Erster Akt

[515] Ein Gemach im Kreml. Türen rechts vorn, links hinten und im Hintergrund. Links vorn ein Fenster. Rechts ein Tisch, zwei Sessel. Fürst Repnín, in heller Wut mit dem Säbel in der Hand einen Diener bedrohend.


DIENER schreit.

Herr, laß mich leben! Herr, ich wußte nicht,

Daß ich's nicht sagen durfte! tot mich nicht

Um aller Heiligen willen ... Jesus ... Herr ...

Ich bin doch nur ein Hund ... ich weiß doch nichts ...

Ich spreche nur aus lauter Dummheit nach,

Was alle sprechen ...

REPNÍN.

Alle – was – du wagst,

Du sagst, daß alle ... dieses Unerhörte ...

DIENER.

Bei Gott, Herr, alle ... Jesus, laß mich leben,

Ich schwör es ab, wenn du befiehlst, ich will's

Den andern sagen, Herr ...

REPNÍN.

Sie sagen's alle ...

Du lügst, es ist nicht möglich.

DIENER.

Herr, bei Gott ...


Fürst Galízin tritt auf, der Diener fällt ihm zu Füßen.


Beschütze mich im Namen Gottes, Herr,

Vor dem Bojaren!

GALÍZIN.

Du, Repnín? willkommen –

Doch was geschah, was tat dir dieser Mensch,

Der solchen Aufruhr durch den Kreml brüllt,

Daß Dach und Mauern dröhnen?

REPNÍN.

Ins Gesicht

Speit er mir solche Worte: daß der Zar

Ein Mörder, daß Borís durch Kindesmord

Den Thron gewann, daß er den Zarensohn

Beim Spielen töten ließ, Prinz Dmitri – was,

Der Hund, das wagt er, das! und da mein Säbel

Den Kopf ihm spalten will, schreit er mir zu,

Er wüßte nichts – doch alle sagten's – alle –

Und Lüge, hör, so ungeheuerlich,

Macht seinen Mund nicht brennen, ihm die Zunge

Nicht faulen, reißt die alten Steine nicht

Aus dem Gewölbe los, niederzuprasseln

Auf seinen Lügenschädel, auf den breiten[515]

Verleumderrücken und die ganze satte

Abscheuliche verfluchte Niedertracht ...

GALÍZIN.

Besinne dich, unschuldig ist der Mensch.

REPNÍN.

Unschuldig der ...

GALÍZIN.

Nun ja, weil jeder schuldig,

So ist er's mit. Fort, Bursche, mach dich fort

Und beiß die Zunge fest, sie brachte dir

Den Tod beinah.


Der Diener läuft davon wie besessen.


REPNÍN.

Unschuldig, sagst du?

GALÍZIN.

Ja,

Man munkelt allerlei, er hat ganz recht,

Man hört das Lied auf allen Märkten pfeifen.

Man weiß es nicht genau, doch munkelt man.

REPNÍN.

Und du, du glaubst?

GALÍZIN.

Man glaubt das Böse leicht.

Ich will davon nichts wissen. Zar Borís

Herrscht gut und weise und man segnet ihn

In jeder Hütte; das genügt mir, Freund.

REPNÍN.

Mir nicht. Ich will nicht einen Herrscher mit

Dem Zeichen auf der Stirn. Rein soll er sein,

Und ist er's nicht –

GALÍZIN.

Er ist's ja doch vielleicht.

REPNÍN.

Was tu ich mit vielleicht! auf einem Zaren

Will ich nicht Flecken sehn! hat er den Mord

Begangen oder nicht? erdacht? gebilligt?

Gewünscht? – was es auch sei: er hat sich doch

Damit befaßt – so oder so – und blieb

Nicht rein davon –

GALÍZIN.

Repnín, du schwärmst.

REPNÍN.

Mag sein –

Sei's, wie es sei – so ist er doch der Tat

Verdächtig und – und soll sich reinigen,

Eh man ihm dienen darf.

GALÍZIN.

Nun wie ein Pferd

Bist du mir durchgegangen ... still, Repnín

Und hör mir zu.

