III. Grundsätze, die da zeigen, wie

das Genie und der Charakter eines Menschen

von dem Grade der Stärke und der

Lebhaftigkeit und des Fortgangs

einer und der andern dieser Fähigkeiten

und deren Verhältnisse untereinander abhängt

[423] Mit Scharfsinn ist über diese Frage schon viel gearbeitet. Alle Schriftsteller vom Genie und von den menschlichen Charakteren, unter denen, damit ich Deutsche nicht nenne, Huarte, Addison, Helvétius und soviel andre zum Teil große Namen stehen, haben im einzelnen viel Vortreffliches bemerkt; die Akademie fodert nicht Wiederholung oder Sammlung desselben, sondern erste Grundsätze aus den zwo Hauptquellen. Sie will den Strahl in seine Farben geteilt sehen, ohne zu fragen, wie sich nachher jedes Gefäß in jedem Tageslichte gefärbt zeige.

Wir legen also aus dem Vorigen zuerst voraus, daß, da Erkennen und Empfinden sich im Grunde nicht entgegenstehen, es nur apparent sein müsse, wenn sich die Genies und Charaktere beider Fähigkeiten zu einem Grade trennen. Sie müssen sich einander wieder nähern, und zuletzt das Empfinden doch wieder als Hülle des Erkennens erkannt werden. Um also von der Mannigfaltigkeit dieser Farbenbrechung nicht verwirret zu werden, nehmen wir noch selbst die beiden Fähigkeiten des vermischten Geschöpfs für eins und unterscheiden an ihnen nur Innigkeit und Ausbreitung. Ein Mensch existiert z.E. entweder stark in seinem Ich, an Erkennen und am Empfinden, oder ist weit außer sich verteilet: jenen wollen wir das tiefe, dies das reiche Genie in weitestem Verstande, oder praktisch jenes den starken, dies den schnellen und hellen Charakter nennen.

Ein Mensch mit innigem Empfindungsvermögen fühlt sich in jeden Gegenstand tief hinein und empfindet also Weniges, aber viel. Er hat nur seine ihm ähnliche Situationen, auf denen er aber lange ruhet und seine Seele ihnen einzuverleiben scheinet. Kommt's also zum Erkennen: so erkennet er tief und innig; kommt's zum Handeln, so würkt er stark, aus dem Grunde der Seele. Der Ausdruck folgt beidem als Übergang und Naturgemälde.[423]

Die Natur hat solche Menschen meistens schon von außen durch simple, tiefgeprägte Züge und Glieder bezeichnet. Man siehet kein unstetes Auge, keinen kleinen, fliegenden Blick, nicht verwirrte, halbentworfne Mienen; sondern, was die Bildung sagt: saget sie wohl.

Ein Mensch, der sich nun durch alle Teile und Glieder, Nerven und Muskeln also innig und ganz fühlet, ein völliger, gesunder, in starker Wahrheit alles empfindende Mensch, hat offenbar die Anlage zum weisen und glücklichen Menschen. Nicht nur gegen andringende Übel hat ihn die Natur gewappnet, sondern ihm auch mit seinen gesunden, richtigen Sinnen Summen von Güte und Wahrheit vorgelegt, mit denen er zugleich den Druck erhält, sie wohl anzuwenden. Von welchen Vorurteilen kann er frei sein, da er die Gegenstände wahr und tief siehet und mit jedem Sinn eine Probe vollständiger Empfindungen empfängt, nach deren Ähnlichkeit er sich weiter übe.

Ein Mensch von vollständigen Trieben und Empfindungen wird also nie aus Schwachheit träge, menschenfeindlich und grausam sein können. Er strebt zur Tat mit dem Bewußtsein des Rufs und der Stärke; und warum sollte er also andre mit kleinmütigem Neide, mit List und üppigem Hochmut hintergehen? Er kennet die kleine Triebfedern nicht, weil er nur durch eine große handelt: er sieht nicht einmal auf sich zurück, um sich doch selbst seine Größe zu entwickeln, sondern ist im Gegenstande, im Geschäft, mit Kraft und Seele. Das Herz voll großer Tat und Wahrheit kann mit nichts, also am wenigsten mit sich selbst tändeln.

