie besonders bevorrechtet, seinen Tod zu betrauern. Und doch ist dieser Tod ein allgemeines Weltunglück gewesen, das den geringsten Tagelöhner ebensogut betraf wie den höchsten[333] Zeremonienmeister der Tuilerien und das jedes fühlende Menschenherz mit unendlichem Kummer erfüllen mußte. Oh, der feinen Sippschaft! Seit sie nicht mehr unsere Freuden usurpieren kann, usurpiert sie unsere Schmerzen.

Es ist vielleicht an der Zeit, einerseits das allgemeine Volksrecht solcher Schmerzen zu vindizieren, damit sich das Volk nicht einreden lasse, nicht ihm gehörten die Könige, sondern einigen Auserwählten, die das Privilegium haben, jedes königliche Mißgeschick als ihr eigenes zu bejammern; andererseits ist es vielleicht an der Zeit, jene Schmerzen laut auszusprechen, da es jetzt wieder einige eiskluge Staatsgrübler gibt, einige nüchterne Bacchanten der Vernunft, die in ihrem logischen Wahnsinn uns alle Ehrfurcht, die das uralte Sakrament des Königtums gebietet, aus der Tiefe unserer Herzen herausdisputieren möchten. Indessen, die trübe Ursache jener Schmerzen nennen wir keineswegs ein Plagiat, noch viel weniger ein Verbrechen und am allerwenigsten infam; wir nennen sie eine Schickung Gottes. Würden wir doch die Menschen zu hoch stellen und zugleich zu tief herabsetzen, wenn wir ihnen so viel Riesenkraft und zugleich so viel Frevel zutrauten, daß sie aus eigener Willkür jenes Blut vergossen hätten, dessen Spuren Chateaubriand mit dem Wasser seines schwarzen Waschbeckens vertilgen will.

Wahrlich, wenn man die derzeitigen Zustände erwägt und die Bekenntnisse der überlebenden Zeugen einsammelt, so sieht man, wie wenig der freie Menschenwille bei dem Tode von Ludwig XVI. vorwaltete. Mancher, der gegen den Tod stimmen wollte, tat das Gegenteil, als er die Tribüne bestiegen und von dem dunkeln Wahnsinn der politischen Verzweiflung ergriffen wurde. Die Girondisten fühlten, daß sie zu gleicher Zeit ihr eigenes Todesurteil aussprachen. Manche Reden, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurden, dienten nur zur Selbstbetäubung. Der Abbé Sieyès, angeekelt von dem widerwärtigen Geschwätze, stimmte ganz einfach für den Tod, und als er von der Tribüne herabgestiegen, sagte er zu seinem Freunde: »J'ai voté la mort sans phrase.« Der böse Leumund[334] aber mißbrauchte diese Privatäußerung; dem mildesten Menschen ward als parlamentarisch das Schreckenswort »la mort sans phrase« aufgebürdet, und es steht jetzt in allen Schulbüchern, und die Jungen lernen's auswendig. Wie man mir allgemein versichert, Bestürzung und Trauer herrschte am 21. Januar in ganz Paris, sogar die wütendsten Jakobiner schienen von schmerzlichem Mißbehagen niedergedrückt. Mein gewöhnlicher Kabriolettführer, ein alter Sansculotte, erzählte mir, als er den König sterben sehen, sei ihm zumute gewesen, »als würde ihm selber ein Glied abgesägt«. Er setzte hinzu: »Es hat mir im Magen weh getan, und ich hatte den ganzen Tag einen Abscheu vor Speisen.« Auch meinte er, »der alte Veto« habe sehr unruhig ausgesehen, als wolle er sich zur Wehr setzen. Soviel ist gewiß, er starb nicht so großartig wie Karl I., der erst ruhig seine lange protestierende Rede hielt, wobei er so besonnen blieb, daß er die umstehenden Edelleute einigemal ersuchte, das Beil nicht zu betasten, damit es nicht stumpf werde. Der geheimnisvoll verlarvte Scharfrichter von Whitehall wirkte ebenfalls schauerlich poetischer als Sanson mit seinem nackten Gesichte. Hof und Henker hatten die letzte Maske fallen lassen, und es war ein prosaisches Schauspiel. Vielleicht hätte Ludwig eine lange christliche Verzeihungsrede gehalten, wenn nicht die Trommel bei den ersten Worten schon so gerührt worden wäre, daß man kaum seine Unschuldserklärung gehört hat. Die erhabenen Himmelfahrtsworte, die Chateaubriand und seine Genossen beständig paraphrasieren »Fils de Saint-Louis, monte au ciel!«, diese Worte sind auf dem Schafotte gar nicht gesprochen worden, sie passen gar nicht zu dem nüchternen Werkeltagscharakter des guten Edgeworth, dem sie in den Mund gelegt werden, und sie sind die Erfindung eines damaligen Journalisten, namens Charles His, der sie denselben Tag drucken ließ. Dergleichen Berichtigung ist freilich sehr unnütz; diese Worte stehen jetzt ebenfalls in allen Kompendien, sie sind schon längst auswendig gelernt, und die arme Schuljugend müßte noch obendrein auswendig lernen, daß diese Worte nie gesprochen worden.[335]