REPNÍN.

Ich will nicht! sondern gleich

Geh ich zu ihm und frage.

GALÍZIN.

Was? du willst –

REPNÍN.

Borís, den Zaren fragen! ja, das will ich!

Ich bin Bojar und darf das tun, ich werde[516]

Nach seinen Händen greifen und ihn fragen,

Ob er es duldet, daß ein Hund von Diener

Ihm seinen Rock beschmutzt. Und wenn er's duldet,

Dann weiß er auch, warum er's dulden muß,

Dann liegt dies tote Kind auf seiner Seele

Und wir ...

GALÍZIN.

Repnín, du rasest!

REPNÍN.

Wir erwählen

Den Reinsten unter uns, daß er den Makel

Aus unsrer Chronik tilge.

GALÍZIN.

He, Bojar,

Was denkst du auch von unsrer Chronik? hat

Ein Mönch auf Seide sie geschrieben und

Mit weißen Unschuldslettern und sie singt

Von lauter Schäfertanz und Kinderspielen?

Ein finstres Loch ist sie voll Blut und Schmach

Und Mord und Unrat. Hast du nicht erlebt,

Was Zar Joánn auf ihre Blätter schrieb?

Wer hat dies Land in einen Pferch verwandelt

Für Wölfe und für Säue? hab ich doch

So etwas nie gehört: wir alten Männer

Sind uns, Borís zu dienen, nicht zu schlecht,

Und du kommst hergeflattert, siehst dich um

Und krähst gleich wie ein Hahn, der sich im Garten

Als Kaiser fühlt! was kamst du her? geh du

Nach England wieder, geh wohin du magst,

Uns aber rühr nicht an.

REPNÍN.

Ja, weil ihr satt seid,

Satt, faul und schändlich, darum wollt ihr Ruhe!

Ihr, seid ihr Männer? pfui, ihr liebt den Schlamm,

Könnt ich euch nur an eure Hälse euch

Wie eine Katze springen und das faule

Verstockte Blut aus euren Hälsen würgen –

Weiß Gott, ich tät's! weiß Gott, ich tu es noch,

Nehmt euch in acht.

GALÍZIN.

Wir finden wohl die Kette,

Die solche Tiere fesselt.

REPNÍN.

Such sie doch!

Heraus mit deinem Säbel!

GALÍZIN.

Torheit!

REPNÍN.

Feigheit!

Den Säbel nimm! ich schlage dir die Klinge[517]

Flach auf den Rücken, wie man Sklaven schlägt,

Nimmst du den Säbel nicht!

GALÍZIN.

Nun, junger Narr,

Was du in England lerntest, will ich sehn,

Komm an!

REPNÍN.

Ich komme!


Sie kämpfen. Der Zaréwitsch Fiódor kommt und tritt sofort zwischen die Kämpfenden. Gleich hinter ihm Ksénja.


FIÓDOR.

Kampf im Kreml! steht!

Die nackten Waffen will ich nicht mehr sehn –

Kein Wort! gehorcht!

Nun geht, bis ich euch rufe.

Ihr werdet vor dem Zaren Rede stehn.

GALÍZIN.

Zaréwitsch, muß das sein?

FIÓDOR.

Du bist, Galízin,

Der Ältere – sag mir, wie kam der Streit?

REPNÍN.

Ich griff ihn an, er wehrte sich.

FIÓDOR.

Warum?

REPNÍN geht rasch ab.

Der Zar soll's wissen.

GALÍZIN.

Er ist keck und jung.

Doch besser ist's, daß uns dein Vater richte.

Erlaube, daß ich gehe.

KSÉNJA.

Hör, Bojar,

Man kommt zu meinem Vater allzuoft

Mit Dingen, die ihn quälen, und ich bitte,

Vermeide, was ihn kränken müßte.

GALÍZIN verneigt sich stumm.


FIÓDOR.

Wohl,

Ich stelle diese Sache heute noch

Dem Zaren vor und komme, wenn es Zeit ist,

Zu dir mit Botschaft selbst.

GALÍZIN.

Ich danke dir.

Du findest mich im Schloß. Lebt beide wohl.


