An den geneigten Leser

und an den ungeneigten Kunstrichter.

[84] Dieß Gespräch ist über Bausch und Bogen, wie mir alles war, was bei meiner Ankunft in – –, dem Hause des Herrn v. G., vorfiel.

Mein Vater betete weniger, als er vom Gebet sprach, und es gefiel mir seine Anmerkung, die er zu einer Zeit machte, daß vom Gebet reden auf gewisse Weise beten heißen könne. – Wenn diese Anmerkung richtig ist, so wird man fast behaupten können, es wär' ohn' Unterlaß in dieser Geschichte gebetet worden. – Dieses Gespräch hätt', ich gesteh' es, überschlagen werden können, ich wollt' indessen ehrlich bei dieser Sache verfahren, und so wie in der ganzen Schrift verfahren ist. Des ungeneigten Kunstrichters wegen (der geneigte Leser wird es so genau nicht nehmen) muß ich anführen, daß dieses alles und jedes nach der Tafel an dem Tage vorgefallen, da wir nach – zum Herrn v. G. kamen, und zwischen Herrn v. G. und meinem Vater eine Koppelweide brüderlich verabredet ward, und da dieser Vergleich mit einem ächten Glas Wein aus einem Schäuer begossen ward, und wo ich, quod bene notandum, alles über Bausch und Bogen sah und hörte, wovon der Schluß dieses Gespräches einen hinreichenden Beweis zu geben im Stande ist.

Dieß ist also das Datum

zum Gebetsgespräch,

zur Frage wohin?

Zur Antwort: Königsberg vorderhand – der Pietisterei des Codicis Fridericiani und der Instruktion unerachtet,

Königsberg vorderhand.[84]

Göttingen nachderhand.

Dieß nachderhand aber sag' ich meinen Lesern ins Ohr, wie ich es mit mancher Nachricht aus gutem Herzen gemacht habe.

Herr v. G. wollte nicht, daß wir den andern Tag zeitig unsere Reise antreten sollten.

Große Reisen, sagt' er, immer nach Mittage. Tagereisen fangen des Morgens an. Er war sehr kurz in den Ermahnungen an seinen Herrn Sohn.

Er rieth ihm nach Anleitung meines Vaters an, lebendige Thiere zu halten. Sein theurer Herr Sohn hatte schon, wegen des Satans, den er gern mitgenommen hätte, eine abschlägige Antwort erhalten, und war also seine etwas störrische Frage sehr natürlich:

Was für Thiere?

Der junge Herr v. G. hielt den Hund für ein Compendium aller nützlichen Thiere, für ein lebendiges Thier κατ᾽ ἐξοχὴν.

Noch eine andere Bemerkung, eh' ich die Antwort auf die störrische Frage: was für Thiere? mittheile. Es hatte der gute Herr v. G. der ältere viele Hühner. Aus seinem geschmackreich gebauten Hühnerhäuslein und der Weise des Herrn v. G., sie selbst zu füttern, hätte man schließen sollen, daß er das alte Wahrsagerprincipium angenommen, und daß er aus der Begierde, womit die Hühner fraßen, so, daß die Körner auf dem Boden herum tanzten, Glück oder Unglück sagen könnte.

Hühner, antwortete der Herr v. G. seinem Sohne. Alles, was Odem und Leben hat, zieht an, fing ich an. Die Sympathie hat im Odem ihren Hauptsitz. – Im Odem ist Leben und Tod.

Der Herr v. G. der ältere löste mich ab und wandte sich zu seinem Sohne.

Du wirst bei deinen Hühnern bleiben, wenn du dir Hühner anschaffst und meinen Rath befolgst, du wirst mancher Gesellschaft[85] eine abschlägige Antwort geben. Der Satan hätte dich zur Jagd verführt, ob er gleich auch Odem hat und mit dir sympathisirt; – auf der Akademie keine Jagdhunde!

In Polen halten sich einige Familien ein Paar, um die Teller zur zweiten, dritten und vierten Schüssel stehenden Fußes rein lecken zu lassen. – Das wirst du nicht nöthig haben. Die Reinlichkeit hat man überall umsonst.

Hast du Hühner und Tauben, fuhr er fort, und hat der Wirth ein Gärtchen beim Hause, verdopple die Miethe. – Jeder Mensch muß einen Zeitpunkt in seinem Leben haben, wo er zu Hause bleibt. Laß dir den Vorfall mit deiner Braut, der lieben Kleinen, zur Lehre dienen – und thue der Jagd einen Possen und schieß' und hetz' in drei Jahren nicht. – Conversation ist dem Studiren und selbst der Lectüre spinnefeind. – Vergeßt nicht (sein Blick traf uns beide), daß ihr aus einem freien Lande seyd. – Die Monarchie hat viel Verführerisches; allein sie versäuert das Herz, sie nimmt Seele und Gewissen in Beschlag. – Ein Monarch! ja, was so ein Herr nicht alles thut! Wunder über Wunder! – Es ist aber auch darnach. – Das leichteste Stückchen Brod ist es, das Gott gibt. Sie säen nicht, sie ernten nicht, wie die Lilien auf dem Felde, und Gott nährt sie doch. – Der Pastor, Ihr Vater (Herr v. G. der ältere wandte sich zu mir), der mich ehegestern beten gelehrt, wird mich nie, nie dahin bringen, in dieser Rücksicht etwas anderes zu beten, als daß Gott der Herr Curland womöglich noch unabhängiger mache, als es jetzt, Gott sey Lob und Preis, schon ist! – Je unabhängiger, desto mehr Gott ähnlicher. Ich hab' einen Franzosen gekannt, der von Curland sagte, das elendeste Land, das ich kenne! Man kann im Sommer nicht seinen Winterrock versetzen. Das Wetter wechselt wunderlich. – Du guter Schlucker! Ich will dir dein Land und deinen allerchristlichsten König lassen. – Gott ehre mir mein schlecht und rechtes Haus,[86] wo manche priesterliche Schwalbe nistet. – Du sollst so viel Freiheit haben, wie ich gutes Ding, wohlehrwürdiger Vogel! Seht nur, Kinder! wie die mich da eben ansieht! ich kann den Schwalben nichts nachsagen, und außer dem Umstande, daß sie den Todtengräber Tobias blind gemacht – weiß ich nichts Böses von ihnen!

Preußen hat einen geborenen König, dem man nicht X vor U machen kann, der königliche Gaben hat; allein roth, blau und grün machen schwarz, kohlschwarz. – Gern hätt' ich den Herrn v. G. gebeten, mir dieses Räthsel zu lösen, allein er hielt inne.

Nach einer Weile fuhr er fort: Der Staat, dem ihr zueilt, hat – ich gesteh' es, einen Philosophen und einen König zum Beherrscher. Er hört jeden, er sieht jeden, er hilft, so weit seine lange Königshand es kann – jeden! und es ist mir ordentlich bange, daß er euch die Monarchie in einem zu vortheilhaften Lichte zeigen werde. – Prüfet alles, und das Gute behaltet. Eine Schwalbe macht keinen Sommer!

