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[248] Bay View, 10. August 1900.


Manchmal ist mir, als hörte ich ganz deutlich Ihre Stimme. – Dann geht ein Zittern durch mich, der Atem stockt, die Herzschläge fliegen, und ich schliesse die Augen und lausche in namenlosem Glück.[248]

Bald, bald muss es ja sein. Zuerst werde ich gar nicht auf die Worte achten können und nur immer den lieben Klang trinken. Wie lang ist es doch schon her! Wissen Sie es noch? Haben Sie sich auch so unsagbar, so unaussprechlich gesehnt? So wie ich gesehnt?

Aber in wenigen Tagen muss ja die furchtbare Angst und Trennungszeit vorüber sein. Bald, bald müssen die Befreier vor Peking stehen.

Nicht wahr, liebster Freund, dann kommen Sie auch gleich, gleich! auf dem schnellsten Schiff, auf dem kürzesten Weg – ich kann es ja nicht länger ertragen.

Was liegt Ihnen noch an alten chinesischen Handschriften? Mögen die doch alle untergehen! Ich gebe Ihnen dafür mein ganzes Herz, darin zu lesen, und was in ihm steht, ist auch schon alt, ist nicht schwer zu enträtseln und dünkt mich eine so jugendschöne Entdeckung.

Was kümmert Sie noch China? Mag doch der Norden mit Wutki und der Süden mit Ale verzehrt werden, mögen sich die jüngeren Hungernden auch noch jeder seinen kleinen Imbiss zusammenstehlen, aus den Krümeln, die von den Mahlzeiten der älteren, erfahrenen Weltenräuber abfallen – oder mag es zu gar keinem Muspili kommen, sondern alles hübsch im Sande verlaufen, wie man es hier[249] möchte, wo der Wunsch to be well out of it schon laut wird – mag man in ein paar Monaten schon wieder von den unerschütterlichen alten Freundschaftstraditionen reden und der alten Kaiserin die Hand schütteln – was kümmert es uns?

Kommen Sie nur bald, bald von dort zu mir. Dann mag es meinethalben China für die Chinesen heissen – wenn nur China mir Sie zurückgibt, wenn nur wir beide für einander sein können!

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Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 248-250.
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Der Tag anderer. Von der Verfasserin der, Briefe, die ihn nicht erreichten