Galízin ab. Fiódor wendet sich um und sieht Ksénja lächelnd an.


FIÓDOR.

Es ist das alte Lied. Sie kann's nicht lassen.

KSÉNJA blickt auf und lacht.

Ich tu ja nichts. Was lachst du da so dumm?

FIÓDOR.

Das weiß man doch: der Vater ist ein Kind

Und Ksénja seine Amme.[518]

KSÉNJA.

Sprich du nur!

FIÓDOR.

Er kann allein nicht herrschen, Ksénja kommt

Und sagt zu seinem besten Rat: ich bitte,

Tu dies, vermeide das. Dann geht der Karren

Ein Weilchen wieder, dank dem großen Himmel

Und Ksénja, seinen Gang und fährt er sich

Im Sande fest – das Mädchen kommt und rettet,

Wenn ratlos Zar und Volk.

KSÉNJA.

Das kannst du nicht

Verstehen, siehst du, das verstehst du nicht.

Du bist nicht klug genug. Längst weiß ich schon:

Das Denken fällt dir schwer. Merk einmal auf:

Ich dränge mich nicht vor, das ist nicht wahr,

Der Vater ist – das mußt du doch verstehn –

Er ist nun einmal so, daß man für ihn,

Weil er so ist, nur immer etwas tun will.

Ich denke immer, ob er müde ist,

Ob er nicht etwas wünscht – und allerlei –

Und so sind alle Frauen – du begreifst

Das nicht, weil du ein Mann bist, werden willst

Nach vielen Jahren später irgendwann,

Wenn Gott ein Wunder tut!

FIÓDOR.

Ich muß mich setzen,

Du hast noch viel zu sagen, wie mir scheint –


Zar Borís kommt, bleibt stehen und hört zu, ohne daß die beiden ihn bemerken.


KSÉNJA.

Still, du, du machst mich lachen und ich muß

Dir jetzt erklären – später lachen wir –

Jetzt höre zu –

FIÓDOR.

Ach laß –

KSÉNJA.

Nein, höre nur –

FIÓDOR.

Du hast ja recht!

KSÉNJA.

Das sagst du jetzt –

FIÓDOR.

Im Ernst.


Ksénja nimmt ein Blatt Papier vom Tisch, ballt es zusammen, bedroht ihn damit.


KSÉNJA.

Ich sage dir, wär ich sein Sohn – ich habe

Das oft gewünscht und oft mir ausgedacht –

Wär ich nur auch sein Sohn wie du und könnte

Ihm helfen so wie du –[519]

FIÓDOR.

springt auf: Ich seh dich schon

In Stiefeln und mit Säbel.

KSÉNJA.

Bin ich erst

Sein Sohn, dann gib nur acht –


Sie wirft den Papierball nach ihm.


FIÓDOR.

Ich fange dich –

KSÉNJA.

Versuch's –

FIÓDOR.

So lauf doch nur –

KSÉNJA.

So fang mich doch,

Wenn du so hurtig bist –


Sie will davon und fällt lachend in die Arme des Zaren. Gleich darauf kommt die Zarin Maria mit dem Herzog Christian von Dänemark.

Borís ist groß und fast hager. Scharf geschnittenes lebendiges Gesicht, gütige und müde Augen, ziemlich viel Grau im dunklen Haar und Bart.


KSÉNJA.

Du bist es – du –

BORÍS.

Kind, freust du dich denn so?

MARIA.

Nun steht ihr da

Wie Braut und Bräutigam. Borís, du greifst

In Christians Rechte.

BORÍS.

Herzog, sagt Ihr nichts?

CHRISTIAN.

Nur daß ich froh bin, Ksénja froh zu sehn.

BORÍS.

Er ist um Antwort nie verlegen, was

Dein Dänenherzog, wenn es Ksénja gilt?

Nur zu! doch was ich sagen wollte, Kind:

Ich hatte Botschaft heut vom Perserkönig,

Der mir Geschenke sandte, und ich denke,

Du suchst dir etwas aus, da waren Seiden,

Sehr zart und kostbar, und ich möchte dich

In solcher Kleidung sehen. Dann gib acht:

Ein Gürtel mit Türkisen ist dabei.

