III. Die Tochter des Proletariers und

der Sohn der Könige.


An dem Tage, an welchem der alte Schäfer Johann Prosch Incarnacion in's Leben zurückrief, an demselben Tage verließ Don Juan de Aurinia Paris; er war sicher auf der Spur des Entführers seiner Tochter, aber ein Befehl aus dem Ministerium des Innern zwang ihn Paris innerhalb vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Don Martinez de la Rosa, Ambassadeur der constitutionellen spanischen Königin am Tuilerienhofe, hatte dringend die Ausweisung des carlistisch gesinnten und bekannten Generals Juan von Aurinia verlangt und das Julicabinet hatte, wie gewöhnlich, dem Verlangen der auswärtigen Diplomatie, wie ein apportirender Pudel, Folge geleistet.

In derselben Stunde beinahe, in der Don Juan Paris verließ, aber weder die Straße nach Deutschland, noch die nach Belgien einschlug, hielt eine Postkalesche[59] mit zwei andern, uns schon bekannten, Reisenden vor einem, bereits für sie in Stand gesetzten, hôtel garni in der Rue Vaugirard und Herr Strobel, der westphälische Fabrikherr, half einer zarten, kränklich aussehenden, Dame aus der Kalesche. Nur mit Mühe erkennen wir das Spinnermädchen Röschen, die Tochter des weißen Fabriksclaven Mensdorf, in der modischen, von starrer Seide umknisterten Dame, mit dem Zobelpelz, dem Sammethut und dem Schleier.

Wir staunen, wenn wir bemerken, daß Herr Strobel mit unverkennbarer Liebe und Achtung den Arm der Fabrikdirne ergreift und sie langsam und vorsichtig hinaufführt in die für sie bereiteten Zimmer. In dem eleganten Gemach, das behaglich erwärmt ist, nimmt Herr Strobel dem Mädchen Mantel und Hut ab und geleitet es freundlich zu einem Divan, auf dem Röschen Platz nimmt und auf Strobels Frage nach ihrem Befinden lächelnd erwiedert, daß sie keine Schmerzen habe und nicht besonders ermüdet sei.

Der Wirth des Hôtels erscheint jetzt mit verschiedenen Complimenten für Madame und Monsieur und versichert, daß er nicht so frech gewesen sein würde zu stören, wenn er es nicht für seine Schuldigkeit[60] gehalten hätte, diese bereits vorgestern angekommenen Briefschaften sogleich an Monsieur zu übergeben. Der kleine, nette Franzose empfahl sich tänzelnd, indem er bei seiner Ehre schwor, er würde selig sein, wenn er am nächsten Morgen die Gewißheit erlangen könne, daß Madame unter seinem Dache, das eigentlich viel zu schlecht für sie sei, wohl geschlafen habe.

Röschen lächelte naiv über die drolligen Geberden des Franzosen, von den französischen Complimenten verstand sie natürlich nicht ein Wort.

Herr Strobel hatte indessen das Briefpaquet eröffnet. »Das ist für Dich, mein theures Röschen, mein geliebtes Herz,« rief er zärtlich, »hier bescheinigt Dein Vater den Empfang der zweitausend Thaler, er hat sich bereits ein Häuschen gekauft, er und Deine Mutter segnen Dich und geben mit Freuden ihre Einwilligung zu Deiner Verheirathung mit mir.«

»Gieb mir den Brief, Mar!« bat Röschen und streckte ihren Arm aus, der, wie wir jetzt erst bemerken, in der Schlinge eines schwarzen Seidentuches hängt.

Strobel eilte zu ihr. »Schone Deinen Arm, Röschen!« rief er sorgend, »willst Du deinen Fuß nicht[61] auf den Divan legen, Du sollst ihn ja immer ausgestreckt halten.«

Röschen legte gehorsam ihren Fuß auf den Divan und las, oder buchstabirte vielmehr, denn ihre gelehrten Kenntnisse waren sehr gering, den Brief ihres Vaters.

»Was schreibt Dir der Buchhalter, Max? Du sieh'st erstaunt aus, sag es mir, laß Dich nicht wieder von dem schlechten Menschen umgarnen;« fragte Röschen, als sie den langen Brief des armen Mensdorf gelesen hatte.

