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[243] Bay View, 19. Juli 1900.


Wenn mein Bruder nachmittags aus New York zurückkehrt, gehe ich ihm immer entgegen, jedesmal von neuem hoffend, dass er endlich Kunde des[243] Wunders bringen wird. Aber jedesmal schüttelt er schon von weitem den Kopf – keine Nachricht, noch immer keine. Dann fragt er mich, womit ich den Tag verbracht, und wenn ich ihm die stets gleiche Antwort gebe, dass ich Ihnen, liebster Freund, geschrieben habe, sagt er kein Wort, aber ich lese ihm den Gedanken von der Stirn »Wozu noch?« Er spricht ihn jedoch nie aus und lässt mich ruhig gewähren – wie eine hoffnungslos Kranke, die uns jammert und der man so gern ein paar Stunden des Wahnes gönnt. Muss ich nicht jeden jammern? ich und die Vielen, die sich seit Wochen grämen wie ich? Wie ich? Mir ist, als könnte sich kein zweiter Mensch so in Angst verzehren, als sei dies Leid nur einmal möglich in der weiten leidvollen Welt.

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Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 243-244.
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Der Tag anderer. Von der Verfasserin der, Briefe, die ihn nicht erreichten