Hohes Ideal der Menschheit! aber es kann nicht oft existieren. Die Natur arbeitet ins Mannigfalte, ins Unendliche; sie verändert mit allen Graden und kann also selten diese Tiefe über alle Organe erstrecken. Indem sie nun an einigen würkt und, von äußern Hindernissen überwältigt, bei andern nachläßt: so wird dem Scheine nach Unförmlichkeit. Ein Zug ist tiefer ausgedrückt und steht hervor; die Empfindung wird mehr auf diese als jene Seite gezogen; das ist nun der Grund zu dem, was man große Leidenschaften, Charaktere nennet. Da dringen von Kind auf gleich Umstände herzu, mehr diese als andre Seiten der Existenz zu nähren, oder wenn sie nicht da sind, ruft sie die Natur: das Genie schlägt sich durch, und der Charakter assimiliert, was er kann, in sich. Wir sehn, wenn ein[424] Glied des Körpers verstümmelt wird, daß sich die Säfte wohl nach dem andern, nachbarlichen, ihm homogenen hinziehen und es ungewöhnlich verstärken; so geht's mit diesem Genie an Empfindungen und Trieben. Die von der Natur versäumten und im Verfolg ungebrauchten Organe dorren, andre nehmen zu sehr überhand. Je mehr also die Kunst der Teilanlage der Natur forthilft und durch vielfältige Anlässe den Menschen auf eine Seite, zu einem Zweck hinreißet, um so mehr kann er unter Tausenden Genie und Held seiner Art werden bis zur Tollheit. Die meisten, die in den Tollhäusern liegen, sind Genies; nur sie sind die wenigsten: die meisten ihrer Brüder laufen frei umher.

In diesem Ursprunge liegt auch die Ursache, über die so oft geklagt wird, daß die Natur nur selten große Genies bildet. Wie man's meistens nimmt, ist's aus ebendem Grunde, als warum sie wenig Höcker bildet. Die Natur hält Maß, oder wenn sie hie und da Übermaß im einzelnen hervorbringt, so gehört auch eine große Menge äußerer Umstände dazu, diesem Übermaß fortzuhelfen. Das geschieht nun minder in simplen Naturzuständen als im Zusammentreffen der Kunst, in großen Gesellschaften. Hier, wo alle Gelegenheiten, Anlässe und Berufsarten verteilt, und lauter kleine Zähler zu einem großen Nenner sind: da kann's oft Punkte geben, wo Bildung und Ruf von außen mit dem innern Ruf zusammentrifft, nun eben dieser Keim zum Übermaße gereizt, gelockt, genährt, gebildet wird, und das gibt alsdenn die sogenannten großen Männer und Leidenschaften in Partikularsphären, von denen Helvétius, nur viel zu mechanisch, wie mich dünkt, und ungründlich gesprochen. Die andern großen Leute im Keime können's oder wollen's nicht vollenden. Hier würkt der einen Leidenschaft, die Triebfeder zum Ungewöhnlichen werden soll, eine andre Leidenschaft durch Anlässe von außen oder moralische Übung entgegen. Jene fühlen unbestimmt und dunkel; es ist aber nichts, was das dunkle Gefühl wecke. Einem andern tritt der Engel des Herrn, die Notwendigkeit, entgegen; und später sieht er, daß er und die Welt dabei gewonnen und nicht verloren. Überhaupt ist auch darin die größte Weisheit der Natur sichtbar, daß sie große Männer nur so selten und einzeln, wie Sterne in dunkler Nacht, streuet; mit mehrern könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen.