Der sei für deine Mutter – und ein Säbel

Für Fiódor – und für den, der übrig bleibt,

Ein Sattel, rotes Leder, Silberbuckel,

Ein Sattel für den Hochzeitszug. Nun geh.

Der ganze Plunder liegt im Schlafgemach

Und später zeigst du mir, was du gewählt.

KSÉNJA.

Und was für dich?

BORÍS.

Da ist noch manches übrig.

Such aus, was dir gefällt, und schenk es mir.[520]

KSÉNJA.

Das will ich tun, doch was geschieht nachher?

Du bleibst mit uns?

BORÍS.

Wir beide spielen Schach

Und später sitzen wir am Tisch und jeder

Erzählt ein Märchen, was es immer sei,

Von Jagd und Abenteuer irgendwas –

KSÉNJA.

Und du fängst an!

BORÍS.

Auch das. Es blieb doch heute

Nichts mehr für uns zu tun?

FIÓDOR.

Ich muß dir noch

Ein wenig Arbeit schaffen.


Borís faßt ihn unter den Arm, sie gehen beiseite.


Die Bojaren

Galízin und Repnín ...


Sie sprechen leise weiter. Unterdessen ist Christian zu Ksénja getreten.


CHRISTIAN.

Ich sah dich heute

Vier Worte lang –

KSÉNJA.

Der Vater scheint verstimmt?

CHRISTIAN.

Nein doch, sie sprechen ruhig. – Und ich glaube,

Wir müßten mehr beisammen sein. Du kennst

Mich nicht genug. In einem Mond vielleicht

Bin ich dein Mann, bin dir ein Fremder –

KSÉNJA.

Siehst du,

Er sorgt sich irgendwie –

CHRISTIAN.

Du hörst mich nicht?

KSÉNJA.

Was sagtest du? ... verzeih! wir wollen später

Darüber sprechen – gleich nachher – du siehst –

Borís zu Fiódor: Ich will sie hören, rufe sie.

KSÉNJA.

Dich sorgt

Etwas?

BORÍS zerstreut.

Nein, nein.

KSÉNJA sieht ihn an.

Ich komme dann gewiß

Zum Spiel?

BORÍS.

Du kommst zum Spiel. Die Mutter

Wird bei mir bleiben. Geht nur zu. Ich schicke

Dann einen Diener, wenn ich fertig bin.


Fiódor, Ksénja und Christian gehen.


BORÍS sich setzend.[521]

Ich weiß nicht, was mir noch zu wünschen bleibt.

Wenn ihr, ihr drei, so glücklich seid wie ich,

Dann bin ich's tausendfach. Das kommt mir oft

In die Gedanken jetzt, wahrscheinlich weil

Ich älter werde – siehst du, man bedenkt

Und grübelt mehr, wenn man sich älter fühlt.

Ein großes Leben spinnt von allen Seiten

Die Fäden her zu mir und immer liegt –

Dies ist das beste, scheint mir – immer liegt

Mein Ganzes in der Schale. Und das dreht

Und rührt sich immerfort und gleicht sich aus.

Dann abends diese sanfte Müdigkeit,

Die noch einmal den bunt lebendigen Schwarm

Mattfarbig traumhaft mir vorüberführt,

Abschwellend in den Schlaf. Und dann das Kind.

Auch Fiódor. Und an meiner Seite immer

Dein stiller Schritt. So ist es gut.

MARIA.

Borís,

Wie dürfte der nicht glücklich sein –

BORÍS.

Vergiß nicht,

Glück ist Geschenk. Ich hab es mir erkauft –

Das weißt du doch. Ich darf daran nicht denken.

MARIA.

So sprich auch nicht –

BORÍS.

Zuweilen muß ich's doch.

Wenn alles ruhig ist um mich herum

Und keine Arbeit drängt, flackert's im Dunkel

Blaß wie ein mattes Flämmchen – und dann weiß ich,

Es ist noch immer da. Dies ist der Preis.

