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[574] Von den Weibern gehe ich über zu dem politischen Gemütszustande der Polen und muß bekennen, daß ich bei diesem exaltierten Volke es immerwährend bemerkte, wie schmerzlich[574] es die Brust des polnischen Edelmanns bewegt, wenn er die Begebenheiten der letzten Zeit überschaut. Auch die Brust des Nichtpolen wird von Mitgefühl durchdrungen, wenn man sich die politischen Leiden aufzählt, die in einer kleinen Zahl von Jahren die Polen betroffen. Viele unserer Journalisten schaffen sich dieses Gefühl gemächlich vom Halse, indem sie leichthin aussprechen: »Die Polen haben sich durch ihre Uneinigkeit ihr Schicksal selbst zugezogen und sind also nicht zu bedauern.« Das ist eine törichte Beschwichtigung. Kein Volk, als ein Ganzes gedacht, verschuldet etwas; sein Treiben entspringt aus einer inneren Notwendigkeit, und seine Schicksale sind stets Resultate derselben. Dem Forscher offenbart sich der erhabenere Gedanke, daß die Geschichte (Natur, Gott, Vorsehung usw.), wie mit einzelnen Menschen, auch mit ganzen Völkern eigene große Zwecke beabsichtigt und daß manche Völker leiden müssen, damit das Ganze erhalten werde und blühender fortschreite. Die Polen, ein slawisches Grenzvolk an der Pforte der germanischen Welt, scheinen durch ihre Lage schon ganz besonders dazu bestimmt, gewisse Zwecke in den Weltbegebenheiten zu erfüllen. Ihr moralischer Kampf gegen den Untergang ihrer Nationalität rief stets Erscheinungen hervor, die dem ganzen Volke einen andern Charakter aufdrücken und auch auf den Charakter der Nachbarvölker einwirken müssen. – Der Charakter der Polen war bisher militärisch, wie ich oben schon bemerkte; jeder polnische Edelmann war Soldat und Polen eine große Kriegsschule. Jetzt aber ist dies nicht mehr der Fall, es suchen sehr wenige Militärdienste. Die Jugend Polens verlangt jedoch Beschäftigung, und da haben die meisten ein anderes Feld erwählt als den Kriegsdienst, nämlich – die Wissenschaften. Überall zeigen sich die Spuren dieser neuen Geistesrichtung; durch die Zeit und das Lokal vielfach begünstigt, wird sie in einigen Dezennien, wie schon angedeutet ist, dem ganzen Volkscharakter eine neue Gestalt verleihen. Noch unlängst haben Sie in Berlin jenen freudigen Zusammenfluß junger Polen gesehen, die mit edler Wißbegier und musterhaftem Fleiße in alle Teile der Wissenschaften eindrangen, besonders[575] die Philosophie an der Quelle, im Hörsaale Hegels, schöpften und jetzt leider, veranlaßt durch einige unselige Ereignisse, sich von Berlin entfernten. Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß die Polen ihre blinde Vorliebe für die französische Literatur allmählich ablegen, die lange übersehene tiefere deutsche Literatur würdigen lernen und, wie oben erwähnt ist, just dem tiefsinnigsten deutschen Philosophen Geschmack abgewinnen konnten. Letzteres zeigt, daß sie den Geist unserer Zeit begriffen haben, deren Stempel und Tendenz die Wissenschaft ist. Viele Polen lernen jetzt Deutsch, und eine Menge guter deutscher Bücher wird ins Polnische übersetzt. Der Patriotismus hat ebenfalls teil an diesen Erscheinungen. Die Polen fürchten den gänzlichen Untergang ihrer Nationalität; sie merken jetzt, wieviel zur Erhaltung derselben durch eine Nationalliteratur bewirkt wird, und (wie drollig es auch klingt, so ist es doch wahr, was mir viele Polen ernsthaft sagten) in Warschau wird an einer – polnischen Literatur gearbeitet. Es ist nun freilich ein großes Mißverständnis, wenn man glaubt, eine Literatur, die ein aus dem ganzen Volke organisch Hervorgegangenes sein muß, könne im literarischen Treibhause der Hauptstadt von einer Gelehrtengesellschaft zusammengeschrieben werden; aber durch diesen guten Willen ist doch schon ein Anfang gemacht, und Herrliches muß in einer Literatur hervorblühen, wenn sie als eine Vaterlandssache betrachtet wird. Dieser patriotische Sinn muß freilich auf eigene Irrtümer führen, meistens in der Poesie und in der Geschichte. Die Poesie wird das Erhebungskolorit tragen, hoffentlich aber den französischen Zuschnitt verlieren und sich dem Geiste der deutschen Romantik nähern. – Ein geliebter polnischer Freund sagte mir, um mich besonders zu necken: »Wir haben ebensogut romantische Dichter als ihr, aber sie sitzen bei uns noch – im Tollhause!