Es ist nicht zu leugnen, daß Delaroche absichtlich durch sein ausgestelltes Bild zu geschichtlichen Vergleichungen aufforderte, und wie zwischen Ludwig XVI. und Karl I. wurden auch zwischen Cromwell und Napoleon beständig Parallelen gezogen. Ich darf aber sagen, daß beiden Unrecht geschah, wenn man sie miteinander verglich. Denn Napoleon blieb frei von der schlimmsten Blutschuld (die Hinrichtung des Herzogs von Enghien war nur ein Meuchelmord); Cromwell aber sank nie so tief, daß er sich von einem Priester zum Kaiser salben ließ und, ein abtrünniger Sohn der Revolution, die gekrönte Vetterschaft der Cäsaren erbuhlte. In dem Leben des einen ist ein Blutfleck, in dem Leben des andern ist ein Ölfleck. Wohl fühlten sie aber beide die geheime Schuld. Dem Bonaparte, der ein Washington von Europa werden konnte und nur dessen Napoleon ward, ihm ist nie wohl geworden in seinem kaiserlichen Purpurmantel; ihn verfolgte die Freiheit wie der Geist einer erschlagenen Mutter, er hörte überall ihre Stimme, sogar des Nachts, aus den Armen der anvermählten Legitimität schreckte sie ihn vom Lager; und dann sah man ihn hastig umherrennen in den hallenden Gemächern der Tuilerien, und er schalt und tobte; und wenn er dann des Morgens bleich und müde in den Staatsrat kam, so klagte er über Ideologie und wieder Ideologie und sehr gefährliche Ideologie, und Corvisart schüttelte das Haupt.

Wenn Cromwell ebenfalls nicht ruhig schlafen konnte und des Nachts ängstlich in Whitehall umherlief, so war es nicht, wie fromme Kavaliere meinten, ein blutiges Königsgespenst, was ihn verfolgte, sondern die Furcht vor den leiblichen Rächern seiner Schuld; er fürchtete die materiellen Dolche der Feinde, und deshalb trug er unter dem Wams immer einen Harnisch, und er wurde immer mißtrauischer, und endlich gar, als das Büchlein erschien: »Töten ist kein Mord«, da hat Oliver Cromwell nie mehr gelächelt.

Wenn aber die Vergleichung des Protektors und des Kaisers wenig Ähnlichkeiten bietet, so ist die Ausbeute desto reicher bei den Parallelen zwischen den Fehlern der Stuarts und der[336] Bourbonen überhaupt und zwischen den Restaurationsperioden in beiden Ländern. Es ist fast eine und dieselbe Untergangsgeschichte. Auch dieselbe Quasilegitimität der neuen Dynastie ist vorhanden wie einst in England. Im Foyer des Jesuitismus werden ebenfalls wieder wie einst die heiligen Waffen geschmiedet, die alleinseligmachende Kirche seufzt und intrigiert ebenfalls für das Kind des Mirakels, und es fehlt nur noch, daß der französische Prätendent, so wie einst der englische, nach dem Vaterlande zurückkehre. Immerhin, mag er kommen! Ich prophezeie ihm das entgegengesetzte Schicksal Sauls, der seines Vaters Esel suchte und eine Krone fand: – der junge Heinrich wird nach Frankreich kommen und eine Krone suchen, und er findet hie nur die Esel seines Vaters.

