Nachwort

[265] Meine Schwester, die die vorstehenden Briefe geschrieben, unser Freund, der sie empfangen sollte, ruhen nun beide. Sie hier am Strande des Atlantischen Ozeans, er in der fernen chinesischen Erde.

Als wir im Mai 1900 von Berlin zurückgekehrt waren, wo mein seit Jahren rettungslos geisteskranker Schwager gestorben war, hatte ich gehofft, dass das Leben meiner Schwester nun vielleicht doch noch nach dem schweren, drückenden Tag einen versöhnenden Abend bringen könne. Es schien mir, als lebe sie auf, sich selbst dessen kaum bewusst. Aber während der entsetzlichen Wochen, in denen die ganze Welt über das Schicksal der in Peking Eingeschlossenen in qualvoller Ungewissheit bangte, verzehrte sie sich in Angst um unsern Freund; und als dann die Nachricht seines Todes eintraf, nachdem wir schon alles für gerettet und[265] gewonnen gehalten hatten, erlosch ihr Leben nach wenigen Tagen.

Ich bin dann später nach China gereist. In Peking wurden mir die Briefe meiner Schwester ausgehändigt. Unser Freund hat sie nicht mehr erhalten. Er hatte sich seine ganze Korrespondenz nach Schanghai adressieren lassen; denn seiner ursprünglichen Absicht nach wollte er nach seiner weiten Forschungsreise dorthin kommen, um von diesem Hafen aus dann die Heimreise anzutreten. Unterwegs aber änderte er seine Route und beschloss, nach Peking zurückzukehren, wo er unmittelbar vor Beginn der Gesandtschafts-Belagerung eintraf. Er erwartete dort all seine Briefe zu finden, die er sich unterwegs telegraphisch von Schanghai nach Peking bestellt hatte; aber der Bote, den er mit diesem Telegramm vom Innern Chinas aus nach der nächsten viele Tagereisen entfernten Telegraphenstation gesandt hatte, muss wohl in den schon damals herrschenden Unruhen sein Ziel nicht erreicht haben. Sicher ist, dass sein Telegramm nie in Schanghai angekommen ist und in Peking keine Briefschaften für ihn lagen. Er meldete sich gleich als Freiwilliger und ward in der Verteidigung des Suwangfu verwandt, wo die dreitausend geflüchteten chinesischen Christen ein Unterkommen gefunden hatten. Seine Kenntnis des Chinesischen[266] und der Einfluss, den er immer auf die Eingeborenen zu gewinnen wusste, liessen ihn dort besonders nützlich erscheinen. Viel ist mir von seiner Ruhe und völligen Unerschrockenheit erzählt worden aus jenen Wochen, in denen die Menschen Gelegenheit fanden, ihren Wert zu zeigen.

Er ist ein Opfer der letzten Stunde geworden.

Am 13. August, als die Belagerten schon bestimmte Nachricht von dem Herannahen der Entsatztruppen unter den Generalen Gaselee und Fukushima hatten, machten die Chinesen noch einen besonders starken Angriff, als hofften sie, doch noch Herr der kleinen Schar zu werden, die ihnen während sieben Wochen widerstanden hatte. Von früh bis spät pfiffen die Kugeln und kamen wie Hagel über die Barrikaden geflogen. Am heftigsten soll der Angriff gegen das Suwangfu gewesen sein. Am Nachmittag ward dort einer der Chinesen verwundet, die Oberst Shiba zu einer Wachttruppe ausgebildet hatte. Unser Freund sprang vor, um den Verwundeten aus dem Bereich der Kugeln zu tragen, aber im selben Augenblick stürzte er selbst tödlich getroffen nieder.

Am Abend begrub man ihn.

Am nächsten Tage rückten die Entsatztruppen ein.

Monate verstrichen dann, bis ich nach Peking[267] kam. Alles dort mahnte mich an ihn und an sie, obschon es doch ein ganz anderes Peking war, das ich wiederfand, und das alte, in dem die Beiden gelebt, für immer verschwunden ist. In der verwüsteten Stadt bin ich lang herumgeirrt und habe in all der Zerstörung nach Erinnerungen und Bildern aus der Vergangenheit gesucht. Aber wo einst die verwitterte Steinschildkröte stand und die Wistaria blühte, lag ein einziger Schutt- und Trümmerhaufen, kaum dass man den Platz unseres Häuschens noch bestimmen konnte. Wie eine ungeheure Last senkte sich die Trauer um unwiderruflich Verlorenes auf mich herab.

Keine Spur von ihm oder ihr.

Als sei es alles nie gewesen.

Abends sass ich dann lange sinnend vor den ausgebreiteten Briefen meiner Schwester. Zuerst dachte ich daran, sie zu verbrennen. Etwas Rauch, der zum Kamin hinaufsteigt und sich im Raum verliert, ein paar wehe Gedanken bei einigen Zurückbleibenden, die selbst auch bald dahin sein werden – und dann ist eines Menschen Spur verwischt. Aber ich vermochte es nicht. Das Letzte, was von jenen Beiden geblieben, sind diese Briefe, und als ich in ihnen blätterte, empfand ich so recht, wie sehr sie das wahre Leben meiner Schwester enthalten und ein Stück von ihr sind, die mir so[268] lieb gewesen. Während ich dann weiter las, fühlte ich, wie Zeiten, die entschwunden sind, noch einmal vor mir vorüberzogen; ich fühlte auch, wie sie, die von mir gegangen ist, wieder vor mir erstand und mit ihr die Erinnerung an die Wanderjahre, die wir beide zusammen verlebt haben.

Ich vermochte nicht die Briefe zu vernichten. Es wäre mir gewesen, als würde damit das Leben meiner Schwester noch einmal grausam zerstört.

Ich habe lange gezaudert. Doch schliesslich entschloss ich mich, zur Erinnerung an jene Beiden diese Briefe, die ihn nicht erreichten, herauszugeben. Vielleicht bringen sie dem einen oder dem andern, der die Beiden im alten Peking einst gekannt hat, einen Gruss. Vielleicht erreichen sie auch andere, einsame Menschen, die noch auf der grossen Lebensfahrt begriffen sind und gern einen Augenblick am Wege rasten, um auf die Stimmen derer, die vor ihnen gegangen sind, zu lauschen, wie sie leise aus der Vergangenheit klingen.


New York 1902.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 265-269.
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