Die Monarchen sollten nur angeloben, zu hören, physisch zu hören; allein thun sie es? Sie messen ihre Superiorität nicht mit ihren allerunterthänigsten treugehorsamsten Knechten, sondern mit andern Monarchen, und da mag der Teufel Unterthan seyn. Sie haben keinem Rechenschaft zu geben, als dem lieben Gott in der andern Welt und den Poeten und Geschichtschreibern in dieser. – Die letzten haben nicht aufs Recht geschworen und nehmen Geschenke an, und mit dem lieben Gott hat's Zeit genug, daß sie ihm im Titel den Rang lassen! Kommt Zeit, kommt Rath!

Der Herr v. G. der ältere hielt diese Anrede mit einer unaussprechlichen Wärme. Er schien im Ernst zu fürchten, wir würden uns in Preußen werben lassen und Königische werden.

Noch muß ich bemerken, daß er sich während der Zeit, da er Curland pries, aufs grüne Gras geworfen hatte, als wenn er der freien Erde seinen Dank ablegen und sie umarmen, umfassen wollte.[87] – Es schien, da er geendigt hatte, als besorgt' er, nicht aufstehen zu können.

Dieß bewog den alten Herrn, ihm unter den Arm zu greifen; allein Herr Hermann kam beim Herrn v. G. jederzeit zu kurz, er mocht' es anlegen, wie er's wollte. Es riß Herr v. G. den allezeit dienstfertigen Hermann auf Gottes Erdboden. Da lag mein Schwiegervater so lang er war. Herr v. G. stand auf, so frisch, als ein Jüngling von fünfzehn Jahren. – Es war bei diesem Niederriß nicht Gewaltthätigkeit, sondern nur Stärke. – Es war schön anzusehen!

Den Abschied durchaus im Freien! Er verfliegt eher, sagte Herr v. G. Es ward auch im Freien Abschied genommen. Wollte Gott, fuhr Herr v. G. fort, wir könnten auch so den letzten Abschied nehmen und im Freien sterben! Und warum sollten wir es nicht? Wo ist uns am meisten Gutes geschehen? Der Geist sucht das Freie und wird dort nicht wohnen in einem Hause mit Menschenhänden gemacht. Der Tod würde nur halb so schwer seyn. Wahrlich, der Mensch entzieht sich zu sehr Luft und zieht eben dadurch Leib und Seele eine Art von Stockung zu. Ward unser Geist denn nicht, wenn er das Freie sucht, schon entzückt, obgleich ihn der Leib wie ein Bleigewicht zur Erde zog?

Die Frau v. G. hatte noch viel auf ihrem Herzen, indessen empfahl sie ihrem Sohne, das Alter zu ehren, und es macht' ihr viele Mühe, die Sache endlich zu drehen, wohin sie sie wollte. Sie sagte, daß sie für einen alten Baum, für einen alten Mann (an eine alte Frau dachte sie nicht) und für eine alte Familie große Hochachtung hätte.

Also auch für eine alte Familie? Ein neuer Edelmann, setzte sie, um es noch eindrücklicher zu machen, hinzu, ist ein Baum, der noch nicht die Blattern gehabt, der noch nicht oculirt ist. – Weiter ließ sie ihr Gemahl nicht; das paßt, sagt' er, wie[88] die Faust auf's Auge, und in Wahrheit, du weißt nicht, wer Koch oder Kellner ist.

Von der Frau v. W. wieder einen Blick – von ihrer liebenswürdigen Tochter ein Lächeln. Leben Sie wohl und glücklich! sagte die Frau v. W. – und glücklich! hallte die liebe Kleine nach. – Die Worte fielen auf den jungen Herrn v. G., allein das Auge auf mich.

Ich weiß nicht, wer auf den Gedanken kam, daß mein Reisegefährte seiner kleinen Braut einen Kuß geben sollte. Ihrem Retter auch einen, sagte Herr v. G. und die Frau v. W., als wenn sie darauf gewartet hätte; freilich, kleine Undankbare, das solltest du von selbst thun. – Ich nahm mich sehr ungeschickt dabei. Die arme Kleine ward roth über roth – und da ich mich zum letztenmal gegen sie beugte, trat ihr eine Thräne in ihr blaues schönes Auge, welches so durchschimmerte, wie ein Veilchen durch ein Thautröpfchen. – Gott segne die gute Frau v. W. und ihre Tochter, dachte ich, und den Herrn v. G., der mir zum Kuß verhalf und zu der schönen Thräne!

Jetzt war die Reihe an dem Herrn v. W. und dem Herrn Hermann. Ich hatte schon einigemal mich an den Herrn v. W. gewendet, allein er hatte es sehr höflich verbeten, weil es – wie er sich auszudrücken gefälligst beliebte –


noch nicht an ihm wäre.


Er umarmte meinen Reisegefährten und that mir, wiewohl mit steifem Arm, eine gleiche Ehre an. – Hiebei machte er (weil es eine Abschiedsumarmung war) ein griesgrämisches Gesicht.

Bei meiner Umarmung weniger, bei des jungen Herrn v. G. mehr.

Der Herr v. G. der ältere sagte: Herr Bruder, du siehst ja aus, als ob du vom verbotenen Baum gegessen hättest![89]

Laß mich, sagte er, und that so peinlich, als verlöre er ein Glied vom Finger.

Es ist, fing er an, es ist – er unterbrach sich wieder mit einem tiefen Seufzer!

Es ist mein Herr Schwiegersohn, brach er endlich heraus, und die heißesten Wünsche, daß der große Gott ihn auf seinen Reisen begleiten, seine Studien zu seiner Ehre und des Vaterlandes Nutzen segnen und ihn zu seiner Zeit in die Arme seiner kleinen Braut gesund zurückbringen wolle! – Das, das ist ein Theil, der kleinste, von der Empfindung.

Zieh ein Paar weiße Handschuhe auf, sagte Herr v. G., solch eine Rede verdient es; deine Briefe sind alle auf Postpapier mit vergoldetem Schnitt und –

Dieser Eingriff war sehr erwünscht, um den Herrn v. W., der viel zu leiden schien, zurechtzubringen. Ich bin ein Diener der deutschen Sprache, sagte er, Herr Bruder! allein ein gewisses je ne sais quoi suche ich in Gedanken, Geberden, Worten und Werken.

Das ist auf deutsch, du suchst nichts, rein nichts, erwiederte der brave Herr v. G.

Mir konnte Herr v. W. nichts mehr sagen, als Dank! und tausend Dank! – Sein Compliment war noch nicht ausgeknetet.

Du hast mich gestört, sagte er zum Herrn v. G., wie ehegestern die Waldhörner. – Das wundert mich, fiel Herr v. G. ein, du fährst ja sonst immer mit fünf Rädern; auf allen Fall eins aufgebunden – du hättest ja das fünfte abbinden können.

Der alte Herr drängte sich vor, um mich vor aller Augen zu küssen. Ich that es, dieser Schwachheit unerachtet, doch, und – das ganz ehrlich, ich entzog ihm nichts.

