6.

[444] Willst du noch ein Liebeslied singen, meine Seele,

Ob auch längst die Jugend schied, müd' und rauh die Kehle?

Süßer wohl und heller klang's in den Rosentagen,

Als noch rings im Lenzgebiet mitsang Philomele,

Als des Baches Murmeln nur und des Waldes Rauschen

Mich geheimnisvoll beriet, wie das Wort ich wähle.

Jetzt im Lebenswinter ach, muß ich wohl erkennen,

Wenn es zum Gesang mich zieht, daß das Beste fehle.

Statt, was mir im Herzen lebt, mühlos auszuströmen,

Wie die Thrän' entquillt dem Lid, reim' ich jetzt Ghasele.

Doch den Eisesblumen gleich, die vom warmen Hauche

Man erblühn am Fenster sieht, zierlich sonder Fehle,

Ist auch dieser Winterflor warmer Brust entsprossen –

Singe nur dein Liebeslied, sing es, meine Seele!

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 444-445.
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