Erstes Kapitel

[123] In der Villa des alten Littwak hatte man die Passahfeier vorbereitet. Es war Abend, als die Gäste zurückkehrten. Der russische Pope von Sepphoris war schon vor einer Stunde eingetroffen. Jetzt kam auch David in Begleitung des Franziskanerpaters Ignaz. Dieser war ein wohlgenährter rotbackiger, blondbärtiger Mann, den die braune Kutte noch gedrungener erscheinen ließ. Er stammte aus Köln am Rhein und lebte schon seit einem Vierteljahrhundert in Tiberias, doch hatte er noch seinen unverfälschten kölnischen Dialekt im Munde. Anders als Deutsch konnte der gute Pater nicht sprechen. Der Pope und der Anglikaner Mr. Hopkins machten darum löbliche Anstrengungen, sich mit Pater Ignaz in seiner Muttersprache zu verständigen.

Der Sedertisch war im Speisesaale des Erdgeschosses hergerichtet. Etwa zwanzig Gedecke lagen auf dem schimmernden Linnen. David hatte allen Gästen die Plätze angewiesen und saß selbst am unteren Ende der Tafel, der sein Vater präsidierte. Der Stuhl zur Rechten des alten Littwak blieb aber leer, weil er für die kranke Mutter bestimmt war; sie konnte nicht an der Feier teilnehmen. Zur Linken des Hausvaters saß Mrs. Gothland.

Das schöne uralte Melodrama des Seders begann. Der erste Becher war eingeschenkt und der Hausherr sprach das Kiduschgebet, worin für die Frucht des Weinstockes und für alle Gnaden gedankt wird, welche Gott seinem Volke erwiesen hat.

»Ewiger, unser Gott! Du hast uns bestimmte Zeiten zur Freude, Fest- und Feiertage zur Wonne gegeben, wie diesen Festtag des ungesäuerten Kuchens, die Zeit unserer Freilassung zur heiligen Verkündigung, zum Andenken unseres Ausganges aus Mizrajim...«

Als dieses Gebet vorüber war, trank man den ersten Becher. Kingscourt sah nur zu. Da neigte sich Mrs. Gothland zu ihm, in englischer Sprache flüsternd:

»Sie müssen alles mittun, was die anderen machen. Es ist der Brauch.

Kingscourt würgte einige Deibel hinunter, hatte aber Humor und gute Lebensart genug, die sonderbaren Gebräuche den übrigen Gästen gleich zu befolgen. Die christlichen Seelsorger schlossen sich auch nicht aus.

Jetzt wusch der Hausvater sich die Hände in einem silbernen Becken, das Mirjam ihm dienend reichte. Hierauf nahm er von der vor ihm stehenden Sederschüssel ein Stückchen Petersilie, tauchte es in das Salzwassergefäß, sprach den Segen und aß es. Dann wurde jedem der Tischgenossen ein wenig Petersilie gegeben und jeder aß es. Kingscourt mit einer lustigen Grimasse, über die seine Nachbarin Mrs. Gothland sanft lächelte. Dann wurden das Ei und der Knochen mit dem gebratenen Fleisch von der Sederschüssel genommen, und die verhüllte Platte hob man hoch mit den feierlichen Worten:[123]

»Dieses ist das Brot des Leidens, das unsere Vorfahren im Lande Mizrajim gegessen haben...«

Wieder half Mrs. Gothland dem Verständnisse Kingscourts nach, indem sie mit dem Finger die Stelle in der vor ihm liegenden Hagadah wies, wo neben dem hebräischen Urtexte die deutsche Übersetzung zu lesen war. Dann wurde der zweite Becher Weines eingeschenkt, und David, welchem es als dem jüngsten Manne in der Tischgesellschaft zukam, erhob sich zu der überlieferten Frage:

»Ma nischtaneh halajloh haseh? ... Wodurch ist diese Nacht ausgezeichnet vor allen übrigen Nächten? Denn in allen anderen Nächten können wir essen Gesäuertes und Ungesäuertes – in dieser Nacht nur Ungesäuertes. In allen anderen Nächten können wir essen allerlei Kräuter – in dieser Nacht nur bittere Kräuter...«

Dann wurden die flachen Passahbrote der Sederschüssel aufgedeckt, und alle zusammen antworteten auf die Frage des Jüngsten:

»Einst waren wir Knechte des Pharao in Mizrajim, da zog uns der Ewige unser Gott heraus von dort, mit starker Hand und ausgestrecktem Arme...«

Und so nahm die Feier, halb Gottesdienst und halb Familienschmaus ihren Fortgang, ergreifend für jeden, dessen Herz von Ehrwürdigem gerührt werden konnte. Denn dieses jüdischeste aller Feste reichte weiter hinauf in die Vergangenheit der Menschen als irgendeine lebende Übung der Kulturwelt. So wie jetzt wurde dies alles geübt vor vielen, vielen Jahrhunderten, und die Welt hatte sich seither verwandelt. Völker waren untergegangen, andere waren in der Geschichte erschienen, der Erdkreis hatte sich erweitert, unbekannte Kontinente tauchten aus den Meeren, ungeahnte Naturkräfte erleichterten und verschönten das Leben – und nur dieses eine Volk war noch da wie ehemals, hegte noch die unveränderten Gebräuche, treu sich selbst und eingedenk der Leiden seiner Altvorderen. Es betete noch immer mit tausendjährigen Worten zum Ewigen, seinem Gotte, das Volk der Knechtschaft und Freiheit – Israel!

