III

Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet

[231] Erstes Naturgesetz. In der mathematischen Naturlehre ist's erwiesen, daß zum Beharrungszustande eines Dinges jederzeit eine Art Vollkommenheit, ein Maximum oder Minimum, erfodert werde, das aus der Wirkungsweise der Kräfte dieses Dinges folget. So könnte z.B. unsre Erde nicht dauren, wenn der Mittelpunkt ihrer Schwere nicht am tiefsten Ort läge und alle Kräfte auf und von demselben in harmonischem Gleichgewicht wirkten. Jedes bestehende Dasein trägt also nach diesem schönen Naturgesetz seine physische Wahrheit, Güte und Notwendigkeit als den Kern seines Bestehens in sich.

Zweites Naturgesetz. Gleichergestalt ist's erwiesen, daß alle Vollkommenheit und Schönheit zusammengesetzter, eingeschränkter Dinge oder ihrer Systeme auf einem solchen Maximum ruhe. Das Ähnliche nämlich und das Verschiedene, das Einfache in den Mitteln und das Vielfältige in den Wirkungen, die leichteste Anwendung der Kräfte zu Erreichung des gewissesten oder fruchtbarsten Zweckes bilden eine Art Ebenmaßes und harmonischer Proportion, die von der Natur allenthalben bei den Gesetzen ihrer Bewegung, in der Form ihrer Geschöpfe, beim Größesten und Kleinsten beobachtet ist und von der Kunst des Menschen, soweit seine Kräfte reichen, nachgeahmt wird. Mehrere Regeln schränken hiebei einander ein, so daß, was nach der einen größer wird, nach der andern abnimmt, bis das zusammengesetzte Ganze seine sparsam-schönste Form und mit derselben innern Bestand,[231] Güte und Wahrheit gewinnet. Ein vortreffliches Gesetz, das Unordnung und Willkür aus der Natur verbannet und uns auch in jedem veränderlichen eingeschränkten Teil der Weltordnung eine Regel der höchsten Schönheit zeiget.

Drittes Naturgesetz. Ebensowohl ist's erwiesen, daß, wenn ein Wesen oder ein System derselben aus diesem Beharrungszustande seiner Wahrheit, Güte und Schönheit verrückt worden, es sich demselben durch innere Kraft, entweder in Schwingungen oder in einer Asymptote, wieder nähere, weil außer diesem Zustande es keinen Bestand findet. Je lebendiger und vielartiger die Kräfte sind, desto weniger ist der unvermerkte gerade Gang der Asymptote möglich, desto heftiger werden die Schwingungen und Oszillationen, bis das gestörte Dasein das Gleichgewicht seiner Kräfte oder ihrer harmonischen Bewegung, mithin den ihm wesentlichen Beharrungszustand erreichet.

Da nun die Menschheit sowohl im ganzen als in ihren einzelnen Individuen, Gesellschaften und Nationen ein daurendes Natursystem der vielfachsten lebendigen Kräfte ist, so lasset uns sehen, worin der Bestand desselben liege, auf welchem Punkt sich seine höchste Schönheit, Wahrheit und Güte vereine und welchen Weg es nehme, um sich bei einer jeden Verrückung, deren uns die Geschichte und Erfahrung so viele darbeut, seinem Beharrungszustande wiederum zu nähern.


1. Die Menschheit ist ein so reicher Entwurf von Anlagen und Kräften, daß, weil alles in der Natur auf der bestimmtesten Individualität ruhet, auch ihre großen und vielen Anlagen nicht anders als unter Millionen verteilt auf unserm Planeten erscheinen konnten. Alles wird geboren, was auf ihm geboren werden kann, und erhält sich, wenn es nach Gesetzen der Natur seinen Beharrungszustand findet. Jeder einzelne Mensch trägt also, wie in der Gestalt seines Körpers, so auch in den Anlagen seiner Seele das Ebenmaß, zu welchem er gebildet ist und sich selbst ausbilden soll, in sich. Es geht durch alle Arten und Formen menschlicher Existenz, von der[232] kränklichsten Unförmlichkeit, die sich kaum lebend erhalten konnte, bis zur schönsten Gestalt eines griechischen Gottmenschen, von der leidenschaftlichsten Hitze eines Negergehirns bis zur Anlage der schönsten Weisheit. Durch Fehler und Verirrungen, durch Erziehung, Not und Übung sucht jeder Sterbliche dies Ebenmaß seiner Kräfte, weil in solchem allein der vollste Genuß seines Daseins lieget; nur wenige Glückliche aber erreichen es auf die reinste, schönste Weise.