Man soll es nennen können, das, was ist,

Stellt man die Sache ruhig vor sich hin,

Zwingt man sie wohl hinunter.

MARIA.

Laß es ruhn,

Ich bitte dich, Borís. Die Tat ist alt,

Begraben und vergangen.

BORÍS.

Heißt es Tat?

Sprich's aus und nenn es Mord, so steht es da,

Nackt wie es stehen soll. Doch alles türm ich,

Was meine Herrschaft schuf, dagegen auf,

So hab ich eine Mauer die mich deckt,

Will's Gott, im Tod sogar. Und aus der Erde

Wächst mir kein Feind empor, hier wohn ich sicher.


Er steht auf und geht auf und nieder. Diener treten ein, Armleuchter mit brennenden Kerzen tragend, die sie niedersetzen.
[522]

DIENER.

Herr, die Bojaren.

BORÍS.

Geh, sie mögen kommen.


Die Diener entfernen sich.


Ein Zank war's um den Vortritt so wie immer.

Viel Zorn und Kampf und prunkendes Geklirr

Um eine taube Nuß.


Galízin und Repnín kommen.


BORÍS sich setzend.

Nun sprecht, was bringt ihr?

GALÍZIN.

Das erste Wort ist sein. Sprich du, Repnín.

BORÍS da Repnín zögert.

Ich soll euch helfen? hört mich denn, Bojaren.

Hier war ein Kampf mit nackten Klingen – wer

Begann den Streit?

REPNÍN.

Ich tat's.

BORÍS.

Sag mir den Grund.

REPNÍN sich überstürzend.

Hier warf ein Schuft von Diener Kot auf dich,

Und ich ertrug das nicht, ich wollte nicht

Schmutz auf der Krone sehn! ganz ungeheure

Beschimpfung deiner sprach ein Mensch hier aus –

BORÍS.

Ein Diener?

REPNÍN.

Ja. Da kam Galízin. Kam –

Und ward voll Zorn, da ich dich fragen wollte,

Mit welchem Recht so schimpflicher Verdacht

Hier Stimme werden darf in diesen Mauern –

BORÍS.

Beschimpfung und Verdacht? sprich, welcher Art?

Geschwätz von Dienern scheint mir keine Stimme,

Die laut wird unsrem Ohr. Du aber bist

Bojar, dir trieb sie so den Zorn ins Blut,

So hat sie ihren Wert, laß mich sie hören.

REPNÍN.

Ich will's nicht glauben, darum steh ich hier!

Gewißheit muß ich haben! der Bojar

Vertrat mir meinen Weg zu dir, darum

Nahm ich das Schwert zu Hilfe.

BORÍS.

Ich erwarte

Nun die Erklärung.

GALÍZIN.

Herr –

REPNÍN.

Er nennt dich, Herr –

BORÍS.

Heraus! wie nennt er mich?

REPNÍN.

Dich einen Mörder

Hat er genannt – er sagt, Prinz Dmitri –

BORÍS furchtbar erschreckend.

Mich –


[523] Es klingt wie ein Schrei; er ist aufgefahren, starrt Repnín entsetzt an, macht dann eine gewaltige Anstrengung, sich zu fassen.


Du sagst, so hat er mich genannt –

REPNÍN.

Das tat er.

BORÍS:

Dann schlugst du ihn zu Boden?

REPNÍN.

Fürst Galízin

Hat mir gewehrt. Er sprach, es sei nicht wahr,

Der Bursche schwatze wie ein Papagei

Nur nach, was alle schwatzen, doch es sei

Erlogen, sprach er.

BORÍS.

Alle –

GALÍZIN.

Wir verachten

Die Träger solcher Lügen.

BORÍS.

Du, mag sein,

Doch nicht Repnín. Und solcherlei Gerücht

Ist überall wie Pest in meinem Land

Und ich nur weiß es nicht? Ich kann ins Volk

Hinein wie der Kalif des Märchens tauchen,

Verkleidet, und in jeder Schenke singt

Ein Trunkner mir das Lied vom Kindesmörder?