« – In der Geschichte kann der politische Schmerz die Polen nicht immer zur Unparteilichkeit führen, und die Geschichte Polens wird sich zu einseitig und zu unverhältnismäßig aus der Universalgeschichte hervorheben; aber desto mehr wird man auch für Erhaltung alles desjenigen Sorge tragen, was[576] für die polnische Geschichte wichtig ist, und dieses um so ängstlicher, da man, wegen der heillosen Weise, wie man mit den Büchern der Warschauer Bibliothek im letzten Kriege verfahren, in Sorge ist, alle polnischen Nationaldenkmale und Urkunden möchten untergehen; deshalb, scheint es, hat kürzlich ein Zamoyski eine Bibliothek für die polnische Geschichte im fernen – Edinburgh gegründet. Ich mache Sie aufmerksam auf die vielen neuen Werke, welche nächstens die Pressen Warschaus verlassen, und was die schon vorhandene polnische Literatur betrifft, so verweise ich Sie deshalb auf das sehr geistreiche Werk von Kaulfuß. – Ich hege die größten Erwartungen von dieser geistigen Umwälzung Polens, und das ganze Volk kommt mir vor wie ein alter Soldat, der sein erprobtes Schwert mit dem Lorbeer an den Nagel hängt, zu den milderen Künsten des Friedens sich wendet, den Geschichten der Vergangenheit nachsinnt, die Kräfte der Natur erforscht und die Sterne mißt oder gar die Kürze und Länge der Silben, wie wir es bei Carnot sehen. Der Pole wird die Feder ebensogut führen wie die Lanze und wird sich ebenso tapfer zeigen auf dem Gebiete des Wissens als auf den bekannten Schlachtfeldern. Eben weil die Geister so lange brachlagen, wird die Saat in ihnen desto mannigfaltigere und üppigere Früchte tragen. Bei vielen Völkern Europas ist der Geist, eben durch seine vielen Reibungen, schon ziemlich abgestumpft, und durch den Triumph seines Bestrebens, durch sein Sichselbsterkennen, hat er sich sogar hie und da selbst zerstören müssen. Außerdem werden die Polen von den vielhundertjährigen Geistesanstrengungen des übrigen Europa die reinen Resultate in Empfang nehmen, und während diejenigen Völker, welche bisher an dem babylonischen Turmbau europäischer Kultur mühsam arbeiteten, erschöpft sind, werden unsere neuen Ankömmlinge, mit ihrer slawischen Behendigkeit und noch unerschlafften Rüstigkeit, das Werk weiterfördern. Hierzu kommt noch, daß die wenigsten dieser neuen Arbeiter für Tagelohn handlangern, wie der Fall ist bei uns in Deutschland, wo die Wissenschaften ein Gewerbe und zünftig sind und wo selbst die Muse eine[577] Milchkuh ist, die so lange für Honorar abgemelkt wird, bis sie reines Wasser gibt. Die Polen, welche sich jetzt auf Wissenschaften und Künste werfen, sind Edelleute und haben meistens Privatvermögen genug, um nicht zu ihrem Lebensunterhalt auf den Ertrag ihrer Kenntnisse und wissenschaftlichen Leistungen angewiesen zu sein. Unberechenbar ist dieser Vorzug. Herrliches zwar hat schon der Hunger hervorgebracht, aber noch viel Herrlicheres die Liebe. Auch das Lokal begünstigt die geistigen Fortschritte der Polen: nämlich ihre Erziehung auf dem Lande. Das polnische Landleben ist nicht so geräuschlos und einsamlich wie das unsrige, da die polnischen Edelleute sich auf zehn Stunden weit besuchen, oft wochenlang mit der sämtlichen Familie beisammen