Grüßen Sie, sagte ich ihm –

Ich werde, erwiederte er.

[90] Ich. Tausendmal –

Er. Tausendmal.

Dieser Gruß gehörte nicht Vater, nicht Mutter, sondern bloß Minen, bloß ihr, alle tausend ihr, alle ihr. – Mir kam es vor, daß der alte Herr es fühlte, wem es galt, und für dieses Gefühl drückte ich ihm die Hand, und er schien überaus mit mir zufrieden zu seyn; ich sagte ihm ganz leise: tausendmal, tausendmal!

Herr v. G. sah mich an, und sein Blick wollte in Beziehung auf meinen herzlichen Abschied vom alten Herrn sagen: Junger Mensch, dir fehlt Erfahrung! Man sieht's; sonst würdest du den Hermann so nicht herzen und küssen, den ich nur eben körperlich zur Erde riß; mit seiner Seele mache ichs alle Augenblicke so. Der gute Herr v. G. irrte dießmal mit dieser Geberde. – Zwar hatte er, wie meine Leser so gut wissen als ich, einen naturfindenden umfassenden Blick, daß er aus diesem Abschiede hätte wissen können und sollen, Hermann habe eine Tochter, deren Freund, deren Seelenmann ich sey – allein dießmal fand er nicht den rechten Weg.

Die Frau v. G. konnte sich nicht des Lachens erwehren, da sie meinen Feldkessel, den mir mein Vater mitgeben lassen und den meine Mutter nicht zu kennen die Ehre hatte (sonst wäre er gewiß nicht mitgekommen), aufbinden sah. – Der junge Herr v. G. hatte alles nach Jagdmanier, als ob er auf eine weite Jagd sich begeben sollte, obgleich der Herr v. G. der ältere den Satan seinem Sohn abgeschlagen und ihn versichert hatte, »daß jeder Mensch einen Zeitpunkt in seinem Leben haben müßte, wo er zu Hause bleibt,« obgleich er ihm die Jagd wohlmeinend widerrathen und ihm Hühner empfohlen, um nach der Meinung meines Vaters etwas, was Odem hat, um und neben sich zu haben.

Obgleich – so war doch der Sohn wie ein Jäger ausstaffirt.[91]

Der gute Herr v. G. der ältere that dieß in seiner Unschuld. Seht da einen Originalzug von Curland, dem Herr v. G. der ältere nicht ausweichen wollte und konnte. – Die grüne Farbe ist Trumpf.

Herr v. W. schlug eine Begleitung aus Höflichkeit vor, allein Herr v. G. verbat sie nachdrücklich. – Es blieb alles so lange stehen, als man uns sehen konnte, und da wollte ich wetten, Herr v. W. noch ein wenig länger.

Sobald wir ihrem Nachblick entfahren waren, küßte mich mein Reisegefährte von freien Stücken herzlich. – Wir wollen uns einander alles seyn – Vater und Mutter, sagte er – ich seufzte, denn ich dachte an Minchen.

Wir langten in der Haupt- und Residenzstadt Mitau an, um hier mit einem Königsbergschen Fuhrmann (man nennt dergleichen Leute Riga'sche Fuhrleute) die Fahrt bis Königsberg zu verabreden. – Ich fand in dem Fuhrmann und seinem Untergebenen ein Paar so gesunde und starke Menschen, daß ich wohl einsah, wie man auch im monarchischen Staat, der Ermahnung des Herrn v. G. auf dem curischen Grase unerachtet, seinen stattlichen Schritt haben, gerade aussehen und sich wohlbefinden könne. – Ich konnte nicht aufhören, diese Menschen zu fragen und sie anzusehen, so daß ich die Haupt- und Residenzstadt Mitau darüber vergaß, die am Ende auch nur zur Johanniszeit unter die sichtbaren gehört, und gewiß unter den sichtbaren nicht die vornehmste ist. Um Johanni ist eine allgemeine Wallfahrt nach Mitau; dann läßt der Edelmann, in Begleitung eines Theils Bauern, die Eßwaaren und sogar Möbeln an diesen Johannisort nachbringen. Dem Vorreiter ist auf dem linken Arm ein Silberblech aufgenäht, worauf das hochadliche Wappen steht, um Mitau Ehre zu machen.

Ich hatte mir, die Wahrheit zu sagen, einen zu großen Begriff von Mitau gemacht, woran meine Mutter zum größten Theil[92] Schuld war. Dieß bitte ich zu den preußischen Leuten hinzuzurechnen, um das unbeträchtliche Interesse herauszubringen, das ich an Mitau nahm. – Das vom Herzoge Ernst Johann angelegte Schloß, wozu 1738 den vierzehnten Junius der Grundstein gelegt worden, und welches an der Stelle des alten verwüsteten, seit 1269 gestandenen, errichtet worden, stand da zum glänzenden Beweise, daß Plan und Ausführung, Verlobung und Hochzeit, zweierlei sind. Diese Betrachtungen führten mich zu Minen, und was führte mich nicht alles zu ihr?

Meine Mutter würde es mir sehr verdacht haben, daß das anschauende Erkenntniß meinen Begriff von Mitau so sehr herabgestimmt. Wohnet denn, würde ohne Integralrechnung ihre Bemerkung gewesen seyn, wohnet denn nicht der Herr Superintendent hier?

Mein Reisegefährte war im Mittelpunkt und konnte nicht aufhören zu sehen. Mitau schien ihm


Terrarum Dea gentiumque Roma,

Cui par est nihil et nihil secundum.


Die Hauptstadt der Welt! – obgleich es nicht Johanni war. Die Residenz ist für jeden Edelmann das Treibhaus im kalten Klima. So wie's Arzeneien gibt, die nur durch das heilige himmlische Feuer der Sonne gekocht, gebleicht und getrocknet werden können, so ist auch die Residenz die Insolation in Absicht des Edelmannes. Mein Reisegefährte empfand alle Nepos wollas, die er in seinem Leben geben würde, und Adam hätte nicht auf die Schwangerschaft von allen Seelen, die in ihm lagen, so stolz seyn können, wenn man ihre Fortpflanzung per traducem sich träumet, wie Herr v. G. auf alle Nepos wollas, als die Insignien eines Edelmannes in Polen und Curland. Was ist denn, fing ich an, in Mitau? Man muß es zu Johanni sehen! erwiederte er. Dann ist's illuminirt, erwiederte ich, und wann die Lichter ausgebrannt[93] sind, was ist's dann? Kennst du ein Johanniswürmchen? fragte ich zur Wiedervergeltung; ich will es dir präsentiren. Es ist ein Würmchen, grünlicht auf dem Bauch. – Hier hat es auch ein kleines Bläschen, welches einen grünlichen hellen Glanz wirft; sobald dieß Bläschen sich einzieht – weg ist ihr Glanz. Die Existenz dieses Würmchens währt nur einige Sommernächte. – Mein Reisegefährte lachte – ich mochte nun denken, daß der Superintendent in Mitau sey oder nicht, so war es mir doch so, als ob ich nicht in Curland, sondern da zu Hause gehöre, wo man früher Spargel ißt, eine Pfeife in der freien Luft raucht, den Wein bei der Quelle hat und lange Manschetten trägt. Kein Wunder also, daß Mitau nicht meine Residenz war. In Curland gehörte ich in unserm Pastorat und auf dem Gute des Herrn v. G. zu Hause. Ueberhaupt scheinen die Curländer zu keiner Stadt Lust und Liebe zu haben. Sie gehören auf's Land, wo sie auch Geschmack anzubringen wissen. – Sie sind gestiefelt und gespornt, und es läßt keinem Curländer, wenn gleich er sich in Unkosten setzt und Schuhe und Strümpfe anlegt. Sie sind geborne Cavalleristen. Wenn sie geputzt sind, muß es ihr Pferd auch seyn. Ich habe allerliebste Reit-und Jagdkleider in Curland gesehen, die Mitgabe meines Reisegefährten kann hier zum Beleg dienen, unerachtet sein Herr Vater durchaus keinen Jäger auf der Universität haben wollte, seinem Sohn den Satan abschlug und unter lebendigen Thieren die Hühner in Vorschlag brachte.