Den Bäcker kann ich fragen auf dem Platz,

Den Bettler auf der Brücke, den Besessnen

Am Kirchentor, Geflüster überall

Weit, weit ringsum im weiten Land, so sagt ihr –

Und nichts hab ich gewußt und nicht ein Hauch

Ist mir herangeweht, als saß ich stumpf

Und lächelnd wie ein Tauber im Getöse!

Wo blieben meine Freunde, Diener, Knechte,

Gehilfen, Räte? du, Galízin, schwiegst!

Stumm blieb mein Vetter Godunóf! Bassmánof!

Als wär kein Herrscher über diesem Reich,

Der wissen muß, wenn Krankes wühlt und schleicht

In seinem Volk, wenn Lüge frißt am Volk,

Empörendes wie üppig faules Kraut

Aus allen Feldern schießt!

REPNÍN.

Wenn alle schwiegen –

Ich kam und sprach.

BORÍS.

Wie kamst du und wie sprachst du!

Mit Fragen, Zweifeln, Forschen? sah ich's nicht?

Schuldig der Zar? nicht schuldig? – und ich gebe

Dir Antwort, hörst du – so: der Zweifel führte[524]

Dich zu mir her, so nimm den Zweifel mit

In dein Gefängnis –

REPNÍN.

Herr, du willst –

BORÍS maßlos gesteigert.

Ich will

Gesichert sein, daß deine Jugend nicht

Den Zweifel weiter trage als mir dienlich

Und rätlich scheint, – ich will den Schimpf –

MARIA angstvoll.

Borís!

BORÍS stammelnd.

Ich will mit dem Verräter –

MARIA.

Gott im Himmel!


Borís knickt in den Armen Galízins zusammen, dieser und die Zarin führen ihn zum Sessel und lassen ihn vorsichtig nieder.


Du mußt ein wenig ruhn. Der Arzt soll kommen.


Borís schüttelt den Kopf.


Borís, was willst du?

BORÍS.

Wart – ich sag dir gleich –

Noch einen Augenblick –

MARIA.

Soll ich dir Wein –?

BORÍS versucht zu lächeln, spricht dann sehr ruhig, wenn auch anfangs leise.

Der Zorn ist solch ein schlimmes Tier. Sei ruhig,

Es ging vorüber. Sieh, das hängt zusammen

Mit unsrem Alter, auch mit Müdigkeit,

Es ist natürlich, siehst du. Daß die Kinder

Von dieser Schwäche nichts erfahren und –

Und nichts der Hof, – hört ihr, das ist mein Wille

Und ihr versprecht es mir. Ein Wort, Repnín!


Repnín tritt heran, halb scheu, halb trotzig.


Mein Zorn war Krankheit, Fürst. Geh, du bist frei.

Wenn du mich schuldig glaubst, so tu's. Ich will

Nichts wissen. Diese Stunde lösch ich aus

Und willst du wieder meiner Krone dienen,

Bist du willkommen wie zuvor.

REPNÍN will sprechen, dann fällt er plötzlich vor den Zaren nieder, Borís zuckt abwehrend.

Herr, Herr,

Vergeben sollst du mir –

BORÍS gequält.

Du hast mir nichts

Getan – steh auf, ich wills – gib mir die Hand

Und geh – so recht – und geh in Frieden –

REPNÍN.

Jetzt –

Wenn du mein Leben brauchst –[525]

BORÍS mit einem mühsamen Versuch zu scherzen.

Nicht heute, Fürst.

Und morgen will ich dich – auch dich, Galízin,

An meiner Tafel sehen.

GALÍZIN.

Komm, Repnín.


Beide ab. Maria bleibt neben dem Zaren stehen.


MARIA.

Sei nicht mehr traurig, alles geht vorüber

Und ist bald nicht mehr da.

BORÍS.

Sehr häßlich war's,

Wie ich da lügen mußte.

MARIA.

Hast ja doch

Kein Wort gesagt.

BORÍS.

Das eben ist's! kein Wort!

Doch so mit königlich erhabenem

Gebaren und mit Haltung, vornehm-schurkisch

Abweisen den Verdacht – und ihm die Hand noch –

Versteh doch nur!

MARIA.