bleiben, mit wohleingepackten Betten nomadisch herumreisen; so daß es mir vorkam, als sei das ganze Großherzogtum Posen eine große Stadt, wo nur die Häuser etwas meilenweit voneinander entfernt stehen, und in mancher Hinsicht sogar eine kleine Stadt, weil die Polen sich alle kennen, jeder mit den Familienverhältnissen und Angelegenheiten des andern genau bekannt ist und diese gar oft, auf kleinstädtische Weise, Gegenstände der Unterhaltung werden. Dennoch ist dieses rauschende Treiben, welches dann und wann auf den polnischen Landgütern herrscht, der Erziehung der Jugend nicht so schädlich wie das Geräusch der Städte, das sich jeden Augenblick in seinen Tonarten verändert, den Geist der Jugend von der Naturanschauung abwendet, durch Mannigfaltigkeit zersplittert und durch Überreiz abstumpft. Ja, jene zuweilige Störung im ländlichen Stillleben ist der Jugend sogar heilsam, da sie wieder anregt und aufwühlt, wenn der Geist durch die immerwährende äußere Ruhe versumpfen oder, wie man es nennt, versauern möchte: eine Gefahr, die bei uns so oft vorhanden. Das frische, freie Landleben in der Jugend hat gewiß am meisten dazu beigetragen, den Polen jenen großen starken Charakter zu verleihen, den sie im Kriege und im Unglück zeigen. Sie bekommen dadurch einen gesunden Geist in einem gesunden Körper; dieses bedarf der Gelehrte ebensogut wie der Soldat. Die Geschichte[578] zeigt uns, wie die meisten Menschen, die etwas Großes getan, ihre Jugend im Stilleben verbrachten. – Ich habe in der letzten Zeit die Erziehung der Mönche im Mittelalter so sehr lobpreisen gehört; man rühmte die Methode in den Klosterschulen und nannte die daraus hervorgegangenen großen Männer, deren Geist sogar in unserer absonderlich geistreichen Zeit etwas gelten würde; aber man vergaß, daß es nicht die Mönche, sondern die mönchische Eingezogenheit, nicht die Klosterschulmethode, sondern die stille Klösterlichkeit selbst war, die jene Geister nährte und stärkte. Wenn man unsere Erziehungsinstitute mit einer Mauer umgäbe, so würde dieses mehr wirken als alle unsere pädagogischen Systeme, sowohl idealisch-humanistische als praktisch-Basedowsche. Geschähe dasselbe bei unsern Mädchenpensionen, die jetzt so hübsch frei dastehen zwischen dem Schauspielhause und dem Tanzhause, und der Wachtparade gegenüber, so verlören unsere Pensio-närrinnen ihre kaleidoskopartige Phantasterei und neudramatische Wassersuppensentimentalität.

Von den Bewohnern der preußisch-polnischen Städte will ich Ihnen nicht viel schreiben; es ist ein Mischvolk von preußischen Beamten, ausgewanderten Deutschen, Wasserpolen, Polen, Juden, Militär usw. Die preußischen deutschen Beamten fühlen sich von den polnischen Edelleuten nicht eben zuvorkommend behandelt. Viele deutsche Beamten werden oft, ohne ihren Willen, nach Polen versetzt, suchen aber so bald als möglich wieder herauszukommen; andere sind von häuslichen Verhältnissen in Polen festgehalten. Unter ihnen finden sich auch solche, die sich darin gefallen, daß sie von Deutschland isoliert sind; die sich bestreben, das bißchen Wissenschaftlichkeit, das sich ein Beamter, zum Behuf des Examens, erworben haben mußte, so schnell als möglich wieder auszugähnen; die ihre Lebensphilosophie auf eine gute Mahlzeit basiert haben und die, bei ihrer Kanne schlechten Bieres, geifern gegen die polnischen Edelleute, die alle Tage Ungarwein trinken und keine Aktenstöße durchzuarbeiten brauchen. Von dem preußischen Militär, das in dieser Gegend liegt, brauche ich nicht viel zu[579] sagen; dieses ist, wie überall, brav, wacker, höflich, treuherzig und ehrlich. Es wird von dem Polen geachtet, weil dieser selbst soldatischen Sinn hat und der Brave alles Brave schätzt; aber von einem näheren Gefühle ist noch nicht die Rede.