»Er will, denke Dir nur, der schäbige Mensch im grauen Rock, er will meine Fabriken selbst kaufen und hundert und zwanzigtausend Thaler anzahlen, wenn ich achtzigtausend Thaler zum Betrieb in seinen Händen darauf stehen lassen will.«

»Das thust Du nicht, Max, wenn Du mich liebst,« sagte Röschen fest, »Du hast viel Unrecht wieder gut zu machen an den armen Arbeitern; wenn Du ihnen aber den Buchhalter zum Herrn giebst, so geißelst Du die mit Scorpionen, die Du bisher doch nur mit Ruthen gepeitscht hast.«[62]

»Nein, Röschen, ich thu' es nicht, wenn Du es nicht willst,« erwiederte Strobel, »der Buchhalter ist ein schlechter Kerl; wo hat er das Geld her? doch mir gestohlen?«

»Nein, Max, den armen Arbeitern hat er's gestohlen!«

Der Fabrikherr erbrach einen andern Brief und rief dann freudig: »Höre Liebchen, das klingt besser;« er las:


»Mein Herr, ich erfahre soeben, daß Sie im Begriff sind Ihre westphälischen Fabriken zu verkaufen – Sie thun wohl daran, denn Sie sind nicht der Mann, um bei einem solchen Geschäfte neben Ihrem Nutzen auch das Wohl der Arbeiter im Auge haben zu können. Die furchtbaren Ungerechtigkeiten, die scheußlichen Schandthaten, die auch in Ihrem Bezirk vorgefallen sind, wollen wir gern der Schuld Ihres durchaus schändlichen Buchhalters, dessen Verführung Sie unterlagen, beimessen, da wir vernommen, daß Sie sich's eifrig angelegen sein lassen, Ihre Fehler wieder gut zu machen. Es liegt jetzt in Ihrer Hand – wählen Sie – vergrößern Sie Ihr Unrecht und verkaufen Sie Ihre Fabrikarbeiter dem Blutsauger, Ihrem[63] Buchhalter, oder tilgen Sie Ihre Schuld und überlassen Sie die Fabriken uns, die wir vor allen Dingen die entwürdigten Arbeiter zu Menschen zu machen suchen. Wir wissen nicht, wie viel Ihnen Ihr schurkischer Buchhalter geboten hat, betrügen wird er Sie auf jeden Fall, denn der Engel, der Ihnen zur Seite steht« – der Engel bist Du, Röschen! unterbrach sich Herr Strobel – »versteht sich vermuthlich wenig auf Rechnungen; wir taxiren den Werth Ihrer Fabriken auf viermalhunderttausend Thaler, welche wir zu jeder Zeit zu zahlen erbötig sind. Doch wollen wir zum Wohl der armen Arbeiter gern zulegen, wenn uns der Buchhalter überbieten sollte. Glauben Sie uns, der größte Vortheil geht Hand in Hand nicht mit der größten Klugheit, sondern mit der größten Rechtlichkeit. Wir fürchten jetzt nicht, daß Sie unsere unkaufmännische Großmuth mißbrauchen werden, denn Röschen wird Ihnen das Beste rathen. Sollten Sie sogleich entschlossen sein auf unsern Plan einzugehen, so legitimiren Sie sich bei dem Hause Laffitte in Paris und ziehen Sie die Kaufsumme von viermalhunderttausend Thalern gegen Cessionsurkunde auf uns. Wir wünschen Ihnen Glück[64] zu Ihrer Besserung und zu dem Engel, der sie bewirkte.«


Magdeburg den 4. December 1844.


Der General Don Juan de Aurinia

und für ihn sein Bevollmächtigter

Dr. Johann Faust.


Röschen war mehrmals, während Herr Strobel las, bescheiden erröthet, jetzt sagte sie freundlich: »Nun Max, jetzt hast Du Gelegenheit Dein Unrecht glänzend gut zu machen; Du wirst doch auf das Anerbieten des Generals eingehen?«

»Das versteht sich, liebes Kind; aber sage mir, kennst Du diese Leute? Kennen sie Dich? Woher wissen sie?«

»Du weißt, Max, daß ich sie nicht kennen kann, ich war ja vor zwei Monaten noch ein hungerndes Fabrikmädchen, wer sollte mich da gekannt haben? Und seit zwei Monaten bin ich Dir ja nicht von der Seite gekommen!«

»Ja, das ist wahr, aber es ist doch höchst sonderbar, daß sie wissen, daß ich mich gebessert habe!« murmelte Herr Strobel.[65]

»Du hast Dich noch nicht gebessert, Max,« sprach Röschen ernst, aber freundlich, »Du willst es erst!«

Ueberlassen wir indeß das so seltsam veränderte Paar sich selbst, wir sind unsern Lesern eine Erklärung dieser Veränderungen schuldig.