So hilf und sag es mir.

BORÍS steht auf.

Gern, Hebe Frau – ein andermal. Ich war

Sehr zuversichtlich heute noch – und jetzt

Weiß ich, es hat sein Dasein immerfort

Gesponnen wie ein Schatten in der Erde,

Auf der ich ging – und lernen muß ich wieder,

Es anzusehn wie sonst ...


Er geht hinüber zum Fenster, stößt mit dem Fuß an das Papier, das Ksénja vorher nach Fiódor geworfen, hebt es absichtslos auf.


ich wünschte nur,

Daß Ksénja nichts erführe. Wenn es immer

Noch lebt und wandert, das Gerücht, wie leicht

Kann es bei ihr an einem schlimmen Abend

Aufspringen, häßlich, und dies Leben trüben,

Das ich mit Glanz der sanften Heiterkeit

Nur immer decken möchte. Kommt es so,

Das, weiß ich, wird mir schwer.


Er legt am Fenster stehend, das Papier fort. Es wird an die Türe gepocht. Dann fragt eine lachende Stimme durch die Türspalte.


Dürfen wir kommen?

BORÍS.

Die Kinder! still! nichts ahnen dürfen sie! –

Ja, kommt nur, kommt! – wir warten, kommt! –


[526] Ksénja tritt lachend ein, phantastisch behängt mit bunten persischen Seidenschleiern, ein Schachspiel tragend und einen silbernen Gürtel, hinter ihr Fiódor mit einem kostbaren Krummsäbel, zuletzt Christian mit einem schweren roten Sattel.


KSÉNJA.

Ihr habt

Uns lange warten lassen.

BORÍS.

Ja, mein Kind,

Das hatten wir vergessen.


Seine Stimme klingt gezwungen, Ksénja sieht ihn forschend an, stellt das Schachspiel auf den Tisch, geht auf ihn zu.


KSÉNJA.

Vater? – du –

Du hast etwas?

BORÍS.

Ich sehe dort im Schein

Der Fackeln unsre Kirche stehn – sieh hin –

Die Flamme spiegelt sich im braunen Gold,

Das ist sehr schön, nicht wahr?

KSÉNJA.

Du willst es mir

Nicht sagen?

BORÍS.

Kind, es gibt so mancherlei ...

Sei ruhig, es ist nichts. Verdrießliches,

Das kommt und geht –

KSÉNJA.

Es quält dich, wenn ich frage?


Borís nickt unwillkürlich.


Ich will es nicht mehr tun.


Sie geht zum Tisch und legt lautlos ihren Putz ab.


BORÍS.

Es darf nicht sein,

Daß wir den Abend, weil ich müde bin,

Verdämmern stumpf und matt. Ksénja, das Brett,

Fang an, mein Kind, du nimmst die weißen. Komm.


Sie setzen sich und beginnen die Figuren aufzustellen. Stimmen und Schritte vor der Tür.


BORÍS horcht auf.

Seht nach, was da für Lärm. Fang an, mein Kind.


Fiódor geht zur Tür. Diese wird aufgemacht, bevor er sie erreicht hat, Simeon Godunóf kommt schnell mit einem Mann in bestaubter Kleidung.


SIMEON.

Verzeih mir, Herr ...

BORÍS.

Was gibt es noch so spät?

SIMEON.

Unziemlich ist es, daß ich ungemeldet

Vor dich –[527]

BORÍS.

Zur Sache.

SIMEON.

Ernste Botschaft, Herr.

Hier kommt ein Mann mit rätselhafter Meldung:

Die Polen sind in deines Landes Grenzen

Verheerend eingefallen –

BORÍS.

Wahnsinn, Mensch!

Ich halte Frieden mit der Welt – und Polen

Ist längst versöhnt.

SIMEON.

Eh es zu spät wird, Herr –

Entscheidung drängt, den Boten mußt du hören.

BORÍS.

Kein Märchen will ich glauben.

DER BOTE.

Großer Zar,

Die Polen sind im Land, so wahr ich selbst

Schon ihre Reiter sah in unsren Dörfern.


Wachsender Lärm draußen.