Im gegebnen Standpunkte wird offenbar, wiefern und[425] warum es sei, daß solchen Leidenschaften und teilweise ausgeprägten zu starken Charakteren oft Vernunft und Tugend entgegenstehe, worauf Helvétius so viel bauet und beide gar als unvereinbar betrachtet. Im Grunde wären sie's nicht. Empfindung ist der Vernunft gar nicht entgegen, sondern, wohlgeordnet, bloß das sinnliche Schema und Organ derselben. Ein tiefes Empfindungsvermögen muß also auch immer eine Quelle tiefer Erkenntnisse sein, wie wir noch immer mitten unter den Ruinen mißratner oder teilweise nur geratener großer Seelen sehen. Wenn bei ihnen die gute Natur zurückkehret, sehen wir hinter allen Ausschweifungen eine Anlage zu würklich großen Eigenschaften, für denen wir oft verstummen und erstaunen. Das zeigt immer, daß das Gepräge der Natur, das in dem einen tief würkte, auch an der andern Stelle gewürkt hätte, wenn es dahin geleitet wäre. Der große Mann, der alle seine große Leidenschaften zu lenken, zu ordnen, zu wägen weiß und durch alle Vernunft zeiget, muß gewiß eine so tiefere Vernunft in Einsicht und Tätigkeit zeigen, als kein Pygmäe und Flatterer von Empfindung je mit seiner Vernunft, als einer ausschließenden Eigenschaft, je er reicht hat. Überhaupt ist Vernunft und Tugend keine Abstraktion in der Luft, wo alles selig ruhet; sie wird im Kampfe geboren und erzeigt sich eben mit unter Leidenschaften und Trieben durch Königskraft und Ordnung, die selbst die stärkste, reinste Leidenschaft werden kann und soll.

Es sind also nur immer Ungeheuer, auf die der vorige menschenfeindliche Satz passet. Wo die Natur so ungleich ausgebildet ist, daß hier Leidenschaft wie ein wildes Tier fodert, dort alles in Dörre schläft: wo also auch die Vernunft, die nur immer der Abglanz und Gegenschein der sinnlichen Kräfte ist, so ungleiche Tiefen und Untiefen hat und keine Gegenkräfte empören kann, sich dem Ungeheuer zu widersetzen – freilich, da ist obgedachte Halbphilosophie nur zu wahr; aber leider! Die Politik und Kunst kann freilich solche Menschen, wenn sie zu ihren Zwecken einstimmen, vortrefflich brauchen, wie sie ja auch Löwen und wilde Tiere braucht; deswegen aber fodert das Ideal von Größe, Würde und Stärke der Menschheit mitnichten solche Übung. Die Lehre der Tugend und Glückseligkeit will, daß nichts also vorgebildet werde, damit das Gleichgewicht der Leidenschaften, Vernunft und stille, starke Würksamkeit, d.i. Handlung, unmöglich sei, und selbst[426] Politik und Kunst kann die letztere nie ganz ausschließen. Selbst alle wilden Tiere, die sie braucht, muß doch Vernunft regieren. Und da ist's die schädlichste Unwahrheit, zu glauben, daß ein Temperament großer Eigenschaften und Leidenschaften Tugend verhindern müsse. Freilich geschieht's oft, und es kann durch Übung so weit kommen, daß es fast nicht anders mehr sein kann; das ist aber nur immer Mißbildung auf der Stelle. Wo diese starke Leidenschaft möglich war, mußte auch eine andre möglich sein, die ihr das Gegengewicht leiste, oder vielmehr selbst diese Leidenschaft enthielt, nur recht angegriffen und geläutert, ein Resultat ebenso tiefer, herrlicher Vernunft in sich, und diese, in Tätigkeit gesetzt, war Leidenschaft ebenso tiefer Tugend. Die stärkste Seele hat auch zur stärksten Tugend Anlage, wenn sie die Empfindungen gehörig erschöpft und ordnet. Sie hat in jeder Empfindung viel zu entwickeln, sie hat aber auch viel Entwickelungskraft und intensive Ruhe. Was sie hervorgräbt, ist Gold an Wert und Schwere. Seelen von der Art sollte man allein groß nennen, weil sie's auch allein sind. Miltons Teufel baute das Pandämonium und schlug eine Brücke übers Chaos; er ward aber mit beidem weder glücklicher noch größer. Alle Stärke ohne Vernunft und Güte ist entweder Abenteuer, sublime Narrheit oder Abscheulichkeit, die sich in beiderlei Falle selbst straft; und auch je vollkommner die Verfassungen der Menschen werden, desto mehr müssen sie Abenteurer verlachen und Abscheulichkeiten, mit Lumpen der Größe behangen, hassen und verachten. Wahrhaftig große Seelen sind tief eingedrückte Kraftpunkte, Pole, um die sich ein ganzes Firmament drehet. Ihre riefe Empfindung reifte zur tiefen Vernunft und erhabnen Güte.