Einer war an dem Sedertische, der sprach die hebräischen Worte der Hagadah mit der Inbrunst eines Heimgekehrten. Ihm war es ein Wiederfinden und manchmal schnürte ihm Rührung die Kehle zu, daß er sich zusammennehmen mußte, um nicht laut aufzuschluchzen. Bald dreißig Jahre waren es her, daß er selbst als Knabe das »Mah nischtaneh« gefragt hatte. Dann war die »Aufklärung« gekommen, die Loslösung von allem Jüdischen und endlich logisch der Sprung ins Leere, da er gar keinen Halt mehr im Leben besaß. An diesem Seder kam er sich vor wie der verlorene Sohn.

Als der erste Teil der Feier vorüber war und die Speisen aufgetragen wurden, rief ihm Kingscourt über den Tisch zu:

»Fritz, ich wußte gar nicht, daß Sie ein so perfekter Hebräer sind.«

»Offen gestanden, ich wußte es selbst nicht!« war seine Antwort. »Aber es scheint, daß man das aus der Jugend her nicht vergißt.«

In den Tischgesprächen kehrte öfters der Name eines Herrn wieder, den Kingscourt und Friedrich noch nicht kannten: Mister Joseph Levy. Die beiden Steinecks[124] nannten ihn nur »Joe«, in der englischen Abkürzung. Es klang in ihrem Munde wie »Tschoh«.

»Es ist doch ein furchtbares Unrecht, daß Tschoh nicht da ist!« sagte der Architekt laut.

»Ja«, ergänzte sein Bruder; »daß Joe heute fehlt, ist nicht in der Ordnung. Die Feier ist nicht vollständig. Sie verstehen?«

»Nee janz und jar nich«, erklärte Kingscourt. »Es intriguiert mich schon die ganze Zeit, was Sie eigentlich von diesem unbekannten Joe wollen.«

»Er kennt Joe nicht!« schrie der Architekt und hielt sich die Seiten vor Lachen.

»Das ist eine Lücke in Ihrer Bildung, meine Herren!« sagte der Professor. »Joe muß man kennen. Ohne Joe säße mancher heute nicht, wo er sitzt. Joe hat die merkwürdigsten Dinge mit den geringsten Mitteln vollbracht. Joe ist ein wunderbarer Kerl. Er besitzt nämlich eine Eigenschaft, die seltener ist als Gold, seltener als Platin, seltener als Uran, seltener als das Seltenste, was es gibt.«

»Deibel, Sie spannen mich, Professor! Und diese Eigenschaft wäre?«

»Einfacher, gesunder Menschenverstand! Sie verstehen?«

»Ich fange an ... Nun möcht' ich aber den wundervollen Mann auch sehen!«

Der Architekt machte ein Sprachrohr aus seinen Händen und rief lustig:

»Tschoh, Tschoh!«

Mrs. Gothland winkte dem Schreihals zu, er möge schweigen. Dann sagte sie:

»Lieber Freund, so laut können nicht einmal Sie sprechen, daß er Sie hört. Es wäre denn, daß Sie sich an das Telephon bemühen. Dann ist es freilich leicht. Sie brauchen nur den Anschluß an Marseille zu verlangen. Unser guter Joe ist heute nachmittag in Marseille angekommen. Er läßt alle grüßen. Ich habe vorhin mit ihm telephoniert.«

»Wa-as?« schrie der Architekt. »So plötzlich? Ohne ein Wort zu sagen?«

»Ja, er hat sich vor einigen Tagen plötzlich entschlossen«, berichtete Mrs. Gothland weiter. »Sie kennen ja unseren Joe. Es wurde ihm gemeldet, daß ein Fabrikant in Lyon eine neuartige Maschine hergestellt habe. ›Das muß man sich ansehen‹, sagte Joe und fuhr noch am selben Tage nach Europa hinüber. Da die Blätter dort von seiner bevorstehenden Ankunft telegraphisch verständigt wurden, so hat er zur Stunde wahrscheinlich eine Belagerung von Fabrikanten, Maschinenagenten und Ingenieuren auszuhalten. So ist es immer, wenn Joe nach Europa geht.«

Reschid Bey bemerkte:

»Es erwarten ihn gewöhnlich schon die Vertreter aller möglichen Industrien. Er arbeitet mit England, Deutschland, Frankreich und besonders mit Amerika. Morgen wird er vielleicht auf dem Wege nach Amerika sein, wenn er nicht nach London geht oder hierher zurückreist. Man weiß bei Joseph Levy nie vorher, was er tun wird. Nur das eine weiß man: es ist das Richtige. Er schließt schneller einen Handel über fünf Millionen Dollars ab, als ein anderer sich einen Rock kauft. Die Amerikaner sind von ihm entzückt. Er bestellt rasch, zahlt gut und irrt sich nie.«