2. Da der einzelne Mensch für sich sehr unvollkommen bestehen kann, so bildet sich mit jeder Gesellschaft ein höheres Maximum zusammenwirkender Kräfte. In wilder Verwirrung laufen diese so lange gegeneinander, bis nach unfehlbaren Gesetzen der Natur die widrigen Regeln einander einschränken und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werde. So modifizieren sich die Nationen nach Ort, Zeit und ihrem innern Charakter; jede trägt das Ebenmaß ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich. Je reiner und schöner nun das Maximum war, auf welches ein Volk traf, auf je nützlichere Gegenstände es seine Übung schönerer Kräfte anlegte, je genauer und fester endlich das Band der Vereinigung war, das alle Glieder des Staats in ihrem Innersten knüpfte und sie auf diese guten Zwecke lenkte, desto bestehender war die Nation in sich, desto edler glänzt ihr Bild in der Menschengeschichte. Der Gang, den wir bisher durch einige Völker genommen, zeigte, wie verschieden nach Ort, Zeit und Umständen das Ziel war, auf welches sie ihre Bestrebungen richteten. Bei den Sinesen war's eine feine politische Moral, bei den Indiern eine Art abgezogener Reinheit, stiller Arbeitsamkeit und Duldung, bei den Phöniciern der Geist der Schiffahrt und des handelnden Fleißes. Die Kultur der Griechen, insonderheit Athens, ging auf ein Maximum des Sinnlichschönen, sowohl in der Kunst als den Sitten, in Wissenschaften und in der politischen Einrichtung. In Sparte und Rom bestrebte man sich nach der Tugend eines vaterländischen oder Heldenpatriotismus; in beiden auf eine sehr verschiedene Weise. Da in diesem allen das meiste von[233] Ort und Zeit abhangt, so sind in den auszeichnendsten Zügen des Nationalruhms die alten Völker einander beinahe unvergleichbar.

3. Indessen sehen wir bei allen ein Principium wirken, nämlich eine Menschenvernunft, die aus vielem eins, aus der Unordnung Ordnung, aus einer Mannigfaltigkeit von Kräften und Absichten ein Ganzes mit Ebenmaß und daurender Schönheit hervorzubringen sich bestrebet. Von jenen unförmlichen Kunstfelsen, womit der Sinese seine Gärten verschönt, bis zur ägyptischen Pyramide oder zum griechischen Ideal ist allenthalben Plan und Absicht eines nachsinnenden Verstandes, obwohl in sehr verschiednen Graden, merkbar. Je feiner nun dieser Verstand überlegte, je näher er dem Punkt kam, der ein Höchstes seiner Art enthält und keine Abweichung zur Rechten oder zur Linken verstattet, desto mehr wurden seine Werke Muster; denn sie enthalten ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten. So lässet sich z.B. über eine ägyptische Pyramide oder über mehrere griechische und römische Kunstwerke nichts Höheres denken. Sie sind rein aufgelösete Probleme des menschlichen Verstandes in dieser Art, bei welchen keine willkürliche Dichtung, daß das Problem etwa auch nicht aufgelöset sei oder besser aufgelöset werden könne, stattfindet; denn der reine Begriff dessen, was sie sein sollten, ist in ihnen auf die leichteste, reichste, schönste Art erschöpfet. Jede Verirrung von ihnen wäre Fehler, und wenn dieser auf tausendfache Art wiederholt und vervielfältiget würde, so müßte man immer doch zu jenem Ziel zurückkehren, das ein Höchstes seiner Art und nur ein Punkt ist.