2. Die andre Art der Empfindungen und Erkenntnisse, Lebhaftigkeit, Schnelle mit Ausbreitung verbunden, hat die Sprache schon mit einem ziemlich angemeßnen Ausdruck Geister (esprits), im weitern Umfange, bezeichnet. Dort war der Lichtstrahl unzerteilt; hier spielen schon alle Farben, die freilich, in eins vereinigt, vielleicht gerade den vorigen Lichtstrahl ausmachen würden. Ihr Verstand, ihre Tugend ist wiederum ihren Empfindungen gemäß.

Die Anlage dieser Subjekte ist ein verbreitetes Empfindungsvermögen, das leicht gleitet und also schwächer auf jedem Punkte würket. Schon ihre Bildung zeigt's oft, die beseelt[427] ist, Physiognomie hat, in Munterkeit webet. Ihr Feuer ist aber nicht gediegene Glut, sondern Lichtstrahl, Schimmer, der wenn nicht wärmet, so weit umher leuchtet. Ihre Triebe sind nicht Leidenschaft, sondern Phantasie; ihre Taten mehr Flug, Anlage zum Handeln. Sie sind fliegende Boten, den Tätern nach- oder vorhergesandt, zum Entwerfen oder zum Lobpreisen, zum Verkündigen, zum Zeigen.

Leute dieser Gattung haben einen großen Kreis der Würkung; sie würken aber in jedem Punkte nicht viel. Sie sind zu vielem geschickt, und in keinem groß. Das tiefe Genie hatte Ausbreitung nötig, damit es unter einer Empfindung nicht erläge. Das lebhafte Genie hat Innigkeit nötig, damit es im Schönen der weiten Oberfläche nicht gar zerfließe.

Wenn der starkfühlende Kopf ausschweift, so sind's große Leidenschaften und Laster; wenn die muntre Seele irrt, sind's ewig kleine Fehler, bei denen sie doch nie zur Besinnung kommt, daß die Vernunft herrsche.

Trifft ein Genie dieser Art in eine gute Sphäre, so kann's mit seiner schnellen Vieltätigkeit auch auf leichte Art viel Angenehmes und Nützliches verrichten: es wird ein Triebrad der Gesellschaft. Gerät's aber unter Frivolitäten, so wird der feine Geist, der spielende Kopf. der Kleinmeister, das Gesellschaftsmännchen daraus und hundert bekannte Erscheinungen mehr. Die Komödie und guten Wochenblätter haben sich meistens mit Fehlern der Art beschäftigt, und eine große Reihe witziger Schriften und witziger Köpfe zeigen sie tätig.