Posen, die Hauptstadt des Großherzogtums, hat ein trübsinniges, unerfreuliches Ansehen. Das einzige Anziehende ist, daß sie eine große Menge katholischer Kirchen hat. Aber keine einzige ist schön. Vergebens wallfahrte ich alle Morgen von einer Kirche zur andern, um schöne alte Bilder aufzusuchen. Die alten Gemälde finde ich hier nicht schön, und die einigermaßen schönen sind nicht alt. Die Polen haben die fatale Gewohnheit, ihre Kirchen zu renovieren. Im uralten Dom zu Gnesen, der ehemaligen Hauptstadt Polens, fand ich lauter neue Bilder und neue Verzierungen. Dort interessierte mich nur die figurenreiche, aus Eisen gegossene Kirchentür, die einst das Tor von Kiew war, welches der siegreiche Boguslaw erbeutete und worin noch sein Schwerthieb zu sehen ist. Der Kaiser Napoleon hat sich, als er in Gnesen war, ein Stückchen aus dieser Tür herausschneiden lassen, und diese hat, durch solche hohe Aufmerksamkeit, noch mehr an Wert gewonnen. In dem Gnesener Dom hörte ich auch, nach der ersten Messe, einen vierstimmigen Gesang, den der heilige Adalbert, der dort begraben liegt, selbst komponiert haben soll und der alle Sonntage gesungen wird. Der Dom hier in Posen ist neu, hat wenigstens ein neues Ansehen, und folglich gefiel er mir nicht. Neben demselben liegt der Palast des Erzbischofs, der auch zugleich Erzbischof von Gnesen und folglich zugleich römischer Kardinal ist und folglich rote Strümpfe trägt. Er ist ein sehr gebildeter, französisch-urbaner Mann, weißhaarig und klein. Der hohe Klerus in Polen gehört immer zu den vornehmsten adligen Familien; der niedere Klerus gehört zum Plebs, ist roh, unwissend und rauschliebend. – Ideenassoziation führt mich direkt auf das Theater. Ein schönes Gebäude haben die hiesigen Einwohner den Musen zur Wohnung angewiesen; aber die göttlichen Damen sind nicht eingezogen und schickten nach Posen bloß ihre Kammerjungfern, die sich mit der Garderobe[580] ihrer Herrschaft putzen und auf den geduldigen Brettern ihr Wesen treiben. Die eine spreizt sich wie eine Pfau, die andere flattert wie eine Schnepfe, die dritte kollert wie ein Truthahn, und die vierte hüpft auf einem Beine wie ein Storch. Das entzückte Publikum aber sperrt ellenweit den Mund auf, der Epaulettmensch ruft: »Auf Ehre, Melpomene! Thalia! Polyhymnia! Terpsichore!« – Auch einen Theaterrezensenten gibt es hier. Als wenn die unglückliche Stadt nicht genug hätte an dem bloßen Theater! Die trefflichen Rezensionen dieses trefflichen Rezensenten stehen bis jetzt nur in der Posener Stadtzeitung, werden aber bald als eine Fortsetzung der Lessingschen »Dramaturgie« gesammelt erscheinen!! Doch mag sein, daß mir dieses Provinzialtheater so schlecht erscheint, weil ich just von Berlin komme und noch zuletzt die Schröck und die Stich sah. Nein, ich will nicht das ganze Posensche Theater verdammen; ich bekenne sogar, daß es ein ganz ausgezeichnetes Talent, zwei gute Subjekte und einige nicht ganz schlechte besitzt. Das ausgezeichnete Talent, wovon ich hier spreche, ist Demois. Paien. Ihre gewöhnliche Rolle ist die erste Liebhaberin. Da ist nicht das weinerliche Lamento und das zierliche Geträtsche jener Gefühlvollen, die sich für die Bühne berufen glauben, weil sie vielleicht im Leben die sentimentale oder kokette Rolle mit einigem Sukzeß gespielt, und die man von den Brettern fortpfeifen möchte, eben weil man sie im einsamen Klosett herzlich applaudieren würde. Demois. Paien spielt mit gleichem Glücke auch die heterogensten Rollen, eine Elisabeth so gut wie eine Maria. Am besten gefiel sie mir jedoch im Lustspiel, in Konversationsstücken, und