Wir bemerkten schon früher, daß der junge Herr Strobel, ein rechtes Kind unserer charakterlosen Zeit, jedem Eindruck offen, in liederlicher Gesellschaft zum feigen, blasirten Lüstling wurde und dann unter dem vergiftenden Einflusse seines Buchhalters das wurde, als was wir ihn beim Beginn dieser Erzählung fanden, ein egoistischer, erbärmlicher Narr, ein blasirter Tyrann, ein parfümirtes Laster mit einem Wort.

Röschen Mensdorf, das kaum erwachsene Fabrikmädchen, reizte durch seine Schönheit den übersättigten Sultan, wir sahen, daß eigener Entschluß, der Entschluß durch seine Ergebung die Aeltern vom Hungertode zu retten, das Mädchen in Strobels Arme führte. Die Art und Weise dieser Ergebung machte Eindruck auf den feigen Fabriktyrannen, Röschen war eine außerordentliche Erscheinung für ihn und sein Interesse an ihr wuchs täglich, wir sahen das Mädchen gegen seinen Willen nach Paris entführt werden. Bei[66] dieser Entführung hatte Strobel keinen andern Zweck, als mittelst der Gesellschaft der jungen Dirne seinen grimmigsten Feind, die Langeweile, zu bekämpfen. Das gelang ihm, aber Röschens Gesellschaft hatte noch ganz andere Folgen für ihn.

Die junge Dirne besaß, wenn auch keine Kenntniß des Lebens und der Verhältnisse, so doch ein sehr tiefes und richtiges Gefühl, namentlich ein tiefgewurzeltes Rechtsgefühl; Röschen hatte nichts gelernt, aber sie hatte einen scharfen Verstand und ein gesundes Urtheil und besaß eine Energie des Willens und eine Großartigkeit der Gesinnung, die ihre Seele adelten und ihre innere Schönheit ihrer äußern gleichstellten. Röschen besaß also alle Eigenschaften, die der reiche Strobel nicht besaß. Nun schwatzte Strobel gern, wie alle Menschen, die zum Denken zu faul sind, anfänglich sprach Röschen mit ihm, weil sie sich dazu verpflichtet glaubte, denn nach ihrem beschränkten Rechtsgefühl hatte sie sich mit Leib und Seele an Strobel verkauft – er hatte ihre Aeltern dafür vom Hungertode gerettet – später sprach Röschen von selbst mit Strobel, weil er von den Fabrikarbeitern schwatzte und zwar lauter ungereimtes Zeug, was ihm der Buchhalter vorgelogen hatte. Nach und nach errang Röschen jene[67] Herrschaft über Strobel, die jeder stärkere Geist über den schwächern nothwendig erringen muß. Nach einem achttägigen Aufenthalt in Frankfurt hatte der bessere Einfluß der jungen Fabrikdirne den charakter- und gedankenlosen Strobel völlig unterjocht. Man sah, wie Strobel eigentlich nichts war, er war nichts als ein weicher Thon, den jede Menschenhand formen konnte, wie es ihr beliebte. Der Buchhalter hatte einen nichtswürdigen, feigen, wollüstigen Tyrannen aus Strobel gemacht, die junge Dirne formte ihn um zu einem Menschen, der nur das Gute wollte und es auch that, wenn man's ihm nur nicht zu sauer machte. Das ahnete Röschen instinctartig, ihr Geist fühlte, daß Strobel, was er jetzt war, nur durch sie geworden, sie erkannte die Charakterlosigkeit des reichen Mannes, sie wußte, daß bei ihr Strobels Wesen sich bessere, daß es sich verschlechtern müsse ohne sie.

Dieses Bewußtsein gab der jungen Dirne Selbstgefühl und flößte ihr diejenige Zuneigung zu Strobel ein, die jeder Schöpfer zu seinem Geschöpf hat.

Damals schon hatte sie ihn bewogen, mehrere Begünstigungen seinen Arbeitern zu Theil werden zu lassen, die dieselben aber nie erhielten, da der Buchhalter[68] nicht für gut befand, den Befehlen seines Herrn nachzukommen.

Strobel, der schon nichts mehr that, ohne Röschen zu fragen, reis'te aus Bequemlichkeit sehr langsam – er sollte glücklich werden, das Schicksal intervenirte zu seinem Gunsten, denn es konnte nur etwas aus ihm werden, so lange Röschen bei ihm war – kurz vor Mezières gingen die Pferde durch, der Postillon wurde abgeworfen, die Deichsel zerbrochen und die Rosse rissen den Wagen unaufhaltsam einem steilen Abgrunde zu.