Kommt der leichte, lebhafte Geist auch zum Ziele, das uns die Natur in allem vorsteckt, zur Richtigkeit und Wohlordnung: so wird bei ihm die leichte, aber weitverbreitete Tugend und Wahrheit den Mangel der Stärke und Intensität erstatten. Er Endet also auch auf seiner Wurzel Gang zur Vollkommenheit, Glückseligkeit und Ruhe. Die Natur bedorfte handelnde Wesen in beider Gattung und erzeigt sich beiden auf verschiedne Weise gleich gütig. Das Genie und die tiefe Leidenschaft ist der Mittelpunkt; der aufgeklärte und aufklärende Geist sind die Strahlen und Radien umher. So wird der große Zirkel der Welt.

Lasset uns nun sehen, welchen Fortgang beide Gattungen Kräfte nehmen, nach den Gegenständen, an denen sie sich üben; wir bleiben aber nur, der Aufgabe gemäß, bei Grundsätzen, aus denen die reiche Ernte der Anwendung folget.[428]

Es gibt einen Zustand der simpeln sinnlichen Empfindungen, den man nun einmal den ungekünstelten Naturzustand zu nennen gewohnt ist, obgleich in jedem Zustande Natur würket. Alle feinere Fäden stecken hier noch in einem Knäul und wirken in einem starken Seile. Die Vernunft existiert hier noch bloß in Handlungen ohne Raffinement: die Leidenschaften sind Naturtriebe und Gewohnheiten ohne Geschwätz und Nachschmeckerei. Hier übt sich also die Seele nicht überhelle, aber sehr fest, stark und tätig.

In diesem Zustande ist's, wo alles gleichsam noch Übung ist: Gedanke liegt in der Empfindung, Theorie in der Praxis begraben. Die ersten Genies, die das Menschengeschlecht bildeten, waren alles, Dichter, Philosophen, Meßkünstler, Gesetzgeber, Musiker, Krieger; aber alles nur im Keime zu ihrer neu sich bildenden Gesellschaft, d.i. sie waren vorzüglich große, tätige und gute Menschen. Sobald eine Wissenschaft auch auf ihre Simplizität zurückgeht: so wird sie ganz praktisch, wie die Philosophie des Sokrates, wie die Politik und Redekunst im Sinne der Alten. Spekulation, die auch in ihren Folgen ganz und gar nicht praktisch ist, ist auch nie wahr, wie das Geschwätz der Scholastiker in den mittlern Zeiten gnug zeiget. Die vollständige Wahrheit ist immer nur Tat; das Erkenntnis- und Empfindungsvermögen ist im Grunde der Seele und war auch bei den Urvätern unsrer Bildung eins. Alles wuchs aus einer Wurzel zur Glückseligkeit und Wahrheit.

Wie sich aber nun die menschliche Gesellschaft teilte, so glaubte man sich auch in diese Fähigkeiten teilen zu können: der eine sollte denken, der andre wollte empfinden oder handeln. Es wurden also theoretische und praktische Genies in allen Klassen und Arten. Man teilte sich in die Linie, die sonst einer durchlief; jeder lief von einem gegebnen Punkt auf seine verschiedne Seite, und da konnte er nun allerdings jeden Punkt gründlicher erforschen. Im Grunde aber bleibt's immer noch eine und dieselbe Linie. Von jedem Punkt eines Endes müssen sich Halbkreise zum andern linde ziehen lassen. Genies und überwiegende Kräfte kehren sich auch an die Grenze nicht und laufen, nachdem sie Standpunkt haben, ins gegenüberstehende Ende über. Was die ganze Wissenschaft umfasset, muß notwendig Theorie und Praxis gleich anschauend umfassen, wie Erkennen und empfinden würklich nur eins ist. Nur also zum bessern, leichtern Anbau teilte man sich in die[429] Sphäre; man ward zum größern Nenner ein kleinerer Zähler, je nachdem man selbst kein Ganzes mehr sein konnte.