BORÍS.

Ruft meine Feldherrn – rasch.

SIMEON.

Ich sah Bassmánof

Vom Pferd im Hof sich schwingen.

BORÍS.

Ruft ihn mir.

FIÓDOR an der Tür.

Hier kommt er, Vater.


Baßmánof tritt auf, gefolgt von zwei Gepanzerten.


BORÍS.

Hast du dies gehört?

Wir müssen rüsten, Freund, der Pole liegt

Zu Felde wider uns.

BASSMÁNOF.

Du weißt nicht alles.

Ein junger Abenteurer führt die Scharen

Heran auf Moskau ...

BORÍS.

Wer?

BASSMÁNOF.

Der Fremde nennt sich

Des alten Zaren Sohn –


Zwei Bojaren, rasch auftretend.


BORÍS atemlos.

Wie!! – nennt er sich?

Tot sind die Zarensöhne! tot!

1. BOJAR.

Prinz Dmitri,

So sagt man, führt das Heer.

BORÍS.

Schändliche Lüge!

Tot ist der Prinz! ich sage: tot! er starb

Als Kind, er ward begraben, Erde deckt ihn,

Die Toten wandeln nicht, sie kämpfen nicht,

Sie führen keine Heere –

BASSMÁNOF.

Reiter brachten[528]

Die Nachricht aus dem Feld: Prinz Dimitri lebe,

Das Kind in Úglitsch, das begrabene,

Sei nicht der Prinz gewesen – ohne Zweifel

Ein schmählicher Betrug, doch fällt das Volk

Wo er sich zeigt, dem Abenteurer zu

Und nennt ihn Dmitri, seine Heeresmacht

Schwillt an mit jedem Schritt –

BORÍS.

Fürst Schuiski komme!

Der sah den Prinzen tot! im Sarg! er komme!

Zerplatzen soll die Lüge!


Ein Bote stürmt herein, hinter ihm zeigen sich Bojaren, Fackelträger, Diener und anderes Gefolge.


BOTE.

Weißt du's, Herr?

BORÍS.

Bringst du noch mehr? sprich schnell –

BOTE.

Die Zarin Marfa,

Die Königswitwe, ward dem Kloster heimlich

Entführt, sie habe, sagt man, den Betrüger

Als ihren Sohn begrüßt und solches Zeugnis

Reißt Tausende den fremden Fahnen zu,

Man spricht von Zeichen, ganz untrüglichen,

Ein Schmuck, den sie dem Sohn geschenkt –

BORÍS.

Gestohlen!

BOTE.

Ein Mal auf Dmitris Kinn, das sie erkannte,

Ein Zeichen auf der Stirn –

BORÍS.

Zu mir, Bojaren!

Die Karten her! in ihre Gräber will ich

Die Toten stampfen, die Erstandenen,

Mein Rat soll sich versammeln, jagt hinaus

Herolde durch die Stadt, man soll das Zeichen

Auf allen Märkten blasen –


Er beugt sich über eine Karte. Kurz darauf Trompetenstöße nah und entfernt.


BASSMÁNOF.

Hier der Fluß

Ist überschritten, sagt man –

BORÍS.

Ihn zurück

Ins Wasser stürzen wir – nimm diesen Ring,

Bassmánof, du bist Feldherr –


Fürst Repnín drängt sich durch die Menge.


Fürst Repnín,

Was willst du?[529]

REPNÍN.

Sterben, Zar Borís, für dich,

Laß mich ins Feld!

BORÍS.

Nicht sterben – siegen! geh!

Bassmanóf, Gottes Kraft in deinem Schwert

Sei über unsern Feinden!

EINE STIMME.

draußen, schreit: Zar Borís!

BORÍS.

Ruft mir die Fürsten, ruft sie –


Ein Bote, atemlos, durch die Mitte.


BOTE.

Zar Borís!


Borís steht aufrecht im Gewühl der Menschen, Waffen und Fackeln.


Quelle:
Henry von Heiseler: Sämtliche Werke. Heidelberg 1965, S. 515-530.
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Große Erzählungen der Frühromantik

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1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

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