4. Es ziehet sich demnach eine Kette der Kultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildete Nationen, die wir bisher betrachtet haben und weiterhin betrachten werden. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaß im ganzen stattfindet, so daß es[234] der trüglichste Schluß wäre, wenn man von einer Vollkommenheit einer Nation auf jede andre schließen wollte. Weil Athen z.B. schöne Redner hatte, durfte es deshalb nicht auch die beste Regierungsform haben, und weil Sina so vortrefflich moralisieret, ist sein Staat noch kein Muster der Staaten. Die Regierungsform beziehet sich auf ein ganz anderes Maximum als ein schöner Sittenspruch oder eine pathetische Rede; obwohl zuletzt alle Dinge bei einer Nation, wenn auch nur ausschließend und einschränkend, sich in einen Zusammenhang finden. Kein andres Maximum als das vollkommenste Band der Verbindung macht die glücklichsten Staaten; gesetzt, das Volk müßte auch mancherlei blendende Eigenschaften dabei entbehren.

5. Auch bei einer und derselben Nation darf und kann nicht jedes Maximum ihrer schönen Mühe ewig dauren; denn es ist nur ein Punkt in der Linie der Zeiten. Unablässig rückt diese weiter, und von je mehreren Umständen die schöne Wirkung abhing, desto mehr ist sie dem Hingange und der Vergänglichkeit unterworfen. Glücklich, wenn ihre Muster alsdann zur Regel anderer Zeitalter bleiben; denn die nächstfolgenden stehen ihnen gemeiniglich zu nah und sanken vielleicht sogar eben deshalb, weil sie solche übertreffen wollten. Eben bei dem regsamsten Volk gehet es oft in der schnellesten Abnahme vom siedenden bis zum Gefrierpunkt hinunter.


Die Geschichte einzelner Wissenschaften und Nationen hat diese Maxima zu berechnen, und ich wünschte, daß wir nur über die berühmtesten Völker in den bekanntesten Zeiten eine solche Geschichte besäßen; jetzt reden wir nur von der Menschengeschichte überhaupt und vom Beharrungszustande derselben in jeder Form unter jedem Klima. Dieser ist nichts als Humanität, d.i. Vernunft und Billigkeit in allen Klassen, in allen Geschäften der Menschen. Und zwar ist er dies nicht durch die Willkür eines Beherrschers oder durch die überredende Macht der Tradition, sondern durch Naturgesetze,[235] auf welchen das Wesen des Menschengeschlechts ruhet. Auch seine verdorbensten Einrichtungen rufen uns zu: »Hätten sich unter uns nicht noch Schimmer von Vernunft und Billigkeit erhalten, so wären wir längst nicht mehr, ja, wir wären nie entstanden.« Da von diesem Punkt das ganze Gewebe der Menschengeschichte ausgeht, so müssen wir unsern Blick sorgfältig darauf richten.

Zuerst. Was ist's, das wir bei allen menschlichen Werken schätzen und wornach wir fragen? Vernunft, Plan und Absicht. Fehlt diese, so ist nichts Menschliches getan; es ist eine blinde Macht bewiesen. Wohin unser Verstand im weiten Felde der Geschichte schweift, suchet er nur sich und findet sich selbst wieder. Je mehr er bei allen seinen Unternehmungen auf reine Wahrheit und Menschengüte traf, desto daurender, nützlicher und schöner wurden seine Werke, desto mehr begegnen sich in ihren Regeln die Geister und Herzen aller Völker in allen Zeiten. Was reiner Verstand und billige Moral ist, darüber sind Sokrates und Konfuzius, Zoroaster, Plato und Cicero einig: trotz ihrer tausendfachen Unterschiede haben sie alle auf einen Punkt gewirkt, auf dem unser ganzes Geschlecht ruhet. Wie nun der Wanderer kein süßeres Vergnügen hat, als wenn er allenthalben, auch wo er's nicht vermutete, Spuren eines ihm ähnlichen, denkenden, empfindenden Genius gewahr wird, so entzückend ist uns in der Geschichte unsres Geschlechts die Echo aller Zeiten und Völker, die in den edelsten Seelen nichts als Menschengüte und Menschenwahrheit tönet. Wie meine Vernunft den Zusammenhang der Dinge sucht und mein Herz sich freuet, wenn sie solchen gewahr wird, so hat ihn jeder Rechtschaffene gesucht und ihn, im Gesichtspunkt seiner Lage, nur vielleicht anders als ich gesehen, nur anders als ich bezeichnet. Wo er irrte, irrete er für sich und mich, indem er mich vor einem ähnlichen Fehler warnet. Wo er mich zurechtweiset, belehrt, erquickt, ermuntert, da ist er mein Bruder, Teilnehmer an derselben Weltseele, der einen Menschenvernunft, der einen Menschenwahrheit.

