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[98] New York, Januar 1900.


Lieber Freund, heute Nachmittag wollte ich die Frau unseres Konsuls besuchen. Ich fuhr mit der Hochbahn zu ihr, denn sie wohnt weit draussen, in einer der Strassen mit den ganz hohen Nummern, die mich immer an neuformierte, an den Grenzen aufgestellte Regimenter erinnern. Die Häuser sehen alle ganz gleich aus, man könnte jedes mit jedem verwechseln, und darin liegt wohl gerade das Militärische; sagte mir doch mal mit Begeisterung ein junger Verwandter, der seit ein paar Wochen Leutnant war: »Vollkommene Gleichmässigkeit ist das Ziel, Verwischung der Individualitäten die erste Aufgabe.«

Da ich die Frau Konsul nicht zu Hause traf, ging ich von dort aus noch etwas auf eigene Faust explorieren, was mir immer viel interessanter ist, als wenn ich von patriotischen New Yorkern herumgeführt werde, die erwarten, dass ich mich für irgendein turmartiges Haus begeistere, in dem eine Zeitung gedruckt, Korn verkauft, oder Geld gewechselt wird.

Ich ging noch durch einige allerletzte Strassen. Weiter hinaus sieht es sehr bald aus, als sei man im fernen Westen. Weite leere Grundstücke erstrecken sich dort mit den seltsamsten kleinen[98] Behausungen. Zelte, aus allen möglichen Fetzen zusammengeflickt, Löcher in die Erde gebuddelt wie Höhlen der Urzeitmenschen, daneben Hütten, die aus Latten, Kistendeckeln, verrostetem Wellblech und Stücken von Petroleumkasten zusammengezimmert sind. Eine ganze Bevölkerung mit unbestimmten Berufszweigen haust dort und treckt immer mehr hinaus, je weiter die Strassen mit den hohen Nummern vorgeschoben werden. Vielleicht prangt solch abenteuerliches Hüttchen auf der ersten Seite im Erinnerungsbilderbuch manch jetzigen Millionärs! Das wissen auch die Leute, die heute noch in den exzentrischen Quartieren äussersten Elends kampieren müssen, und deshalb ertragen sie alles leichter, weil sie es als ein Übergangsstadium ansehen und Beispiele vor Augen haben, dass man sich emporarbeiten kann. Das macht Armut in den neuen Ländern weniger drückend. Auch dem Ärmsten schwebt immer die Möglichkeit des finanziellen Marschallstabs vor. Darum kommen sie ja auch über das grosse Wasser, um die Hoffnungslosigkeit, die alte Resignation hinter sich zu lassen.

Heute war es aber unendlich melancholisch da draussen. Ein eisiger Wind wehte über das flache Land. Kältebeladen kam er aus der Richtung der grossen nordamerikanischen Seen angesaust, fegte alles vor sich her und pfiff unbarmherzig durch[99] alle Spalten und Ritzen in die merkwürdigen Armeleutewinkelchen hinein. Ob die Bewohner all der wackligen, klappernden Hüttchen wohl auch der Ansicht waren, dass dem geschorenen Lamm der Wind bemessen wird? Wenn man eine Sealskin-Jacke trägt, erscheint solch behaglicher Glaube immer unanfechtbar.

Bei meinem heutigen Spaziergang dachte ich viel an ähnliche in Peking verlebte Wintertage. Besonders eines Rittes musste ich gedenken, den wir jetzt vor einem Jahre dort gemacht. Da war es auch so kalt, wie heute hier. Der Wind kam von der sibirisch-mongolischen Ebene hergeweht, so eisig, als könne es nie wieder Frühling werden. Der Weg dehnte sich endlos an der grauen Stadtmauer entlang. Die Türme mit den verfallenen grünen Kacheldächern standen dräuend gegen den fahlen Winterhimmel. Stellenweise lag etwas hart gefrorener Schnee. Krähen flohen krächzend vor dem Wind.

Im hiesigen Winter habe ich des dortigen gedacht und ich sende Ihnen dies kleine Gedicht, das mir dabei in den Sinn kam:


An den hohen Mauern der Stadt

Ritten wir beide schweigend,

Sprachen nicht mehr, weil alles gesagt,

Horchten im Schnee auf das Schrei'n

Der schwarzen Vögel.[100]


Längst verliess ich dich, graue Stadt,

Wandre allein nun schweigend,

Habe keinem mein Leiden geklagt,

Nur in der einsamen Seele schrei'n

Die schwarzen Vögel.


Wie so oft in Peking, war mir an jenem Tage, als sei die ganze Welt erstarrt in Angst, als harre sie atemlos, Unbekanntem, Unheimlichem. – Stadt des Leidens, Stadt des Verhängnisses habe ich Peking oft genannt – und doch liebe ich die graue, düstre Stadt. Ich habe jetzt oftmals ganz deutlich die Empfindung, als gehöre ich ihr, als hielte sie mich für ewig, so fern ich ihr auch räumlich bin.

Ich fürchte, ich bin wie alle Leute geworden, die in Peking gelebt haben und es nachher nicht mehr lassen können, immerwährend darüber zu reden oder zu schreiben.

Das ist die Rache, die China an den weissen Menschen nimmt dafür, dass sie beinahe alle doch nur deshalb hingehen, um ihm ein Stückchen seines Bodens oder sonst irgend einen Vorteil und Besitz abzuringen-schliesslich sind sie es, die von China absorbiert werden.

Lassen Sie sich nicht zu sehr absorbieren, lieber Freund![101]

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 98-102.
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