1.

[189] Wie hast du nur hinweg dich stehlen können

Aus dieser Lichtwelt, ohne – böses Kind! –

Mir einen Scheideliebesblick zu gönnen!

Hast, da ich arglos ferne war, geschwind

Dich fortgeschlichen, ohn' ade zu sagen,

Und ich, in Tränen, suche nun mich blind!

Sonst, wenn du frühe schon an Sommertagen

Spazieren gingst und ließest dich hinab

Die Treppe nur bis in den Garten tragen,

Da klopftest du, bis ich dir Einlaß gab,

Und botst das Mäulchen mir, bewegtest winkend

Schalkhaft das kleine Händchen auf und ab.

Und ich, von deinen Lippen Freude trinkend,

Zog dich ans Herz und gab dich zögernd frei,

Mich aller Väter glücklichsten bedünkend.

Nun brachst du scheidend mir das Herz entzwei.

Ich durfte nicht dir von den Lippen küssen

Den letzten Seufzer, ach, den letzten Schrei.

Warst du so klug, mein Liebling, um zu wissen,

Daß dieser Abschied, dieser jammervolle,

Mein Leben hätte mit hinweggerissen?

Das Graun, daß ich dahin dich geben solle

Dem Reich der Nacht, mich hätte selbst verleitet,

Dir nachzuschleichen unter deine Scholle?

O Kind, du hast das Schlimmre mir bereitet,

Daß des versäumten Abschieds mahnend Bild

Auf Schritt und Tritt gespenstisch mich begleitet;

Daß mir nun ist, als könn' ich ins Gefild

Des Lebens keinen festen Schritt mehr tun,

Eh' ich den letzten bangen Wunsch gestillt.[189]

Und wenn ein wenig kaum die Schmerzen ruhn

Und Lebenshoffnung sich hervor will wagen,

Bebt plötzlich mir das Herz, als sollte nun

Mein Kind erst kommen, gute Nacht! zu sagen.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 189-190.
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