da besonders in jovialen, neckenden Rollen. Sie ergötzte mich königlich als Pauline in »Sorgen ohne Not und Not ohne Sorge«. Bei Demois. Paien fand ich ein freies Spielen von innen heraus, eine wohltuende Sicherheit, eine fortreißende Kühnheit, ja fast Verwegenheit des Spiels, wie wir es nur bei einem echten, großen Talente gewahren. Ich sah sie ebenfalls mit Entzücken in einigen Männerrollen, z.B. in der »Liebeserklärung« und in Wolffs »Cäsario«; nur hätte ich hier eine etwas eckige Bewegung[581] der Arme zu rügen, welchen Fehler ich aber auf Rechnung der Männer setze, die ihr zum Muster dienen. Demois. Paien ist zu gleicher Zeit Sängerin und Tänzerin, hat ein günstiges Äußere, und es wäre schade, wenn dieses kunstbegabte Mädchen in den Sümpfen herumziehender Truppen untergehen müßte.

Ein brauchbares Subjekt der Posener Bühne ist Herr Carlsen, er verdirbt keine Rolle; auch muß man Madame Paien eine gute Schauspielerin nennen. Sie glänzt in den Rollen lächerlicher Alten. Als Geliebte Schieberles gefiel sie mir besonders. Sie spielt ebenfalls keck und frei und hat nicht den gewöhnlichen Fehler derjenigen Schauspielerinnen, die zwar mit vieler Kunst solche Alte-Weiberrollen darstellen, uns aber doch gern merken lassen möchten, daß in der alten Schachtel noch immer eine aimable Frau stecke. Herr Oldenburg, ein schöner Mann, ist als Liebhaber im Lustspiel unerquicklich und ein Muster von Steifheit und Unbeholfenheit; als Heldliebhaber im Trauerspiel ist er ziemlich erträglich. Es ist nicht zu verkennen, daß er Anlage zum Tragischen hat; aber seinen langen Armen, die bei den Knien perpendikelartig hin- und herfliegen, muß ich alles Schauspielertalent durchaus absprechen. Als Richard in »Rosamunde« gefiel er mir aber, und ich übersah manchmal den falschen Pathos, weil solcher im Stücke selbst liegt. In diesem Trauerspiel gefiel mir sogar Herr Munsch, als König, am Ende des zweiten Akts in der unübertrefflichen Knalleffektszene. Herr Munsch pflegt gewöhnlich, wenn er in Leidenschaft gerät, einem Gebell ähnliche Töne auszustoßen. Demois. Franz, ebenfalls erste Liebhaberin, spielt schlecht aus Bescheidenheit; sie hat etwas Sprechendes im Gesicht, nämlich einen Mund. Madame Fabrizius ist ein niedliches Figürchen und gewiß enchantierend außer dem Theater. Ihr Mann, Herr Fabrizius, hat in dem Lustspiel »Des Herzogs Befehl« den großen Fritz so meisterhaft parodiert, daß sich die Polizei hätte dreinmischen sollen. Madame Carlsen ist die Frau von Herrn Carlsen. Aber Herr Vogt ist der Komiker: er sagt es ja selbst, denn er macht den Komödienzettel. Er ist der Liebling der Galerie, hat[582] den Grundsatz, daß man eine Rolle wie die andere spielen müsse, und ich sah mit Bewunderung, daß er demselben getreu blieb als Fels von Felsenburg, als dummer Baron im »Alpenröschen«, als Spießbürgeranführer im »Vogelschießen« usw. Es war immer ein und derselbe Herr Ernst Vogt mit seiner Fistelkomik. Einen andern Komiker hat Posen kürzlich gewonnen in Herrn Ackermann, von welchem ich den Staberle und die »Falsche Catalani« mit vielem Vergnügen gesehen. Madame Leutner ist die Direktrice der Posener Bühne und findet nichts weniger als ihre Rechnung dabei. Vor ihr spielte hier die Köhlersche Truppe, die jetzt in Gnesen ist, und zwar im allerdesolatesten Zustande. Der Anblick dieser armen Waisenkinder der deutschen Kunst, die, ohne Brot und ohne aufmunternde Liebe, in dem fremden kalten Polen herumirren, erfüllte meine Seele mit Wehmut. Ich habe sie bei Gnesen, auf einem freien, mit hohen Eichen romantisch umzäunten Platze, genannt