Was die Beschauer des Cromwell am meisten beschäftigte, war die Entzifferung seiner Gedanken bei dem Sarge des toten Karl. Die Geschichte berichtet diese Szene nach zwei verschiedenen Sagen. Nach der einen habe Cromwell des Nachts, bei Fackelschein, sich, den Sarg öffnen lassen, und erstarrten Leibs und verzerrten Angesichts sei er lange davor stehengeblieben, wie ein stummes Steinbild. Nach einer anderen Sage öffnete er den Sarg bei Tage, betrachtete ruhig den Leichnam und sprach die Worte: »Es war ein starkgebauter Mann, und er hätte noch lange leben können.« Nach meiner Ansicht hat Delaroche diese demokratischere Legende im Sinne gehabt. Im Gesichte seines Cromwells ist durchaus kein Erstaunen oder Verwundern oder sonstiger Seelensturm ausgedrückt; im Gegenteil, den Beschauer erschüttert diese grauenhafte, entsetzliche Ruhe im Gesichte des Mannes. Da steht sie, die gefestete erdsichere Gestalt, »brutal wie eine Tatsache«, gewaltig ohne Pathos, dämonisch natürlich, wunderbar ordinär, verfemt und zugleich gefeit, und da betrachtet sie ihr Werk, fast wie ein Holzhacker, der eben eine Eiche gefällt hat. Er hat sie ruhig gefällt, die große Eiche, die einst so stolz ihre Zweige verbreitete über England und Schottland, die Königseiche, in deren Schatten so viele schöne Menschengeschlechter geblüht und worunter die Elfen der Poesie ihre süßesten Reigen getanzt; –[337] er hat sie ruhig gefällt mit dem unglückseligen Beil, und da liegt sie zu Boden mit all ihrem holden Laubwerk und mit der unverletzten Krone; – unglückseliges Beil!

»Do you not think, Sir, that the guillotine is a great improvement?« Das waren die gequäkten Worte, womit ein Brite, der hinter mir stand, die Empfindungen unterbrach, die ich eben niedergeschrieben und die so wehmütig meine Seele erfüllten, während ich Karls Halswunde auf dem Bilde von Delaroche betrachtete. Sie ist etwas allzu grell blutig gemalt. Auch ist der Deckel des Sarges ganz verzeichnet und gibt diesem das Ansehen eines Violinkastens. Im übrigen ist aber das Bild ganz unübertrefflich meisterhaft gemalt, mit der Feinheit des van Dyck und mit der Schattenkühnheit des Rembrandt; es erinnert mich namentlich an die republikanischen Kriegergestalten auf dem großen historischen Gemälde des letztern, »Die Nachtwache«, die ich im Trippenhuis zu Amsterdam gesehen.

Der Charakter des Delaroche sowie des größten Teils seiner Kunstgenossen nähert sich überhaupt am meisten der flämischen Schule; nur daß die französische Grazie etwas zierlich leichter die Gegenstände behandelt und die französische Eleganz hübsch oberflächlich darüber hinspielt. Ich möchte daher den Delaroche einen graziösen, eleganten Niederländer nennen.

An einem andern Orte werde ich vielleicht die Gespräche berichten, die ich so oft vor seinem Cromvell vernahm. Kein Ort gewährte eine bessere Gelegenheit zur Belauschung der Volksgefühle und Tagesmeinungen. Das Gemälde hing in der großen Tribüne, am Eingang der langen Galerie, und daneben hing Roberts ebenso bedeutsames Meisterwerk, gleichsam tröstend und versöhnend. In der Tat, wenn die kriegsrohe Puritanergestalt, der entsetzliche Schnitter mit dem abgemähten Königshaupt, aus dunkelm Grunde hervortretend, den Beschauer erschütterte und alle politischen Leidenschaften in ihm aufwühlte, so ward seine Seele doch gleich wieder beruhigt durch den Anblick jener andern Schnitter, die, mit ihren schönern[338] Ähren heimkehrend zum Erntefest der Liebe und des Friedens, im klarsten Himmelslichte blühten. Fühlen wir bei dem einen Gemälde, wie der große Zeitkampf noch nicht zu Ende, wie der Boden noch zittert unter unsern Füßen; hören wir hier noch das Rasen des Sturmes, der die Welt niederzureißen droht; sehen wir hier noch den gähnenden Abgrund, der gierig die Blutströme einschlürft, so daß grauenhafte Untergangsfurcht uns ergreift: so sehen wir auf dem andern Gemälde, wie ruhig sicher die Erde stehenbleibt und immer liebreich ihre goldenen Früchte hervorbringt, wenn auch die ganze römische Universaltragödie mit allen ihren Gladiatoren und Kaisern und Lastern und Elefanten darüber hingetrampelt. Wenn wir auf dem einen Gemälde jene Geschichte sehen, die sich so närrisch herumrollt in Blut und Kot, oft jahrhundertelang blödsinnig stillsteht und dann wieder unbeholfen hastig aufspringt und in die Kreuz und in die Quer wütet und die wir Weltgeschichte nennen: so sehen wir auf dem andern Gemälde jene noch größere Geschichte, die dennoch genug Raum hat auf einem mit Büffeln bespannten Wagen; eine Geschichte ohne Anfang und ohne Ende, die sich ewig wiederholt und so einfach ist wie das Meer, wie der Himmel, wie die Jahrszeiten; eine heilige Geschichte, die der Dichter beschreibt und deren Archiv in jedem Menschenherzen zu finden ist; die Geschichte der Menschheit!