Unsere Preußen verzögerten uns beinahe zwei Tage, ehe wir endlich die curische Residenz verließen. Das herzogliche Schloß hat so wenig Verhältniß zu dem übrigen Theil der Stadt, als das Mitausche Pflaster zur Regelmäßigkeit und Ordnung. In Wahrheit, wenn man die Nation beschreiben wollte, müßte man Mitau beschreiben. Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dieß niederschrieb, ob nicht jede Residenz das Land im verjüngten Maßstabe[94] sey, allein ich habe mich geirrt; es gibt so viel Ausnahmen, so viel ungerathene Söhne bei dieser Regel, daß die Regel selbst den Mutternamen Regel nicht verdient. – Unter dem Alltäglichen, was auf der Reise vorkommt, fielen mir die armen Menschen auf, die an Hecken sitzen und sie den Reisenden öffnen. In Wahrheit, dachte ich, das können nicht alles Leute von niedriger Geburt seyn. Ich sah einen alten Mann in einem dergleichen Diogeneshäuschen an der Hecke, der einen so vortrefflichen Kopf hatte. – Das war wenigstens ein Literatus! und wo anders sah ich ein armes krankes Weib, das in der größten Behendigkeit aus ihrer Behausung kam und Hand ans Werk legen wollte, allein krämpfige Zufälle lähmten ihr stehenden Fußes die Hand. – Es war rührend anzusehen. Die Preußen wollten ihr keinen Schilling geben, weil sie ein altes Weib war und der Krämpfe wegen die Hecke nicht öffnen konnte; ich entschädigte sie zwar, allein ich mußte die Entschädigung auf Gottes Acker, auf die Erde, werfen. – Nicht Geld konnte sie halten. Dafür ward ich im Wagen ausgelacht – und wer weiß, was noch der Kritikus thut?

In Wahrheit, wenn sich jemand finden sollte, die Lebensläufe aller dieser Unglücklichen in Diogeneshäuschen zu schreiben, auf einer Reise, die freilich nicht durch die Welt seyn dürfte, wie ohnedem noch niemand gereiset ist, gewiß, er wäre ein vortrefflicher Schriftsteller und würde gelesen werden bis an den lieben jüngsten Tag.

Ich hatte, um mir eine Bewegung zu machen, den Wagen verlassen, und hiezu kam noch dankbare Empfindung gegen mein freies Vaterland, die ich unmöglich sitzend aushalten konnte. Ich sah die Gränzscheidung, und da ich eben einen grünen Platz fand, beredete ich meinen Gefährten, Curland zu umarmen. Wir legten uns hin, so lang wir waren. – Der Wagen fuhr langsam weiter, so unvermerkt, wie aus einer Monarchie Despotismus wird, wenn[95] sie es nicht schon an sich ist, worüber die Gelehrten noch uneins sind.

Lebe denn wohl, herzlich geliebtes Vaterland! Ich danke dem Himmel, daß dein freier Boden das erste war, was mein Fuß betrat. Das fühlte ich noch! noch! daß er frei war, und ich wünschte, meine Leser möchten es auch, wo nicht überall, so doch wenigstens an einigen Stellen gefühlt haben. Natur und freier Staat sind Geschwisterkind und vertragen sich wie Kinder. – Etwas reine klare Natur muß bei jedem Werke der Kunst seyn, und dieß Etwas eignet sich Seelenwürde zu; es ist Seele, es ist göttlicher Hauch, lebendiger Odem in die Nase. Die Kunst, die Verschönerung, ist Leib. – Man kann in Wahrheit auch die Menschenseele durch den Menschenkörper verschönern. – Nun leider heut zu Tage wird der Körper nicht verschönert, sondern geschwächt. Ich läugne es nicht, daß dadurch, daß der auswendige Mensch gelitten, der inwendige Mensch zum Theil zugenommen, wir haben mehr Seele und weniger Körper bekommen; es frägt sich aber, ob wir gewonnen oder verloren haben? Wir haben aufgehört zu genießen und haben angefangen zu denken!

Wer lacht, macht zu lachen, wer weint, macht zu weinen. Denn es gibt kein gefährlicheres Thier, den Affen selbst nicht ausgenommen, als den Menschen; allein wer darstellt, wer handelt und handeln läßt, bereitet ein Lachen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften, und auch solch ein Weinen. – Wer im gemeinen Leben keinen Blick hervorlacht, sondern nur durch sein Handeln mit Fleiß zum Lachen Gelegenheit gibt, ist komisch im hohen Grade. Und in Wahrheit, ein verstohlenes Ach gilt mehr, wenn man darauf vorbereitet ist, das ist, wenn man leiden gesehen und es nicht bloß gehört, als eine Sündfluth von Thränen. Prüft nach diesen Angaben die Dichter alter und neuer Zeit. Ich für meinen Theil wollte hier nur sagen, so wie Darsteller[96] vom Selbstlacher und Selbstweiner unterschieden ist, so wie Werk vom Wort, so monarchischer Staat vom freien. Wer es fassen kann, der fass' es.

Ich merk' es, daß ich meinem grünen Platz entlaufen bin, und will mich gleich wieder, so lang ich bin, hinstrecken, um mein Vaterland zu Ende zu segnen. – Der Mensch ist zum Scheiden geboren. Sterben lernen und philosophiren ist von jeher für einerlei gehalten worden; denn in Wahrheit, diese Welt ist entweder ein Vorbereitungsort, oder wir sind die elendesten unter allen Geschöpfen! Drum nehme ich so gern Abschied auf die Art, wie vom Vaterlande, wenn ich schon weg bin. – Ich empfand wahrlich mehr, als ich sagen kann, und was noch mehr als sagen ist: schreiben kann. – Noch wo ich grün sehe, kommt mir vor, als sähe ich Freiheit. Seht, was ich diesem Scheidewändchen zwischen Curland und Preußen und dem grünen Fleck, auf dem Herr v. G., der ältere, uns belehrte, daß wir Curländer wären, zu verdanken habe!