der Waldkrug, spielen sehen; sie führten ein Schauspiel auf, betitelt »Bianka von Toredo oder die Bestürmung von Castelnero«, ein großes Ritterschauspiel in fünf Aufzügen von Winkler; es wurde viel darin geschossen und gefochten und geritten, und innig rührten mich die armen, geängstigten Prinzessinnen, deren wirkliche Betrübnis merklich schimmerte durch ihre betrübte Deklamation, deren häusliche Dürftigkeit sichtbar hervorguckte aus ihrem fürstlichen Goldflitterstaate und auf deren Wangen das Elend nicht ganz von der Schminke bedeckt war. – Vor kurzem spielte hier auch eine polnische Gesellschaft aus Krakau. Für zweihundert Taler Abstandsgeld überließ ihr Madame Leutner die Benutzung des Schauspielhauses auf vierzehn Darstellungen. Die Polen gaben meistens Opern. An Parallelen zwischen ihnen und der deutschen Truppe konnte es nicht fehlen. Die Posener von deutscher Zunge gestanden zwar, daß die polnischen Schauspieler schöner spielten als die deutschen und schöner sangen und eine schönere Garderobe führten usw.; aber sie bemerkten doch, die Polen hätten keinen Anstand. Und das ist wahr; es fehlte ihnen jene traditionelle Theateretikette und pompöse, preziöse und graziöse Gravität deutscher Komödianten. Die[583] Polen spielen im Lustspiel, im bürgerlichen Schauspiel und in der Oper nach leichten, französischen Mustern; aber doch mit der original-polnischen Unbefangenheit. Ich habe leider keine Tragödie von ihnen gesehen. Ich glaube, ihre Hauptforce ist das Sentimentale. Dieses bemerkte ich in einer Vorstellung des »Taschenbuchs« von Kotzebue, das man hier gab unter dem Titel »Jan Grudczynski, Starost von Rawa«, Schauspiel in drei Akten, nach dem Deutschen von L. A. Dmuszewski. Ich wurde ergriffen von dem hinreißend schmelzenden Klagenerguß der Madame Szymkaylowa, welche die Jadwiga, Tochter des in Anklagezustand gesetzten Starosts, spielte. Die Sprache des Herrn Wlodek, Liebhaber Jadwigas, trug dasselbe sentimentale Kolorit. An die Stelle der tabakschnupfenden Alten war ein schnupfender Haushofmeister, Tadeusz Telempski, substituiert, den Herr Zebrowski ziemlich unbedeutend gab. Eine unvergleichliche Anmut zeigten die polnischen Sängerinnen, und das sonst so rohe Polnische klang mir wie Italienisch, als ich es singen hörte. Madame Skibinska beseligte meine Seele als Prinzessin von Navarra, als Zetulba im »Kalifen von Bagdad« und als Aline. Eine solche Aline habe ich noch nie gehört. In der Szene, da sie ihren Geliebten in den Schlaf singt und die bedrängenden Botschaften erhält, zeigte sie auch ein Spiel, wie es selten bei einer Sängerin gefunden wird. Sie und ihr heiteres Golconda werden mir noch lange vor den Augen schweben und in den Ohren klingen. Madame Zawadzka ist eine liebliche Lorezza, ein freundlich schönes Mädchenbild. Auch Madame Wlodkowa singt trefflich. Herr Zawadzki singt den Olivier ganz vorzüglich, spielt ihn aber schlecht. Herr Romanowski gibt einen guten Johann. Herr Szymkaylo ist ein gar köstlicher Buffo. Aber die Polen haben keinen Anstand! Viel mag der Reiz der Neuheit dazu beigetragen haben, daß mich die polnischen Schauspieler so sehr ergötzt. Bei jeder Vorstellung, die sie gaben, war das Haus gedrängt voll. Alle Polen, die in Posen sind, besuchten aus Patriotismus das Theater. Die meisten polnischen Edelleute, deren Güter nicht gar zu weit von hier entfernt liegen, reisten nach Posen, um polnisch spielen zu sehen.[584] Der erste Rang war gewöhnlich garniert von polnischen Schönen, die, Blume an Blume gedrängt, heiter beisammensaßen und vom Parterre aus den herrlichsten Anblick gewährten.