Wahrlich, wohltuend und heilsam war es, daß Roberts Gemälde dem Gemälde des Delaroche zur Seite gestellt worden. Manchmal, wenn ich den Cromwell lange betrachtet und mich ganz in ihn versenkt hatte, daß ich fast seine Gedanken hörte, einsilbig harsche Worte, verdrießlich hervorgebrummt und gezischt, im Charakter jener englischen Mundart, die dem fernen Grollen des Meeres und dem Schrillen der Sturmvögel gleicht: dann rief mich heimlich wieder zu sich der stille Zauber des Nebengemäldes, und mir war, als hörte ich lächelnden Wohllaut, als hörte ich Toskanas süße Sprache von römischen Lippen erklingen, und meine Seele wurde besänftigt und erheitert.[339]

Ach! wohl tut es not daß die liebe, unverwüstliche, melodische Geschichte der Menschheit unsere Seele tröste in dem mißtönenden Lärm der Weltgeschichte. Ich höre in diesem Augenblick da draußen, dröhnender, betäubender als jemals, diesen mißtönenden Lärm, dieses sinnenverwirrende Getöse; es zürnen die Trommeln, es klirren die Waffen, ein empörtes Menschenmeer, mit wahnsinnigen Schmerzen und Flüchen, wälzt sich durch die Gassen das Volk von Paris und heult: »Warschau ist gefallen! Unsere Avantgarde ist gefallen! Nieder mit den Ministern! Krieg den Russen! Tod den Preußen!« – Es wird mir schwer, ruhig am Schreibtische sitzen zu bleiben und meinen armen Kunstbericht, meine friedliche Gemäldebeurteilung zu Ende zu schreiben. Und dennoch, gehe ich hinab auf die Straße und man erkennt mich als Preußen, so wird mir von irgendeinem Julihelden das Gehirn eingedrückt, so daß alle meine Kunstideen zerquetscht werden; oder ich bekomme einen Bajonettstich in die linke Seite, wo jetzt das Herz schon von selber blutet, und vielleicht obendrein werde ich in die Wache gesetzt als fremder Unruhstörer.

Bei solchem Lärm verwirren und verschieben sich alle Gedanken und Bilder. Die Freiheitsgöttin von Delacroix tritt mir mit ganz verändertem Gesichte entgegen, fast mit Angst in dem wilden Auge. Mirakulöse verändert sich das Bild des Papstes von Vernet: der alte schwächliche Statthalter Christi sieht auf einmal so jung und gesund aus und erhebt sich lächelnd auf seinem Sessel, und es ist, als ob seine starken Träger das Maul aufsperrten zu einem »Te Deum laudamus«. Auch der tote Karl bekommt ein ganz anderes Gesicht und verwandelt sich plötzlich, und wenn ich genauer hinschaue, so liegt kein König, sondern das ermordete Polen in dem schwarzen Sarge, und davor steht nicht mehr Cromwell, sondern der Zar von Rußland, eine adlige, reiche Gestalt, ganz so herrlich, wie ich ihn vor einigen Jahren zu Berlin gesehen, als er neben dem Könige von Preußen auf dem Balkone stand und diesem die Hand küßte. Dreißigtausend schaulustige Berliner jauchzten Hurra, und ich dachte in meinem Herzen: Gott sei uns[340] allen gnädig! Ich kannte ja das sarmatische Sprichwort: Die Hand, die man noch nicht abhauen will, die muß man küssen – –

Ach! ich wollte, der König von Preußen hätte sich auch hier an die linke Hand küssen lassen und hätte mit der rechten Hand das Schwert ergriffen und dem gefährlichsten Feinde des Vaterlands so begegnet, wie es Pflicht und Gewissen verlangten. Haben sich diese Hohenzollern die Vogtwürde des Reiches im Norden angemaßt, so mußten sie auch seine Marken sichern gegen das herandrängende Rußland. Die Russen sind ein braves Volk, und ich will sie gern achten und lieben; aber seit dem Falle Warschaus, der letzten Schutzmauer, die uns von ihnen getrennt, sind sie unseren Herzen so nahe gerückt, daß mir angst wird.