Ich wünsche allen König'schen, weß Standes und Geburt sie seyn mögen, sonder Arglist und Gefährde, etwas Grünes, damit sie wenigstens einigermaßen wissen, was Freiheit sey. Monarchischer Staat ist wie eine Lanze, oben klingt es, unten ist Holz, wie ein Kegelspiel, das die Kugel nicht trifft. – Was Se. Majestät nicht allerhöchst eigenhändig fällt, das thun die fallenden Kegel, einer wirft den andern mit. – So wie gesteiftes und ungesteiftes Kleid, so Monarchie und freier Staat. Hier stammen wir in gerader Linie von der Mutter Natur ab, dort höchstens von der Seitenlinie. Im monarchischen Staate wächst, was noch in die Höhe schießt, wie eine Bohne an der Stange. Im freien Staate, sagt man, sind die Menschen wild, das heißt mit andern Worten: im monarchischen Staat sind die Menschen Menschen. Warum denn alles nach der Regel de tri? Ein König'scher, ein Unterthan, ist ein[97] zahmes Thier, das aus der Hand frißt und nicht weiß, was es erst thun soll, ob fressen? oder die Hand küssen? Er sitzt beständig auf den Tod und wartet nur auf den Appetit seines Allergnädigsten. Ruft nicht Pensionärs! Im freien Staat ist wenigstens ebenso viel Sklaverei als Freiheit. Dieß hat mich Herr v. G. besser gelehrt, der meines Wissens keine Pension zog. Wo Weizen wächst, wächst Unkraut, und je besser der Boden, desto besser schießt beides hervor. – Die ganze Natur ist für und wider sich; alles kreuzt sich in der Welt, Vögel und Aeste. Was sich neckt, das liebt sich. – Seht da wieder Natur im freien Staat, Homer'sche, Shakespeare'sche Natur! Das Lobopfer, das ihr der Monarchie bringt, ihr Professores Poeseos! was ist's? Erbauliche Gedanken neben einer Hecke, die eben geköpft ist, auf die Melodie: Nun sich der Tag geendet hat und keine Sonn' mehr scheint.

Lebe wohl, herzlich geliebtes Vaterland! Du hast mich gelehrt, die Freiheit schätzen, obgleich du selbst bei weitem noch nicht frei bist, sondern dich zu Polen verhältst, wie ein Aufschlag zum Kleide. – Frevelhafte Beschuldigung ist es, daß man in deinem Schooß wie eine Flinte sey, die nicht mehr, nicht weniger knallt, es fall' ein Sperling oder ein Mensch, nach Gottes Bilde gemacht. Es gibt monarchische Staaten, wo man sich über den Kopf eines Mörders wenigstens zwölf Monate bedenkt, so, daß das Publikum die Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe vergißt, und der Pastor loci recht gemächlich Gelegenheit nehmen kann, den Geist und die Kraft der Religion an diesem Bösewicht ad oculum zu demonstriren. Alle Mörder sterben alsdann wie der Schächer am Kreuze! Dagegen fließt in diesen Staaten das Blut von tausend Edlen im Kriege. Niemand löthet die Wunden der Redlichen. – Es gibt Thiere, sagte mein Vater, die im Marmor, aber nicht im Leben gefallen, und so wie der Bienenschwarm, so der freie Staat.[98] – Nicht also, mein Vater; ich glaube, daß das Denken im monarchischen Staat und das Reden im freien zu Hause gehöre, oft auch das Thun – so wie ein Sklave nur eigentlich unverschämt seyn kann; im freien Staat kennt man dieß Wort nicht.

Meine Leser werden ohne Fingerzeig einsehen, daß ich dieses nicht auf dem grünen Platz schreibe, sondern in einem Staat. – Bald hätte ich zu viel gesagt. Ich empfand auf diesem grünen Platz, und zwischen Empfinden und Denken ist oft so ein Unterschied, wie zwischen Wachen und Träumen. Ein schöner Traum! ich gäb' einen Tag drum unbesehens.

Meine Empfindungen wurden den Preußen, dem Fuhrmann und seinem Untergebenen, zu lange – Ich schlief ihnen zu viel. Sie schrien mich heraus und gaben mir zu verstehen, daß hier guter Weg sey, wo der Wagen ohne Noth aufgehalten würde, und daß schon Stellen vorfallen würden, wo ich Gelegenheit haben würde, mich zur Ruhe zu begeben (eigentlich zu empfinden).

So gründlich gleich diese Aufforderung war, so verdroß mich doch dieses Commando, und ich konnte nicht umhin, ich weiß selbst nicht, wie ich darauf fiel, zu fragen, warum sie denn nicht Soldaten wären? Ich hätte doch gehört, daß alles, was einen stattlichen Schritt in Preußen hätte, gerade ausseh' und sich wohlbefände, Soldat wäre, daher auch zärtliche Mütter Gott auf Knien danken sollten, sobald sie aus dem Wochenbette auf die Füße kämen, wenn er sie einen Krüppel auf die Welt zu bringen gewürdigt, weil dieser allein das Recht hätte, eine Stütze der Familie zu werden. – Herr! sagten die Preußen, wer Ihnen das gesagt hat, ist ein H-t. Beim höchstseligen Herrn gings zuweilen in diesem Stück bunt über Eck – und da konnte man manches nicht spitz kriegen. Gott laß ihn höchstselig ruhen! Unser jetziger Herr, sie zogen ihre abgekrempten Hüte ab, braucht Fuhrleute und Generale, und es thut in Preußen nichts, ob man einen Orden oder eine Peitsche[99] umgehangen hat. (Sie hatten die Peitschen wirklich auf Ordensart.) Ich lasse keinem Menschen die Mittelsteine, wenn ich nicht will. Ein General oder Corporal geht mich mit keiner Ader an. – Ich für mich, sie für sich. – Wer dem Herrn die Abgaben gibt, ist ihm angenehm, so wie dem lieben Gott, wer recht thut, und wenn die Soldaten zur Revue sind, verstehen Sie mich (der Alte sprach), junger Herr Curländer, so bin ich während der Zeit Major von der Cavallerie, und dieser, mein Schwestersohn, ist Junker, und ich versichere den Herrn, daß wir unsern Säbel führen (er machte Luftstreiche und der Junker gleichfalls) wie Einer.

Es fiel mir eben, da die preußische Glänze anfing, eine große Eich' ins Auge, die sich nicht um das, was unter ihr war, bekümmerte. Sie hatte sogar gegen unten keine Schattenäste für ihre Unterthanen. – Stolz wuchs sie gen Himmel, und selbst ich hatte Mühe, ihren Gipfel zu erreichen – Sieh da einen Monarchen, sagte ich zum jungen Herrn v. G., und er verstand die Eiche und mich auf ein Haar.

