Sechzehntes Buch

[259] Da wir jetzt zu den Völkern der nördlichen Alten Welt kommen, die einesteils unsre Vorfahren sind, von welchen wir Sitten und Verfassungen empfangen haben, so halte ich's für unnot, zuerst eine Vorbitte zum Besten der Wahrheit einzulegen. Denn was hülfe es, von Asiaten und Afrikanern schreiben zu dürfen, wenn man seine Meinung über Völker und Zeiten verhüllen müßte, die uns soviel näher angehn als alles, was jenseit der Alpen und des Taurus längst im Staube lieget? Die Geschichte will Wahrheit und eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit wenigstens unparteiische Wahrheitsliebe.

Schon die Natur hat diesen Strich der Erde durch eine Felsenwand unterschieden, die unter dem Namen des Mustag, Altai, Kitzigtag, Ural, Kaukasus, Taurus, Hämus und fernerhin der karpatischen, Riesen-Alpengebürge und Pyrenäen bekannt ist. Nordwärts derselben, unter einem so andern Himmel, auf einem so andern Boden, mußten die Bewohner desselben notwendig auch eine Gestalt und Lebensweise annehmen, die jenen südlichen Völkern fremd war; denn auf der ganzen Erde hat die Natur durch nichts so daurende Unterschiede gemacht als durch die Gebürge. Hier sitzt sie auf ihrem ewigen Thron, sendet Ströme und Witterung aus und verteilet, so wie das Klima, so auch die Neigungen, oft auch das Schicksal der Nationen. Wenn wir also hören werden, daß Völker, jenseit dieser Gebürge an jenen Salz- und Sandseen der ungeheuren Tatarei oder in den Wäldern und Wüsten des nordischen Europa jahrhunderte- oder jahrtausendelang wohnhaft, auch in die schönsten Gefilde des[259] römischen und griechischen Reichs eine wandalisch-gotisch-scythisch-tatarische Lebensweise brachten, deren Merkmale Europa noch jetzt in manchem an sich trägt, so wollen wir uns darüber weder wundern, noch uns einen falschen Schein der Kultur anlügen, sondern wie Rinaldo in den Spiegel der Wahrheit sehen, unsre Gestalt darin anerkennen, und wenn wir den klingenden Schmuck der Barbarei unsrer Väter hie und da noch an uns tragen sollten, ihn mit echter Kultur und Humanität, der einzigen wahren Zierde unsres Geschlechts, edel vertauschen.

Ehe wir also zu jenem Gebäude treten, das unter dem Namen der europäischen Republik berühmt und durch seine Wirkungen auf die ganze Erde merkwürdig oder furchtbar geworden, so lasset uns zuerst die Völker kennenlernen, die zu dem Bau dieses großen Riesentempels tätig oder leidend beitrugen. Freilich reicht das Buch unsrer nordischen Geschichte nicht weit: bei den berühmtesten Völkern erstrecket es sich nur bis auf die Römer; und sowenig ein Mensch die Annalen seiner Geburt und Kindheit weiß, sowenig wissen es diese, zumal barbarische und verdrängete Nationen. Die Reste der ältesten werden wir meistens nur noch in Gebürgen oder an den Ecken des Landes, in unzugangbaren oder rauhen Gegenden antreffen, wo kaum noch ihre alte Sprache und einige überbliebne alte Sitten ihren Ursprung bezeichnen, indes ihre Überwinder allenthalben den breiten, schönem Erdstrich eingenommen haben und, falls sie nicht auch von andern verdrängt wurden, ihn durch das Kriegsrecht ihrer Väter noch besitzen und auf mehr oder minder tatarische Weise oder durch eine langsam erworbene Gerechtigkeit und Klugheit billiger regieren. Gehabt euch also wohl, ihr mildern Gegenden jenseit der Gebürge, Indien und Asien, Griechenland und ihr italischen Küsten; wenn wir die meisten von euch wiedersehen, ist's unter einer andern Gestalt, als nordische Überwinder.[260]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1965, S. 259-261.
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