Ich fürchte, wenn uns jetzt der Zar von Rußland wieder besucht, dann ist an uns die Reihe, ihm die Hand zu küssen – Gott sei uns allen gnädig!

Gott sei uns allen gnädig! Unsere letzte Schutzmauer ist gefallen, die Göttin der Freiheit erbleicht unsere Freunde liegen zu Boden, der römische Großpfaffe erhebt sich boshaft lächelnd, und die siegende Aristokratie steht triumphierend an dem Sarge des Volkstums.

Ich höre, Delaroche malt jetzt ein Seitenstück zu seinem Cromwell, einen Napoleon auf Sankt Helena, und er wählt den Moment, wo Sir Hudson Lowe die Decke aufhebt von dem Leichnam jenes großen Repräsentanten der Demokratie.

Zu meinem Thema zurückkehrend, hätte ich hier noch manche wackere Maler zu rühmen; aber trotz des besten Willens ist es mir dennoch unmöglich, ihre stillen Verdienste ruhig auseinanderzusetzen, denn da draußen stürmt es wirklich zu laut, und es ist unmöglich, die Gedanken zusammenzufassen, wenn solche Stürme in der Seele widerhallen. Ist es doch in Paris sogar an sogenannt ruhigen Tagen sehr schwer, das eigene Gemüt von den Erscheinungen der Straße abzuwenden und Privatträumen nachzuhängen. Wenn die Kunst auch in Paris mehr als anderswo blüht, so werden wir doch in ihrem Genusse[341] jeden Augenblick gestört durch das rohe Geräusch des Lebens; die süßesten Töne der Pasta und Malibran werden uns verleidet durch den Notschrei der erbitterten Armut, und das trunkene Herz, das eben Roberts Farbenlust eingeschlürft, wird schnell wieder ernüchtert durch den Anblick des öffentlichen Elends. Es gehört fast ein Goethescher Egoismus dazu, um hier zu einem ungetrübten Kunstgenuß zu gelangen, und wie sehr einem gar die Kunstkritik erschwert wird, das fühle ich eben in diesem Augenblick. Ich vermochte gestern dennoch an diesem Berichte weiterzuschreiben, nachdem ich einmal unterdessen nach den Boulevards gegangen war, wo ich einen todblassen Menschen vor Hunger und Elend niederfallen sah. Aber wenn auf einmal ein ganzes Volk niederfällt an den Boulevards von Europa – dann ist es unmöglich, ruhig weiterzuschreiben. Wenn die Augen des Kritikers von Tränen getrübt werden, ist auch sein Urteil wenig mehr wert.

Mit Recht klagen die Künstler in dieser Zeit der Zwietracht, der allgemeinen Befehdung. Man sagt, die Malerei bedürfe des friedlichen Ölbaumes in jeder Hinsicht. Die Herzen, die ängstlich lauschen, ob nicht die Kriegstrompete erklingt, haben gewiß nicht die gehörige Aufmerksamkeit für die süße Musik. Die Oper wird mit tauben Ohren gehört, das Ballett sogar wird nur teilnahmlos angeglotzt. »Und daran ist die verdammte Julirevolution schuld«, seufzen die Künstler, und sie verwünschen die Freiheit und die leidige Politik, die alles verschlingt, so daß von ihnen gar nicht mehr die Rede ist.

Wie ich höre – aber ich kann's kaum glauben –, wird sogar in Berlin nicht mehr vom Theater gesprochen, und der »Morning Chronicle«, der gestern berichtet, daß die Reformbill im Unterhause durchgegangen sei, erzählt bei dieser Gelegenheit, daß der Doktor Raupach sich jetzt in Baden-Baden befinde und über die Zeit jammere, weil sein Kunsttalent dadurch zugrunde gehe.