Ich wünschte, daß mein Vater diese königlichen Fuhrleute gesehen hätte – denn ich selbst war so begeistert, daß ich gern Luftstreiche mit diesen tapfern Preußen um die Wette gewagt hätte, wenn mir nicht mein Reisegefährte heimlich auf den Fuß getreten und eben so heimlich die rechte Hand gedrückt hätte, als wollt' er treten und drücken – Bruder, laß den Major und Junker, den Fuhrmann und seinen Untergebenen.

Es war gleich alles wie abgeschnitten. – Unsere Heerführer waren so sehr von allem Eifer zurückgebracht, daß sie uns herzlich versicherten, wie die Fuhrleute und Studenten in Königsberg Schwäger und Freunde wären! Trotz dem grünen Platz und dem kleinen Streit, der zuweilen vorfiel. – Sie bewiesen uns ihre aufrichtige schwägerliche Verwandtschaft, daß sie den folgenden Tag schon um drei Uhr Halt machten, um uns oder eigentlich mir,[100] Zeit und Raum zu lassen, eine Leichenbeerdigung zu hören und zu sehen.

Wir waren eben im Begriff, in – – Mittag zu machen, da die Glocke gezogen ward. – Ich verstand auf den ersten Anschlag, daß es Trauertöne werden sollten.

Wer ist todt? fragte ich den Hauswirth. Fragen Sie, antwortete er, wer wird begraben? Auch das, erwiederte ich, und wer?

Schön, fuhr er fort, nun werd' ich Sie fragen, wer wird begraben?

Ich sah den unwitzigen Mann ernsthaft an, und wenn nicht eben eine Sturmglocke für mein Herz zu hören gewesen wäre, es wäre schwerlich beim Anblick geblieben. – Der Hauswirth war indessen so gefällig, mir sogleich auf meinen ersten Augenschlag (der Herr v. G. trat und drückte mich wieder) aus dem Traume zu helfen. Mein Herr, setzte der Hauswirth im Geschichtsstyl hinzu, es ist ein Fremder, ein Unbekannter. Niemand weiß, wo er her ist. Unfehlbar hat er nicht nach Hause reichen können, denn man sieht ihm sein hohes Alter an. – Er hat ein sehr gutes Aussehen – weil man einige Gulden und eine Schreibtafel (beides hat der Pfarrer gleich an sich genommen) bei ihm gefunden, so wird er mit einer Leichenpredigt begraben.

Gott, schrie ich, das ist der Alte! Alt ist er, sagte der kupfernasige Hauswirth ganz gelassen.

Ich konnte nicht mehr – ich will hin, ich will hin – und seine kalte starre Hand angreifen. – Noch ist Segen Gottes darin. – Da die Gebeine jenes Mannes, den man in Elisa's Grab warf, die Gebeine des Propheten berührten, wurden sie lebendig – und es trat der Mann auf seine Füße.

Ich will hin, ich will hin – und wenn ich seinen einen Handschuh erben könnte! – O welch eine Erbschaft hätt' ich gethan![101]

Der Hauswirth nahm, während dieser heiligen Entschlüsse, Tabak und zog ihn sehr hoch in die Höhe.

Jetzt erst wandt' ich mich zu unsern Fuhrleuten, um sie zu überreden, den Mittag und Abend in einem weg zu halten.

Abgemacht,

Der Herr v. G. erkundigte sich nach Wild – und ich ging spornstreichs in die Kirche.

Eben hatte der Pfarrer den Text, den er zu der Leichenpredigt ausgesondert hatte, verlesen. Den Spruch fand der Leichenprediger in der Schreibtafel des Seligen aufgeschrieben und dreimal unterstrichen. Er steht in der zweiten Epistel an die Corinther im sechsten Capitel, vom vierten bis zehnten Vers:

»Sondern in allen Dingen lasset uns beweisen als die Diener Gottes, in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöthen, in Aengsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen, in Fasten, in Keuschheit, in Erkenntniß, in Langmuth, in Freundlichkeit, in dem heiligen Geiste, in ungefärbter Liebe, in dem Worte der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit, zur Rechten und zur Linken, durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte, als die Verführer und doch wahrhaftig, als die unbekannten und doch bekannt, als die Sterbenden und siehe wir leben, als die Gezüchtigten und doch nicht getödtet, als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viel reich machen, als die nichts inne haben und doch alles haben.«

Ein Thema pflegt bei den Geistlichen ein leeres Haus zu seyn, wo man mancherlei und manches anschlagen kann, ein Nagel, an den man viel hängt; ich weiß nicht, ob man nicht auch in diesem Sinn sehr richtig sagen würde: man muß nicht zu viel an einen Nagel hängen.

Das Ziel, nach dem der Pastor loci anlegte, war der Schein[102] und das Seyn des Christen! Meine Mutter hätte, wenn sie selbst diese Leichenpredigt gehalten, kein gereimteres Thema gefunden; ich für mein Theil hatte alle Fassung nöthig, um mich zurückzuhalten. – Ich brannte vor Begierde, den Sarg dieses Seligen aufzusprengen und mir einen Segen abzufordern. Es war sehr zu merken, daß ich dem Pfarrer ein Meteor war und ein unverhoffter Gast – er haspelte seine Predigt in höchster Eile herab; indessen verzählt' er alle Augenblicke die Fäden, und dieß zwang ihn, von neuem zu zählen. – Endlich die Nutzanwendung zum Schein und Seyn.

Meine Geliebte! der selig Verstorbene schien uns anfänglich ein Mann nach der Weise Melchisedech. Ich fragt' ihn nach dem Namen, Geburtsort, Vaterland; ob er noch in dieser Welt etwas zu berichtigen hätte? Auf alle diese Fragen nicht eins zur Antwort.

(Ich ward über und über roth, und nun erschien mir der Pfarrer als ein Meteor und ein ungebetener Gast, und das Aergste bei dieser Verlegenheit war, daß ich nicht haspeln konnte. Nichts ist einem Verlegenen heilsamer, als wenn er reden kann; er fällt zwar immer tiefer darein, indessen ist es ihm Labsal, reden zu können, wenn er auch nur stammeln und stottern sollte. Er ist wenigstens vor einer Seelenlähmung sicher, die eben so, wie eine körperliche, oft zeitlebens auf die Seele einen Einfluß hat. Die Zunge ist in solchen Fällen Ventilator in einem stockigen Zimmer. – Sie bringt frische Luft herein.)

Da ich einsah, fuhr der Leichenprediger fort, daß unser Seliger Ursachen zur Zurückhaltung hatte, wandt' ich schnell um und klopft' an eine andere Thür, die zum Seelenheil führt. Hier blieb er mir kein Wort schuldig. – Nach seinem seligen Hintritt klärte sich alles auf. Er fand nicht für gut, zu erzählen, was seine Schreibtafel enthielt, er wollte sich nicht die Augenblicke entwenden,[103] die er himmlisch anwenden konnte. Sein Wandel war nicht von hier, sondern von droben. – Das erste, was ich öffnete, war seine Schreibtafel, die wie ein Communionbuch gebunden war. Seinen Geldbeutel, worinnen vierzig Gulden waren, öffnete ich nachher.