Von Antiquitäten der Stadt Posen und des Großherzogtums überhaupt will ich Ihnen nichts schreiben, da sich jetzt ein weit erfahrenerer Altertumsforscher, als ich bin, damit beschäftigt und gewiß bald dem Publikum viel Interessantes darüber mitteilen wird. Dieser ist der hiesige Professor Maximilian Schottky, der sechs Jahre, im Auftrag unserer Regierung, in Wien zubrachte, um dort deutsche Geschichts- und Sprachurkunden zu sammeln. Angetrieben von einem jugendlichen Enthusiasmus für diese Gegenstände und dabei unterstützt von den gründlichsten gelehrten Kenntnissen, hat Professor Schottky eine literarische Ausbeute mitgebracht, die der deutsche Altertumsforscher als unschätzbar betrachten kann. Mit einem beispiellosen Fleiße und einer rastlosen Tätigkeit muß derselbe in Wien gearbeitet haben, da er nicht weniger als sechsunddreißig dicke, und zwar sehr dicke, und fast sämtlich schön geschriebene Quartbände Manuskript von dort mitgebracht hat. Außer ganzen Abschriften altdeutscher Gedichte, die gut gewählt und für die Berliner und Breslauer Bibliothek bestimmt sind, enthalten diese Bände auch viele zur Herausgabe schon fertige, große, meistens historische Gedichte und Dichterblüten des dreizehnten Jahrhunderts, alle durch Sach- und Spracherklärungen und Handschriftenvergleichungen gründlich bearbeitet; hiernächst enthalten diese Bände prosaische Auflösungen von einigen Gedichten, die größtenteils dem Sagenkreise des König Artus angehören und auch die größere Lesewelt ansprechen können; ferner viele mit Scharfsinn und Umsicht entworfene Zusammenstellungen aus gedruckten und ungedruckten Denkmalen, deren Überschriften den meisten und wichtigsten Lebensverhältnissen im ganzen Mittelalter zur Bezeichnung dienen; dann enthalten diese Bände rein geschichtliche Urkunden, worunter eine in den Hauptteilen vollständige Abschrift der Gedenkbücher des Kaisers Maximilian I. von 1494 bis 1508, drei starke Quartbände füllend, und eine Sammlung alter Urkunden,[585] aus späterer Zeit, am wichtigsten sind, weil erstere das Leben des großen Kaisers und den Geist seiner Zeit so treu beleuchten und letztere, die mit der alten Orthographie genau abgeschrieben sind, über viele Familienverhältnisse des östreichischen Hauses Licht verbreiten und nicht jedem zugänglich sind, dem nicht, wie dem Professor Schottky, aus besonderer Gunst die Archive geöffnet werden. Endlich enthalten diese Bände über anderthalbtausend Lieder, aus alten verschollenen Sammlungen, aus seltenen fliegenden Blättern und aus dem Munde des Volkes niedergeschrieben: Materialien zur Geschichte der östreichischen Dichtkunst, dahin einschlagende Lieder und größere Gedichte, Auszüge seltener Werke, interessante mündliche Sagen, Volkssprüche, durchgezeichnete Schriftzüge der östreichischen Fürsten, eine Menge Hexenprozesse in Originalakten, Nachrichten über Kinderleben, Sitten, Feste und Gebräuche in Österreich und eine Menge anderer sehr wichtiger und manchmal wunderlicher Notizen. Zwar von tiefer Kenntnis des Mittelalters und inniger Vertrautheit mit dem Geiste desselben zeugen die obenerwähnten sinnreichen Zusammenstellungen unter verschiedene Rubriken; aber dieses Verfahren entstammt doch eigentlich den Fehlgriffen der Breslauer Schule, welcher Professor Schottky angehört. Nach meiner Ansicht geht die Erkenntnis des ganzen geistigen Lebens im Mittelalter verloren, wenn man seine einzelnen Momente in