[236] Zweitens. Wie in der ganzen Geschichte es keinen fröhlichem Anblick gibt, als einen verständigen, guten Mann zu finden, der ein solcher, trotz aller Veränderungen des Glückes, in jedem seiner Lebensalter, in jedem seiner Werke bleibt, so wird unser Bedauren tausendfach erregt, wenn wir auch bei großen und guten Menschen Verirrungen ihrer Vernunft wahrnehmen, die nach Gesetzen der Natur ihnen nicht anders als übeln Lohn bringen konnten. Nur zu häufig findet man diese gefallenen Engel in der Menschengeschichte und beklagt die Schwachheit der Form, die unsrer Menschenvernunft zum Werkzeug dienet. Wie wenig kann ein Sterblicher ertragen, ohne niedergebeugt, wie wenig Außerordentlichem begegnen, ohne von seinem Wege abgelenkt zu werden! Diesem war eine kleine Ehre, der Schimmer eines Glücks oder ein unerwarteter Umstand im Leben schon Irrlichtes genug, ihn in Sümpfe und Abgründe zu führen; jener konnte sich selbst nicht fassen; er überspannte sich und sank ohnmächtig nieder. Ein mitleidiges Gefühl bemächtigt sich unser, wenn wir dergleichen Unglücklich-Glückliche jetzt auf der Wegscheide ihres Schicksals sehen und bemerken, daß sie, um fernerhin vernünftig, billig und glücklich sein zu können, den Mangel der Kraft selbst in sich fühlen. Die ergreifende Furie ist hinter ihnen und stürzt sie wider Willen über die Linie der Mäßigung hinweg; jetzt sind sie in der Hand derselben und büßen zeitlebens vielleicht die Folgen einer kleinen Unvernunft und Torheit. Oder wenn sie das Glück zu sehr erhob und sie sich jetzt auf der höchsten Stufe desselben fühlen: was stehet ihrem ahnenden Geist bevor als die Wankelmut dieser treulosen Göttin, mithin selbst aus der Saat ihrer glücklichen Unternehmungen ein keimendes Unglück? Vergebens wendest du dein Antlitz, mitleidiger Cäsar, da dir das Haupt deines erschlagenen Feindes Pompejus gebracht wird, und bauest der Nemesis einen Tempel. Du bist über die Grenze des Glückes wie über den Rubikon hinaus, die Göttin ist hinter dir, und dein blutiger Leib wird an der Bildsäule desselben Pompejus zu Boden sinken. Nicht anders ist's mit der Einrichtung[237] ganzer Länder, weil sie immer doch nur von der Vernunft oder Unvernunft einiger wenigen abhangen, die ihre Gebieter sind oder heißen. Die schönste Anlage, die auf Jahrhunderte hin der Menschheit die nützlichsten Früchte versprach, wird oft durch den Unverstand eines einzigen zerrüttet, der, statt Äste zu beugen, den Baum fället. Wie einzelne Menschen, so konnten auch ganze Reiche am wenigsten ihr Glück ertragen, es mochten Monarchen und Despoten oder Senat und Volk sie regieren. Das Volk und der Despot verstehen am wenigsten der Schicksalsgöttin warnenden Wink; vom Schall des Namens und vom Glanz eines eitlen Ruhms geblendet, stürzen sie hinaus über die Grenzen der Humanität und Klugheit, bis sie zu spät die Folgen ihrer Unvernunft wahrnehmen. Dies war das Schicksal Roms, Athens und mehrerer Völker, gleichergestalt das Schicksal Alexanders und der meisten Eroberer, die die Welt beunruhiget haben; denn Ungerechtigkeit verderbet alle Länder und Unverstand alle Geschäfte der Menschen. Sie sind die Furien des Schicksals; das Unglück ist nur ihre jüngere Schwester, die dritte Gespielin eines fürchterlichen Bundes.