(Ich war im preußischen Gelde ganz unerfahren, und ich muß mich noch hüten, um ja hiebei nicht wider das Costüm zu sündigen.)

In seinem Communionbuch von Schreibtafel fand ich mehr als ich gefragt hatte. Man pflegt oft in Schreibtafeln das Geheimste, das man oft seinem geheimsten Rathe nicht entdeckt, zu finden. Es ist der Männer Schooßhündchen.

Unser Seliger heißt – – – – – –

Ha! kunstrichterlicher Leser! da hattest du schon deine Bleifeber zum Strich gespitzt. – Wieder einer ohne Namen, eine unbenannte Geschichte! Stecke dein Schwert in die Scheide; denn wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen, und damit ich bei dieser Gelegenheit auch an eine andere Thür anklopfe, die zum Seelenheil führt, bet' ich ein Vater unser für dich! – damit du nicht vielleicht ohne Namen dahin fährst in deinen Sünden. – Halt den Hut vor!


Ne nos inducas in tentationem,

Sed libera nos a malo. Amen.


Unser Seliger heißt – – – – – – wie er seinen Namen ganz mit allen Punkten und Clauseln ausgeschrieben.

Er fährt fort:

Ich war reich – ich hatte so viel, daß meine großstädtische Freunde zuweilen zu mir kamen und sich ländlich vergnügen konnten.

Ich ward arm, fährt er fort, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sey gelobt! Wie er um das Seinige gekommen, meine Lieben, ist nicht angeführt.[104] In seinem Wohlstande hatt' er zum Aufbau eines Lusthauses und Lustgartens für eben diese Freunde, wenn sie ihr stockendes Blut wieder in Fluß bringen wollten, zweitausend Gulden angeliehen, schwer Geld.

Da er arm geworden, erließen sie ihm die Schuld und gaben ihm seinen Schuldbrief zurück. Sie bedachten vielleicht, daß er nur ihretwegen diesen Bau unternommen. – »Was dankt' ich Gott,« schreibt der Selige, »daß ich unter meinen Freunden Menschen fand. So in der Nähe, dacht' ich. – Gott schlägt, Gott heilt, Halleluja!« Unser Seliger hatte zwar nicht das Glück des Hiobs, der zwiefältig so viel bekam, als er gehabt hatte, und außer dem schönen Groschen und dem güldenen Stirnband, so ihm seine Brüder und Schwestern und Bekannten verehrten, noch vierzehntausend Schafe und sechstausend Kameele, und tausend Jochrinder und tausend Esel – wie er denn auch nach seinem gehabten Unfall einhundert vierzig Jahre lebte und Kinder und Kindeskinder sah, bis in das vierte Glied. Unser Seliger konnte zwar nicht seine Freunde zum ländlichen Vergnügen mehr einladen, sein Gärtchen und sein Lusthäuschen waren in fremden Händen; allein er hatte doch Nahrung und Kleider! – Seine Freunde hatten auch nach der Zeit sich bitter und sauer Brunnen angewöhnt, welchen sie die nämliche Kraft, als guter frischer Milch und einem Gartenhäuschen und einem Lustgarten, beilegten. – Der Selige hatte sich indeß so weit herausgewunden, daß er viertausend und siebenzig Gulden nach Königsberg nehmen konnte, um seinen Verkehr durch einige neue Waaren zu verstärken. Bei viertausend und siebenzig Gulden baar Geld konnt' ein so ehrlicher Mann, als er, auf noch einmal so viel Credit rechnen. – Seine Anverwandten hörten von den viertausend siebenzig Gulden und nahmen ihn allein.

Sie fragten nach der Handschrift. Hier, sagte er, und zog sie aus der Schreibtafel. Solang ich lebe, soll auch diese Handschrift[105] leben; ich könnte vielleicht aufhören dankbar zu seyn, wie viele Menschen, wenn sie zu satt werden, Gottes vergessen. – Hier, sagt' er, ohne Flecken, ohne Runzel, oder deß etwas, so wie ich sie gestellt hatte und zurück erhielt.

Der Senior Familiae, ein alter herzloser Mann, nahm sie entgegen, und es ward dem Dankbaren angedeutet, daß, da man von den viertausend Gulden, ohne an die siebenzig zu denken, gehört, er wohl ihre zweitausend Gulden, zusammt den Verzögerungszinsen, entrichten könnte.

Freunde, fing er an; allein man droht' ihm mit dem breiten Wege Rechtens, der zur Verdammniß führt, und viele sind, die darauf wandeln.

Freunde, fing der Selige wieder an; allein (und dieß kränkt' am meisten) sie machten ihm Vorwürfe, daß er noch dazu die zweitausend Gulden zu Lusthaus und Garten verwendet hätte.

Aber – fing er wieder an, und der Senior Familiae fiel ihm ins Wort: Freilich hatte Sie Gott damals reichlich gesegnet und Sie konnten an Lust denken, jetzt aber bei viertausend siebenzig Gulden müssen Sie an Zahlung denken. – Denkt, sagte der Selige. Zahlt, sagten die Verwandten, die Unseligen. Sie hatten ohne Flecken, ohne Runzel oder deß etwas, das Document und er hatte keinen Beweis der Schenkung, und wenn ich auch, schreibt er, Beweis der Schenkung gehabt hätte – und wenn auch –

Er bezahlte.

»Nur die Zinsen!« es macht' auf jeden der Herren eine Kleinigkeit.

Keinen Dreier! sagte Senior Familiae. Es sind die usurae morae (die Verzögerungszinsen); er hatte diesen Bissen Latein von einem Rechtsgelehrten erhandelt!

Der Selige mußte von Heller zu Pfennig Capital und Zinsen[106] berichtigen, und da einige andere von seinen unbeträchtlicheren Gläubigern, die ihm aber nichts erlassen, sondern theils auf seine Verbesserung wegen der alten Schuld gewartet, theils ihn mit neuem Flickvorschuß unterstützt hatten, dieses hörten, verlangten auch sie Geld und reservirten sich quaevis juris competentia contra quem vel quos, wenn der Arme nicht noch so viel übrig behalten hätte, daß ihr neuer Vorschuß hinreichend berichtigt werden könnte. Es fehlten ihm dreihundert Gulden; der Arme ging zum Senior Familiae, und dieser? Er hatte nur eben Zeit zu einem Vorschlage, der dem Seligen bis in die Seele ging. Er schlug ihm vor, seinen Wagen und vier Pferde zu verkaufen, um auszulangen.

Vierzig Gulden war alles, was unser Selige erübrigte, und ein paar Füße, die seine schwermüthige Seele mit genauer Noth tragen konnten. Sein Leib wog nicht vier Pfunde.

»Vierzig Gulden,« sagt' er zu sich selbst und sah seinen ledig gewordenen Geldbeutel an. Er hob ihn und fühlt' es, daß auch er noch zu schwer für seine Füße war. – Wenn sich doch Gott erbarmen wollte! rief er; hier in der Welt ist's mit der Erbarmung aus! Wenn doch Gott sich erbarmen wollte! – Wenn er doch meine Thränen so zählen wollte, wie die Schlucker mein Geld! Er hatt' auf diesen sauern Tag eine angenehme Nacht; es träumte ihm, daß das Lusthäuschen und das Gärtchen, welches, wie er verarmte, subhastirt ward, ihm wieder zufielen, und alles so grün, so schön, daß es ihm dünkte, als hör' er die Stimme: Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenig getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude.

