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[17] Vancouver, August 1899.


Wir sind noch immer hier, ohne besonderen Grund. Aber es ist herbstlich kühl und schattig, und die kleine Ruhepause gibt uns die kurze Illusion, wie andere Menschen sesshafte Wesen zu sein.

In den meisten Strassen sind hier Alleen grüner Bäume gepflanzt, unter denen rotbäckige Kinder morgens zur Schule radeln. Überall sieht man Gärten voll später Rosen, Rittersporn und Astern; die Mauern sind mit Kapuzinerblumen bedeckt, und an den kleinen Kieswegen blühen Reihen von Georginen und Malven. Gärten in so nordischen Ländern wie hier haben mir immer etwas Rührendes; es ist, als wollten die Pflanzen in der kurzen Sommerzeit möglichst viel leisten, und die Blumen, die es so eilig haben, zu erblühen, mahnen, dass wir ja alle nicht wissen, wie kurz uns die Spanne Zeit bemessen sein mag, da für uns noch die Sonne scheint.

Inmitten der wohlgepflegten Gärtchen stehen kleine Landhäuser; sie alle sehen behaglich und behäbig aus. Bei ihrem Anblick denkt man unwillkürlich an jene Gattung englischer Romane, die junge Mädchen lesen dürfen, und in denen[17] alle Menschen täglich nicht nur drei tüchtige Mahlzeiten einnehmen, sondern auch noch gemütliche Nachmittagstees mit Kuchen und Sahne.

Die Leute, denen wir an diesem fichtenumwachsenen, bergumgebenen Hafen begegnen, sehen alle tüchtig und tätig aus; man merkt ihnen gleich an, dass es freie, kräftige Persönlichkeiten sind, die sich hier, unabhängig von obrigkeitlicher Hilfe, wie von Bevormundung, eine Heimat gegründet haben. Sie sind stolz auf das, was sie schon jetzt aus dieser entlegenen Bucht gemacht haben, und voll Zuversicht auf das, was die eigene, selbständige Expansions- und Betätigungskraft noch schaffen wird.

Wir sind hier weit von jenen künstlich gezüchteten Kanzlei-Kolonien, denen durch einen Geheimrat aus der Hauptstadt des Mutterlandes als wichtigste Grundlage eines beginnenden Gemeinwesens das Schema eines heimatlichen Grundbuches, sowie Polizeivorschriften für die Stunde des Lichtauslöschens und für das Maulkorbtragen der Hunde gesandt werden.

Maulkörbe trägt hier niemand.

Es wird auch wenig regiert. Die Gesetze, die sich allmählich als notwendig herausbilden, entspringen den örtlichen Bedürfnissen und Erfahrungen – sie werden nicht »ready made« importiert.[18]

Im Gegensatz zu so manchen anderen, beruhen die englischen Kolonien auf der einzig gesunden Grundlage, auf einem tüchtigen Mittelstand, der sich hier frei und ungehindert entfaltet. In den Ländern, wo die demokratische Partei in kurzsichtiger Opposition sich gegen koloniale Bewegungen stellt, beraubt sie sich selbst eines fruchtbaren Tätigkeitsfeldes, wo sie viel mehr Aussicht als daheim hätte, ihre politischen Ideale zu verwirklichen. Diejenigen Kolonien, die von oben herab geschaffen werden, erinnern mich immer an ein künstliches Homunculuschen in der Flasche, das mit chemischen Pillen gepäppelt wird und seine Nahrung nie an der Brust der grossen Volksmutter gesogen hat.

Ich entbehre es sehr, mich über diese und tausend andere Fragen nicht mehr mit Ihnen, lieber Freund, aussprechen zu können. Wer weiss, wann ich eine Antwort von Ihnen erhalten werde, denn in Ihrem Briefe, den ich hier vorfand, schreiben Sie ja, dass Sie nächstens wieder eine grosse Reise in das Innere Chinas unternehmen müssten. All meine Briefe werden Sie wohl lange erwarten und Sie erst nach Ihrer Rückkehr erreichen. Könnte ich den kleinen weissen Bogen doch Flügel geben, um Ihnen wie Brieftauben auf Ihrer Expedition nachzufliegen – dann fänden Sie jeden Abend, wenn[19] Sie müde in einem elenden chinesischen Gasthause oder einem mongolischen Zeltlager anlangen, solch einen Boten von mir vor, der Ihnen erzählte, wie viel ich an Sie denke und wie sehr ich wünsche, dass Sie nicht mehr in die Wildnis zu ziehen brauchten, weil ich mich dann immer so sehr um Sie sorge.

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Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 17-20.
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