Strobel stieß einen Angstschrei aus, aber er that nichts, das war erklärlich bei ihm; Röschen dagegen sprang mit Lebensgefahr aus dem Wagen, fiel den Pferden in die Zügel, wurde getreten, ein Stück geschleift, aber dennoch gelang es ihr, die wilden Thiere zum Stehen zu bringen; sie hatte Strobel das Leben gerettet und für solch einen Dienst ist ein reicher Mann stets dankbar.

Am andern Tage verlobte sich Strobel mit Röschen; das junge Mädchen entschloß sich dazu ohne jeden Nebengedanken, es hatte lediglich die Absicht Strobels guter Engel zu werden. Von Mezières aus schrieb[69] Strobel an den Buchhalter und beauftragte ihn mit dem Verkauf der Fabriken, denn – ein bezeichnender Zug – er schämte sich, seine Gemahlin in Deutschland zu präsentiren. Doch schickte er dem alten Mensdorf zweitausend Thaler und bat ihn um seine Einwilligung zur Heirath.

Daß er diese erhielt, wissen wir bereits, wir bemerken hier nur noch, daß Herr Strobel sich am Tage nach seiner Ankunft in Paris zu Laffitte begab, sich legitimirte und eine Cessionsurkunde seiner Güter abgab, ohne Umstände erhielt er 400,000 Thaler in französischen Papieren. Es war bereits Ordre zu deren Zahlung eingelaufen.

Am dritten Tage nachher wurden Monsieur Strobel, rentier allemand et Mademoiselle Rosa Mensdorf in der Pfarrkirche von St. Eustache nach katholischem Ritus getraut.

Am Tage vorher hatte der junge Graf St. Aignan, einer der ersten Lions der Capitale, eine geheime Unterredung mit dem spanischen Gesandten Don Martinez de la Rosa bei dem Minister des Innern, dem Grafen Tanneguy Duchâtel, in deren Folge sogleich ein Courier nach Bourges abgefertigt wurde.[70]

Am Abend vor der Vermählung des ehemaligen Fabriktyrannen mit der Fabriksclavin finden wir in einem beinahe kahlen, sehr geräumigen Salon im ersten Stock des Schlosses zu Bourges zwei Herren in eifrigem Gespräche. Es ist kalt in dem Salon, denn das Feuer im Kamin ist erloschen, es ist finster darin, denn kein Licht brennt, wir können die sprechenden Herren nicht deutlich sehen, aber wir erkennen an der kräftigen, sonoren Stimme des einen Redenden unsern alten Freund, den General Don Juan de Aurinia.

Die Herren müssen wichtige Dinge mit einander zu verhandeln haben, denn immer eifriger wird ihr Gespräch, immer heftiger ihre Gesticulationen – plötzlich öffnet sich die Thür am obern Ende des Salons, ein Lichtschimmer fällt herein und eine laute Stimme ruft: »Su magestad!« Sogleich treten die beiden Herren in das geöffnete, erhellte, aber auch ärmlich meublirte, Gemach und machen schon in der Thür drei tiefe Verbeugungen.

Da steht ein mittelgroßer, nicht unschöner, Mann, längst über die Blüthe des Lebens hinaus, dessen stolze, feste Züge gemildert werden durch den freundlichen Blick seiner schwarzen Augen. Dieser Mann in dem einfachen, blauen Uniformüberrock, hat einen Hut auf,[71] dessen Federbusch von einer Brillantagraffe gehalten wird, er trägt einen starken Knebelbart.

Als Don Juan in's Zimmer tritt nimmt er seinen Hut ab und streckt dem alten Edelmann die rechte Hand entgegen. Don Juan kniet nieder vor dem Mann und küßt die Hand, die ihm entgegengehalten wird; der Mann im blauen Ueberrock aber hebt den alten General auf und drückt ihn herzlich an seine Brust. Dann setzt er seinen Hut auf, was sogleich auch Don Juan thut und mit ihm drei bis vier Herren, die längs der Wand hin stehen. Mehrere andere aber bleiben unbedeckt.

»Willkommen Don Juan!« beginnt der Mann, dem Don Juan so große Ehrfurcht bewiesen, »willkommen, ich freue mich Dich zu sehen, alter Getreuer.«

»Es lebe der König!« antwortete Don Juan mit sichtbarer Bewegung.

»Viva el rey! viva Don Carlos Quinto! viva el rey absoluto! viva la santa religio!« riefen die Herren im Salon.