Nun fanden sich also die Halbdenker und Halbempfinder. Moralisten, die keine Täter, Heldensänger, die keine Helden, Redner, die keine Geschäftführer, Regelngeber, die keine Künstler waren u.dgl. Was vorher Sensation war, war jetzt Sentiment, vor- oder nachgeschmeckte Handlung. So schlimm das für jeden einzelnen war, der halb untätig war und sich am Schatten begnügte: so gut war's für die Gesellschaft. Je mehr die Köpfe sich teilten, desto mehr ward alles durchsucht und jeder Punkt bebauet. So sind die Theorien gestiegen, bis endlich die höchste Philosophie wieder gebietet, zur Praxis zurückzukehren, und die bessere Politik wird ihr zeitig gnug helfen. Jede Wissenschaft wird so simplifiziert werden, daß sie wieder Tat werden muß. Es werden Zeiten kommen, da wieder Erkenntnis in der geläuterten, eigengefühlten Empfindung wohne. In weitere Klassifikationen läßt man sich nicht ein; weil sie schon häufig in andern Büchern, Huarte, Helvétius, den Abhandlungen vom Genie, kritischen und Wochenblättern stehen und die Aufgabe nur eigentlich Grund- und Hauptgesetze begehrte.

Die Natur, sehn wir, würkt hieher mit all ihren Operationen. Sobald eine Erkenntnis Anschauung geworden, so wird sie gleichsam als Fertigkeit verwahrt und nachher immer als taube, zusammengehüllte Erkenntnis, als symbolische Empfindung angewandt: wir handeln mit vorher erlangten Erkenntnissen wie mit Zeichen der Algebra, bei denen wir die Bedeutung vergessen dörfen, so daß sie doch das Resultat geben. Sooft diese Abkürzungsformel angeklagt wird und soviel Schaden sie bei Menschen, die nie von den Symbolen ab und zur Erkenntnis der Wahrheit wollen, stiftet: so weise ist der Gang der Natur, uns auf die kürzeste Weise zu neuen Kenntnissen und Empfindungen fortzutreiben. Das ist die Unruhe (uneasiness), die Leibniz so vortrefflich aus den unmerklichen Vorstellungen, die zur Helle dringen, aus den Empfindungen, die befriedigt sein wollen, erkläret. Die Natur ritzt uns immer mit diesen sanften Stacheln: wir sind ganz: der größte Teil von uns ist in der dunkeln Zukunft. Was wir erkannt und genossen haben, ist der unendlich kleinste Teil gegen das, was noch auf uns wartet.

Hierin sind der Wilde und der Gebildete einander gleich;[430] jeder in seinem Kreise. Mit feinen oder groben Kenntnissen und Empfindungen übt jeder sich in bei den und alle auf eine Weise; was dem einen an Helle und Schnelle abgeht, wird ihm durch Stärke und Dauer ersetzt. Alle suchen auf ihrem Punkte Genuß der Welt durch Empfindungen und Erkenntnisse, soviel sie deren zu einer Art sanft fortschreitenden Würkung aus ihrem Mittelpunkt der Ruhe brauche. Überall keimt Same zur Glückseligkeit und Tugend!

Vortrefflich ist die Aussicht, die jedes endliche Geschöpf da in seine ewige Dauer hat. Sein Gang ist immer fortschreitend: das Weltall muß ihm immer mehr und tiefere und hellere Phänomene des Wahren und Guten liefern: mit jeder Enthüllung derselben zum Erkennen und zum vollständigen Erkennen der Tat muß seine innere Kraft wachsen. Er strebt hinauf zur Gottheit und wird höherer Glückseligkeit fähig. Denken wir uns im ganzen Universum diese, jede auf ihrer Stelle, durch Empfindung erkennende, sich entwickelnde, fortstrebende Geschöpfe, so wird unser Blick in ein Unendliches der Weisheit und Güte verschlungen, und wir freun uns, daß uns ein solches, nie zu raubendes, ewig glückseliges und in der Glückseligkeit steigendes Los ward. In jeder enthülleten Empfindung erkennen und genießen wir Gott!

Quelle:
Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. Band 1, Berlin und Weimar 1978, S. 423-431.
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