Cordelia

[533] (König Lear)


Cordelia

In diesem Stücke liegen Fußangel und Selbstschüsse für den Leser, sagt ein englischer Schriftsteller. Ein anderer bemerkt, diese Tragödie sei ein Labyrinth, worin sich der Kommentator verirren und am Ende Gefahr laufen könne, von dem Minotaur, der dort haust, erwürgt zu werden; er möge hier das kritische Messer nur zur Selbstverteidigung gebrauchen. Und in der Tat ist es jedenfalls eine mißliche Sache, den Shakespeare zu kritisieren, ihn, aus dessen Worten uns beständig die schärfste Kritik unserer eignen Gedanken und Handlungen entgegenlacht: so ist es fast unmöglich, ihn in dieser Tragödie zu beurteilen, wo sein Genius bis zur schwindligsten Höhe sich emporschwang.[533]

Ich wage mich nur bis an die Pforte dieses Wunderbaus, nur bis zur Exposition, die schon gleich unser Erstaunen erregt. Die Expositionen sind überhaupt in Shakespeares Tragödien bewunderungswürdig. Durch diese ersten Eingangsszenen werden wir schon gleich aus unseren Werkeltagsgefühlen und Zunftgedanken herausgerissen und in die Mitte jener ungeheuern Begebenheiten versetzt, womit der Dichter unsere Seelen erschüttern und reinigen will. So eröffnet sich die Tragödie des »Macbeth« mit der Begegnung der Hexen, und der weissagende Spruch derselben unterjocht nicht bloß das Herz des schottischen Feldherrn, den wir siegestrunken auftreten sehen, sondern auch unser eignes Zuschauerherz, das jetzt nicht mehr los kann, bis alles erfüllt und beendigt ist. Wie in »Macbeth« das wüste, sinnebetäubende Grauen der blutigen Zauberwelt schon im Beginn uns erfaßt, so überfröstelt uns der Schauer des bleichen Geisterreichs bereits in den ersten Szenen des »Hamlet«, und wir können uns hier nicht loswinden von den gespenstischen Nachtgefühlen, von dem Alpdrücken der unheimlichsten Ängste, bis alles vollbracht, bis Dänemarks Luft, die von Menschenfäulnis geschwängert war, wieder ganz gereinigt ist.

In den ersten Szenen des »Lear« werden wir auf gleicher Weise unmittelbar hineingezogen in die fremden Schicksale, die sich vor unseren Augen ankündigen, entfalten und abschließen. Der Dichter gewährt uns hier ein Schauspiel, das noch entsetzlicher ist als alle Schrecknisse der Zauberwelt und des Geisterreichs: er zeigt uns nämlich die menschliche Leidenschaft, die alle Vernunftdämme durchbricht und in der furchtbaren Majestät eines königlichen Wahnsinns hinaustobt, wetteifernd mit der empörten Natur in ihrem wildesten Aufruhr. Aber ich glaube, hier endet die außerordentliche Obmacht, die spielende Willkür, womit Shakespeare seinen Stoff immer bewältigen konnte; hier beherrscht ihn sein Genius weit mehr als in den erwähnten Tragödien, in »Macbeth« und »Hamlet«, wo er, mit künstlerischer Gelassenheit, neben den dunkelsten Schatten der Gemütsnacht die rosigsten Lichter des Witzes,[534] neben den wildesten Handlungen das heiterste Stilleben hinmalen konnte. Ja, in der Tragödie »Macbeth« lächelt uns eine sanfte, befriedete Natur entgegen: an den Fensterfliesen des Schlosses, wo die blutigste Untat verübt wird, kleben stille Schwalbennester; ein freundlicher schottischer Sommer, nicht zu warm, nicht zu kühl, weht durch das ganze Stück; überall schöne Bäume und grünes Laubwerk, und am Ende gar kommt ein ganzer Wald einhermarschiert, Birnamwald kommt nach Dunsinane. Auch in »Hamlet« kontrastiert die liebliche Natur mit der Schwüle der Handlung; bleibt es auch Nacht in der Brust des Helden, so geht doch die Sonne darum nicht minder morgenrötlich auf, und Polonius ist ein amüsanter Narr, und es wird ruhig Komödie gespielt, und unter grünen Bäumen sitzt die arme Ophelia, und mit bunten, blühenden Blumen windet sie ihre Kränze. Aber in »Lear« herrschen keine solche Kontraste zwischen der Handlung und der Natur, und die entzügelten Elemente heulen und stürmen um die Wette mit dem wahnsinnigen König. Wirkt ein sittliches Ereignis ganz außerordentlicher Art auch auf die sogenannte leblose Natur? Befindet sich zwischen dieser und dem Menschengemüt ein äußerlich sichtbares Wahlverhältnis? Hat unser Dichter dergleichen erkannt und darstellen wollen?

Mit der ersten Szene dieser Tragödie werden wir, wie gesagt, schon in die Mitte der Ereignisse geführt, und wie klar auch der Himmel ist, ein scharfes Auge kann das künftige Gewitter schon voraussehen. Da ist ein Wölkchen im Verstande Lears, welches sich später zur schwärzesten Geistesnacht verdichten wird. Wer in dieser Weise alles verschenkt, der ist schon verrückt. Wie das Gemüt des Helden, so lernen wir auch den Charakter der Töchter schon in der Expositionsszene kennen, und namentlich rührt uns schon gleich die schweigsame Zärtlichkeit Cordelias, der modernen Antigone, die an Innigkeit die antike Schwester noch übertrifft. Ja, sie ist ein reiner Geist, wie es der König erst im Wahnsinn einsieht. Ganz rein? Ich glaube, sie ist ein bißchen eigensinnig, und dieses Fleckchen ist ein Vatermal. Aber wahre Liebe ist[535] sehr verschämt und haßt allen Wortkram; sie kann nur weinen und verbluten. Die wehmütige Bitterkeit, womit Cordelia auf die Heuchelei der Schwestern anspielt, ist von der zartesten Art und trägt ganz den Charakter jener Ironie, deren sich der Meister aller Liebe, der Held des Evangeliums, zuweilen bediente. Ihre Seele entladet sich des gerechtesten Unwillens und offenbart zugleich ihren ganzen Adel in den Worten:


Fürwahr, nie heurat ich, wie meine Schwestern, um bloß

meinen Vater zu lieben.

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21972, S. 533-536.
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