ein bestimmtes Fachwerk einregistriert; – wie sehr schön und bequem es auch für das größere Publikum sein mag, wenn man, wie in Schottkys Zusammenstellungen meistens der Fall ist, z.B. unter der Rubrik Rittertum gleich alles beisammen findet, was auf Erziehung, Leben, Waffen, Festspiele und andere Angelegenheiten der Ritter Bezug hat; wenn man unter der Frauenrubrik alle möglichen Dichterfragmente und Notizen beisammen findet, die sich auf das Leben der Frauen im Mittelalter beziehen; wenn dieses ebenso der Fall ist bei Jagd, Liebe, Glaube usw. Über den Glauben im Mittelalter gibt Professor Schottky (bei Marx in Breslau) nächstens ein Werk heraus, betitelt »Gott, Christus und Maria«. In der »Zeitschrift für Vergangenheit[586] und Gegenwart«, welche Professor Schottky nächstes Jahr (bei Munck in Posen) herausgibt, werden wir von ihm gewiß viele der schätzbarsten Aufsätze über das Mittelalter und herrliche Resultate seiner Forschungen erhalten, obschon diese Zeitschrift auch einen großen Teil der allergegenwärtigsten Gegenwart umfassen und zunächst eine literarische Verbindung Ostdeutschlands mit Süd- und Westdeutschland bezwecken soll. Es ist dennoch sehr zu bedauern, daß dieser Gelehrte auf einem Platze lebt, wo ihm die Hülfsmittel fehlen zur Bearbeitung und Herausgabe seiner reichen Materialiensammlung. In Posen ist keine Bibliothek; wenigstens keine, die diesen Namen verdiente. Auf der Allee hier, die Berliner Linden in Miniatur, wird jetzt eine Bibliothek gebaut und, wenn sie fertig ist, mit Büchern allmählich versehen werden, und es wäre schlimm, wenn die Schottkyschen Sammlungen so lange unbearbeitet und dem größern Publikum unzugänglich bleiben müßten. Außerdem muß man im wirklichen Deutschlande leben, wenn man mit einer Arbeit beschäftigt ist, die ein gänzliches Versenken in deutschen Geist und deutsches Wesen notwendig erfordert. Den deutschen Altertumsforscher müssen deutsche Eichen umrauschen. Es ist zu befürchten, daß der heiße Enthusiasmus für das Deutsche sich in der sarmatischen Luft abkühle oder verflüchtige. Möge der wackere Schottky jene äußern Anregungen nie entbehren, ohne welche keine ungewöhnliche Arbeit gedeihen kann. Es betrifft diese eine unserer heiligsten und wichtigsten Angelegenheiten, unsere Geschichte. Das Interesse für dieselbe ist zwar jetzt nicht sonderlich rege im Volke. Es ist sogar der Fall, daß gegenwärtig das Studium altdeutscher Kunst- und Geschichtsdenkmale im allgemeinen übel akkreditiert ist; eben weil es vor mehreren Jahren als Mode getrieben wurde, weil der Schneiderpatriotismus sich damit breitmachte und weil unberufene Freunde ihm mehr geschadet als die bittersten Feinde. Möge bald die Zeit kommen, wo man auch dem Mittelalter sein Recht widerfahren läßt, wo kein alberner Apostel seichter Aufklärung ein Inventarium der Schattenpartien des großen Gemäldes verfertigt, um seiner[587] lieben Lichtzeit dadurch ein Kompliment zu machen; wo kein gelehrter Schulknabe Parallelen zieht zwischen dem Kölner Dom und dem Pantheon, zwischen dem »Nibelungenlied« und der »Odyssee«, wo man die Mittelalterherrlichkeiten aus ihrem organischen Zusammenhange erkennt und nur mit sich selbst vergleicht und das »Nibelungenlied« einen versifizierten Dom und den Kölner Dom ein steinernes »Nibelungenlied« nennt.[588]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 21972.
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