Ich bin gewiß ein großer Verehrer des Doktor Raupach, ich bin immer ins Theater gegangen, wenn die »Schülerschwänke«[342] oder die »Sieben Mädchen in Uniform« oder »Das Fest der Handwerker« oder sonst ein Stück von ihm gegeben wurde; aber ich kann doch nicht leugnen, daß der Untergang Warschaus mir weit mehr Kummer macht, als ich vielleicht empfinden würde, wenn der Doktor Raupach mit seinem Kunsttalente unterginge. O Warschau! Warschau! nicht für einen ganzen Wald von Raupachen hätte ich dich hin gegeben!

Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein. Die jetzige Kunst muß zugrunde gehen, weil ihr Prinzip noch im abgelebten, alten Regime, in der heiligen römischen Reichsvergangenheit wurzelt. Deshalb, wie alle welken Überreste dieser Vergangenheit, steht sie im unerquicklichsten Widerspruch mit der Gegenwart. Dieser Widerspruch und nicht die Zeitbewegung selbst ist der Kunst so schädlich; im Gegenteil, diese Zeitbewegung müßte ihr sogar gedeihlich werden, wie einst in Athen und Florenz, wo eben in den wildesten Kriegs- und Parteistürmen die Kunst ihre herrlichsten Blüten entfaltete. Freilich, jene griechischen und florentinischen Künstler führten kein egoistisch isoliertes Kunstleben, die müßig dichtende Seele hermetisch verschlossen gegen die großen Schmerzen und Freuden der Zeit; im Gegenteil, ihre Werke waren nur das träumende Spiegelbild ihrer Zeit, und sie selbst waren ganze Männer, deren Persönlichkeit ebenso gewaltig wie ihre bildende Kraft; Phidias und Michelangelo waren Männer aus einem Stück, wie ihre Bildwerke, und wie diese zu ihren griechischen und katholischen Tempeln paßten, so standen jene Künstler in heiliger Harmonie mit ihrer Umgebung; sie trennten nicht ihre Kunst von der Politik des Tages, sie arbeiteten nicht mit kümmerlicher Privatbegeisterung, die sich leicht in jeden beliebigen Stoff hineinlügt; Äschylus hat die »Perser« mit derselben Wahrheit gedichtet, womit er zu Marathon gegen sie gefochten, und Dante schrieb seine Komödie nicht als stehender Kommissionsdichter, sondern als flüchtiger Guelfe, und in Verbannung und Kriegsnot klagte er nicht über den[343] Untergang seines Talentes, sondern über den Untergang der Freiheit.

Indessen, die neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären, die mit ihr selbst in begeistertem Einklang sein wird, die nicht aus der verblichenen Vergangenheit ihre Symbolik zu borgen braucht und die sogar eine neue Technik, die von der seitherigen verschieden, hervorbringen muß. Bis dahin möge, mit Farben und Klängen, die selbsttrunkenste Subjektivität, die weltentzügelte Individualität, die gottfreie Persönlichkeit mit all ihrer Lebenslust sich geltend machen, was doch immer ersprießlicher ist als das tote Scheinwesen der alten Kunst.

Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende? Jene überwiegende Geistigkeit, die sich jetzt in der europäischen Literatur zeigt, ist sie vielleicht ein Zeichen von nahem Absterben, wie bei Menschen, die in der Todesstunde plötzlich hellsehend werden und mit verbleichenden Lippen die übersinnlichsten Geheimnisse aussprechen? Oder wird das greise Europa sich wieder verjüngen, und die dämmernde Geistigkeit seiner Künstler und Schriftsteller ist nicht das wunderbare Ahnungsvermögen der Sterbenden, sondern das schaurige Vorgefühl einer Wiedergeburt, das sinnige Wehen eines neuen Frühlings?

Die diesjährige Ausstellung hat durch manches Bild jene unheimliche Todesfurcht abgewiesen und die bessere Verheißung bekundet. Der Erzbischof von Paris erwartet alles Heil von der Cholera, von dem Tode; ich erwarte es von der Freiheit, von dem Leben. Darin unterscheidet sich unser Glauben. Ich glaube, daß Frankreich aus der Herzenstiefe seines neuen Lebens auch eine neue Kunst hervoratmen wird. Auch diese schwere Aufgabe wird von den Franzosen gelöst werden, von den Franzosen, diesem leichten, flatterhaften Volke, das wir so gerne mit einem Schmetterling vergleichen.

Aber der Schmetterling ist auch ein Sinnbild der Unsterblichkeit der Seele und ihrer ewigen Verjüngung.[344]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 21972, S. 327-345.
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