»Donnerwetter, der Mann jefällt mir!« brummte Kingscourt. »Was ist er denn hier?«[125]

»Generaldirektor des Industrieamtes«, sagte David. »Es gibt freilich kein Amt, das Joseph Levy nicht bekleiden könnte. Das ist einmal ein Mensch, der alles versteht, was sich einem gesunden Blick und einem eisernen Willen erschließt. Er hat eine blitzartige Intelligenz und klärt Ihnen im Nu die verworrenste Situation auf. Und wenn Joe Levy sich etwas vornimmt, dann können Sie gleich einen Eid ablegen, daß er es auch durchsetzt. Ich dachte mir, daß dieser Vollmensch Sie interessieren würde, meine Herren. Sie sollen ihn nach Tisch wenigstens reden hören, da ich ihn heute nicht anders als im Bilde zeigen kann.«

»Da müssen wir wohl ans Telephon ran?« meinte Kingscourt.

»Nicht nötig!« lächelte David. »Sie werden es bequemer haben. Und nicht nur Sie, auch spätere Zeiten werden seine Rede vernehmen. Ich dachte mir, daß es immerhin merkwürdig wäre, die Stimme des Befehlenden festzuhalten, der den neuen Anzug der Juden ordnete. Darum bat ich Joseph Levy, den Bericht über die Besiedlung unseres Landes in den Phonographen hineinzusprechen. Sie kannten ja diese sinnreiche Erfindung schon vor zwanzig Jahren, meine Herren. Ich ließ die Wachsrollen, auf die Joe seinen Bericht gesprochen hat, vervielfältigen. Einige hundert Exemplare schenkte ich jetzt zum Passahfeste den Schulen. Wir aber werden uns heute an der ersten Vorführung dieser Denkwürdigkeit erfreuen.«

Kingscourt fand es sehr ergötzlich:

»Janz famos. Da haben Sie einen reichen Gedanken jehabt, verehrtester Mann der Zukunft. Ohnehin fragte ich mich schon die ganze Zeit nach dem Überjang. Das Fertige sehn wir ja vor uns. Aber wie ist es jeworden? Da liegt schließlich des Pudels Kern begraben. Daß es Eisenbahnen, Häfen, Fabriken, Automobile, Tele-, Phono-, Photo- und Gott weiß was für Grafen jibt, das wußten auch wir minderjebildeten Europäer schon, bevor wir den erstaunten Fuß auf Palästinas Erde setzten. Aber wie haben Sie das alles herüberverpflanzt? Darum wollt' ich Sie eben ooch jebeten haben.«

»Joe wird Ihnen den Anfang sagen, nachdem wir Ihnen das Ende gezeigt haben«, antwortete David. »Und dieser Sederabend schien mir dafür die weihevolle Zeit. Wir lesen heute in unserer alten Hagadah, wie die Weisen einst an einem solchen Abende zu Bene-Berak zusammenkamen und sich die ganze Nacht hindurch über den Ausgang aus Mizrajim unterhielten. Wir sind die Nachfahren von Rabbi Elieser, Rabbi Jehoschua, Rabbi Eleasar, dem Sohne Asarias, Rabbi Akiba und Rabbi Tarphon. Und dies ist unser Abend von Bene-Berak. Altes will in neues übergehen. Wir werden zuerst unseren Seder in der Weise unserer Vorfahren zu Ende führen. Dann möge sich die andere Zeit melden, wie sie gekommen ist. Wieder gab es ein Mizrajim und wieder einen glückhaften Auszug. Dieser wurde selbstverständlich auf eine Art gemacht, welche dem Kulturzustande und den technischen Mitteln zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsprach. Es konnte nicht anders sein. Es konnte auch nicht früher sein. Das technische Zeitalter mußte erschienen sein. Die Völker mußten die Reife zur Kolonialpolitik erlangt haben. Statt der Segelschiffe mußten die großen Schraubendampfer mit zweiundzwanzig und mehr Seemeilen Geschwindigkeit existieren. Kurz, das Inventar,[126] von 1900! Wir mußten neue Menschen geworden und doch auch dem alten Stamm nicht untreu sein. Und auch die wohlwollende Teilnahme der Völker und ihrer Fürsten mußte dabei sein, sonst wäre das ganze Werk nicht möglich gewesen.«

»Gott hat uns geholfen!« sagte der alte Littwak und murmelte hebräische Worte.

Reverend Hopkins erinnerte seine geistlichen Kollegen von den anderen Kirchen an den Osterstreit des Altertums, und wie sich all der müßige Hader nun in Harmonien aufgelöst habe. Heute könnten sie als Christen friedlich im Hause eines Juden zur Passahfeier Zusammenkommen und nähme keiner Anstoß an den Anschauungen des anderen. Denn ein Frühling der Menschheit sei auferstanden.

»Er ist wahrhaftig auferstanden!« sagte der Pope von Sepphoris.

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 123-127.
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