Großer Vater der Menschen, welche leichte und schwere Lektion gabst du deinem Geschlecht auf Erden zu seinem ganzen Tagewerk auf! Nur Vernunft und Billigkeit sollen sie lernen; üben sie dieselbe, so kommt von Schritt zu Schritt Licht in ihre Seele, Güte in ihr Herz, Vollkommenheit in ihren Staat, Glückseligkeit in ihr Leben. Mit diesen Gaben beschenkt und solche treu anwendend, kann der Neger seine Gesellschaft einrichten wie der Grieche, der Troglodyt wie der Sinese. Die Erfahrung wird jeden weiterführen und die Vernunft sowohl als die Billigkeit seinen Geschäften Bestand, Schönheit und Ebenmaß geben. Verlässet er sie aber, die wesentlichen Führerinnen seines Lebens, was ist's, das seinem Glück Dauer geben und ihn den Rachgöttinnen der Inhumanität entziehen möge?

Drittens. Zugleich ergibt sich's, daß, wo in der Menschheit das Ebenmaß der Vernunft und Humanität gestört worden,[238] die Rückkehr zu demselben selten anders als durch gewaltsame Schwingungen von einem Äußersten zum andern geschehen werde. Eine Leidenschaft hob das Gleichgewicht der Vernunft auf, eine andre stürmt ihr entgegen, und so gehen in der Geschichte oft Jahre und Jahrhunderte hin, bis wiederum ruhige Tage werden. So hob Alexander das Gleichgewicht eines großen Weltstrichs auf, und lange noch nach seinem Tode stürmten die Winde. So nahm Rom der Welt auf mehr als ein Jahrtausend den Frieden, und eine halbe Welt wilder Völker ward zur langsamen Wiederherstellung des Gleichgewichts erfodert. An den ruhigen Gang einer Asymptote war bei diesen Länder- und Völkererschütterungen gewiß nicht zu gedenken. Überhaupt zeigt der ganze Gang der Kultur auf unsrer Erde mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den Sturz eines Waldwassers von den Gebürgen; dazu machen ihn insonderheit die Leidenschaften der Menschen. Offenbar ist es auch, daß die ganze Zusammenordnung unsres Geschlechts auf dergleichen wechselnde Schwingungen eingerichtet und berechnet worden. Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken, und dennoch kommen wir mit jedem Schritt weiter, so ist der Fortschritt der Kultur in Menschengeschlechtern und ganzen Völkern. Einzeln versuchen wir oft beiderlei Extreme, bis wir zur ruhigen Mitte gelangen, wie der Pendul zu beiden Seiten hinausschlägt. In steter Abwechselung erneuen sich die Geschlechter, und trotz aller Linearvorschriften der Tradition schreibt der Sohn dennoch auf seine Weise weiter. Beflissentlich unterschied sich Aristoteles von Plato, Epikur von Zeno, bis die ruhigere Nachwelt endlich beide Extreme unparteiisch nutzen konnte. So gehet, wie in der Maschine unsres Körpers, durch einen notwendigen Antagonismus das Werk der Zeiten zum Besten des Menschengeschlechts fort und erhält desselben daurende Gesundheit. In welchen Abweichungen und Winkeln aber auch der Strom der Menschenvernunft sich fortwinden und brechen möge: er entsprang aus dem ewigen[239] Strome der Wahrheit und kann sich kraft seiner Natur auf seinem Wege nie verlieren. Wer aus ihm schöpfet, schöpft Dauer und Leben.

Übrigens beruhet sowohl die Vernunft als die Billigkeit auf ein und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unsres Wesens folget. Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum daurenden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegeneinanderstrebender Kräfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltbau ruhet. Ein und dasselbe Gesetz also erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung; was alle Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1965, S. 231-240.
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