»Still, still, meine Treuen, daß die Wächter unsere Freude nicht stören!« sagte der König von Spanien und beiden Indien.[72]

Das ist der Mann im blauen Ueberrock, es ist Don Carlos V., der König von Spanien nach dem Rechte der Legitimität, der nach blutigen Kämpfen besiegte, von Rafael Maroto verrathene, von der constitutionellen Isabella verdrängte Don Carlos, gegenwärtig Gefangener des französischen Gouvernements zu Bourges.

»Don Juan, wie ist Dir's gegangen, mein Lieber?« fragte der vertriebene König leutselig seinen alten Diener; »Du kommst aus Amerika?«

»Majestät, ich komme aus Amerika und bringe Deiner Majestät die Segenswünsche von viel edeln Spaniern, von frommen Priestern, von tapfern Hidalgos und Caballeros, will Deine Majestät die Gnade haben und einen Blick auf dieses Blatt werfen, ich habe nur eine Stunde Zeit, man verfolgt mich bereits und im Interesse Deiner Majestät möchte ich jetzt nicht gefangen werden.«

»Armes Spanien!« rief Don Carlos schmerzlich, »Dein König darf nicht einmal seine alten Freunde bei sich sehen, ohne sie in die größte Gefahr zu stürzen.«

Unverhehlt drückte sich der größte Unwille, die tiefste Indignation, der ächte, stille, spanische Zorn auf den[73] stolzen, bronçirten Gesichtern der Granden aus, die um den König standen. Ein großer, starker Herr in geistlicher Kleidung erhob die Hände, als wolle er den Himmel auffordern endlich zu Gunsten des frommen Don Carlos, des wahren Sohnes der Kirche, einzuschreiten.

Don Carlos hatte das Papier entfaltet und las aufmerksam. Tiefes Schweigen herrschte in dem ärmlichen Gemach, welches das Gefängniß des Abkömmlings von so viel katholischen Königen war.

Don Carlos hatte zu Ende gelesen, er reichte das Blatt dem Prälaten und sprach eintönig: »Wir sind Dir dankbar, Don Juan, es erquickt unser Herz, daß wir Dich mit eben der Loyauté uns dienen sehn, mit der Deine Väter unsern Vätern, den katholischen Königen Hispaniens, dienten, wir können Dir indeß jetzt keine Antwort ertheilen, wir müssen uns über Deinen Plan mit unserer königlichen Gemahlin, so wie mit den heiligen Priestern berathen, die uns in diesen Tagen des Trübsals und der Prüfung treu zur Seite stehen mit den Tröstungen unserer allerheiligsten Mutter Kirche; überdem, treuer Don Juan, soll es Dir nicht verhalten bleiben, daß wir sehr geringe Hoffnungen haben, jemals den Thron unserer Väter wieder besteigen[74] zu können, daß wir die heilige Jungfrau täglich bitten, uns einen baldigen, seligen Tod zu senden, denn wir haben bereits unsere Zeit überdauert, wir begreifen sie nicht mehr und darum ist es gut, wenn das Schwert der katholischen Könige in eine Hand übergeht, die es kräftiger zu schwingen vermag, als unsere, die schwach geworden ist im Kerker. Wir bitten Dich darum, Don Juan, Du wollest Deine Kraft nunmehr dem Prinzen von Asturien, unserem geliebten Sohne, widmen und ihm ein treuer Rathgeber sein.«

Es klang eine schwermüthige Entsagung in der Stimme des unglücklichen Königssohns, er sprach ganz aus dem Herzen; der aus ihm sprach, der war der Don Carlos, der von Jugend auf stets bitter getäuscht wurde, von dem Tage an, wo ihn Buonaparte zu Bayonne gefangen nahm und ihn zu Valencay einsperrte, bis auf den heutigen, wo er, von Thron und Reich vertrieben, auf's Neue im Gefängniß die bittern Früchte französischer Gastfreundschaft genoß.

Eine ernste, beinahe feierliche Stille herrschte in dem kleinen Salon.

»Lebewohl, mein König, ich sehe Deine Majestät wieder!« sprach Don Juan, sein Knie beugend.[75]

»Die heilige Jungfrau segne Dich, Don Juan, schließe uns in Dein Gebet ein!« antwortete der König, seine Hand segnend über den knieenden Granden ausstreckend.

»Kommt, Sohn der Kirche, würdiger Don Juan, daß ich Euch führe!« flüsterte der Prälat und führte den alten Edelmann hinaus.[76]

Quelle:
Hesekiel, George: Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft, Teil 2, Altenburg 1846, S. 57-77.
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