Was das für eine Freud' im Traum war, schreibt er, ist unaussprechlich! So was kann man nicht leben, so was muß man träumen. Er ging zu Fuß aus Königsberg, und es sey, daß die[107] Ungewohnheit, ein Fußgänger zu seyn, oder daß der gerechte Schmerz über dergleichen Verfahren ihn noch tiefer als sein hohes Alter angriff, unser Seliger ward in – – krank. Ich fühlte, schrieb er, beim ersten Stich in der linken Seite, daß mein Stündlein vorhanden sey und die Erfüllung des Traumes: Geh' ein zu deines Herrn Freude.

Diese Worte wiederholte der Sterbende unzähligemal, und allemal mit einer Freude, die wie Kraft der zukünftigen Welt aussah.

Er hatte in Rücksicht seiner Wohnung nichts weiter auf seinem Herzen, als die Bitte, seinen Tod in – –, wo er zu Hause gehörte, zu melden und alle, die sich seiner erinnern sollten, grüßen zu lassen.

Er hatte nicht Frau, nicht Kind. Gehabt zwar beides, allein beides war vorausgegangen, um ihm dort entgegenzukommen. Gott ruft mich, schreibt er, zu rechter Zeit. Ich habe meine Schulden bezahlt und bin keinem weiter als dem lieben Gott schuldig, der mit mir wahrlich, das hoff' ich, anders rechnen wird, als meine Verwandten. – Die mir zu tragen schwergewordenen vierzig Gulden bleiben zu meinem Begräbniß und für

Und für waren seine letzten Worte.

Ich hätte diesen Bruch, fuhr der Pfarrer fort, heben und es so erklären können: und für den Pastorem loci; denn ich hab' ihn zweimal mit Gottes Wort besucht und den glimmenden Docht der Hoffnung, die in ihm war, so wenig ausgelöscht, daß ich ihn vielmehr vollends anfachte; – allein ich hab' Euch auch all' an diesem und für Theil nehmen lassen wollen. Den Organisten und die Leichenbegleiter – und an uns allen verdient der Selige einen Gotteslohn!

Mir fiel eine natürliche Erklärung des und für ein. Da schon des Begräbnisses erwähnt war, so hat der Selige, dacht' ich,[108] mit seinem und für die Dorfarmen gemeint; denn in Wahrheit, das waren bei seinen Umständen seine nächsten Anverwandten. – Es gehen freilich verschiedene Sterbende, die noch viel Unrecht auf ihrem Herzen und Gewissen haben, zur Beichte, um am Himmel nicht aufgenommen zu werden; sie lassen sich hier plombiren, um dort bei der Himmelspforte sich keiner Revision auszusetzen, und da trägt es sich freilich wohl zu, daß dem Geistlichen, dem Besucher, etwas in die Hand gedrückt wird. – Unser Todter, das wett' ich, nicht also!

Wohl dem! rief unser Pfarrer aus, wohl dem, der, solang er mit seinem Bruder auf dem Weg ist, das heißt, so lange sie beide die Straße dieses Lebens gehen, ihm ersetzt, was er ihm Unrecht gethan, dem abbittet, den er beleidigt, den in integrum restituirt, den er beschädigt hat. Wohl dem, der alles mit warmer Hand abträgt! denn wie leicht kann der Gläubiger sterben? und die Ersetzung ist alsdann nicht möglich; wie leicht kann der Lebens' lauf des Schuldners gehemmt werden und wie leicht kann es kommen, daß sie aufhören, einen und denselben Weg zu wandeln? Weh' alsdann dem Schuldner! Alles ist aus! – Er kann nicht mehr bezahlen, so gern er auch wollte. Seine Münze galt nur in dieser Welt, mit einem ewigen Vorwurf geht er in die Ewigkeit über. Diese Stelle überwog die ganze Predigt. Wer sie liest, der merke drauf, solang er eine warme Hand hat, solang er noch auf dem Wege mit seinem Gläubiger ist und mit ihm lebensläuft!

Es starb der Selige (meine Leser hören wieder den Pastorem loci), seines Lebens müd' und satt, mit der dringenden Bitte, ihm auf unserm Gottesacker ein Räumlein zu gönnen, bei frommer Christen Grab. So wie Abraham zu den Kindern Heth, nach dem ersten Buch Mose im dreiundzwanzigsten Capitel, im vierten Vers sprach:

[109] Ich bin ein Fremder bei euch, gebet mir Begräbniß; so sprach auch unser Seliger, und obgleich er nicht vierhundert Sekel Silbers, das im Kauf gang und gebe war, wie Abraham zu bezahlen im Stande war, so war unser Alter doch auch nicht der Abraham und wir nicht die Kinder Heth. – Das Plätzchen, das wir ihm verstattet, ist kein Erbbegräbniß, wer wollt' auch seine Anverwandten mit den zweitausend Gulden Capital und den Verzögerungszinsen zur Nachbarschaft haben! Man erzählt, daß Hände, die ihre Eltern geschlagen, nicht verwesen, sondern aus dem Grabe herauswachsen, obgleich ich viele ungerathene Kinder, bisher aber, leider! noch keine herausgewachsene Hand gesehen habe. – Wahrlich, wir würden alle die Hände der Anverwandten unseres Seligen sehen, wenn diese Sage wahr wäre – und die Hand des Senioris Familiae, hager und ungestaltet, mit langen, unabgeschnittenen Nägeln. – Wie schrecklich! – Nein – nicht für hundert Sekel Silbers, das im Kaufe gang und gebe ist, nicht für tausend! – Für dich aber, Seliger, machet die Thür unseres Kirchhofs weit und die Thore hoch, damit er bei uns einziehe! – Wenn der Fall nicht so, wie er wirklich ist, gewesen wäre, wir hätten keinen Dreier für dieses Plätzchen genommen. – Die Kirche dankt dir, lieber Seliger, für das, was sie durch meine Hand erhalten hat, und ich danke dir für das, so uns allen zugewendet worden, bis auf den letzten Träger. Judas verrieth wegen dreißig Silberlingen seinen Meister. – Hier sind freilich nur vierzig Kupferlinge, und es ist allerdings mehr Schein als Seyn dran, indessen, wie bald wird sein abgetragener Leib in einer Hand Raum haben. – Diese Handvoll ehrliche Erde gibt er uns ohnehin als Agio von den vierzig Gulden.

Uns allen lehre der Herr unseres Lebens bei dieser Gelegenheit unser Schein und Seyn, das heißt, er lehr' uns wohl bedenken,[110] daß wir nicht wissen, wann der Herr kommt. – Darum wachet! So gesund wir scheinen, so ist doch nichts gewisser, als daß es ein Ende mit uns haben müsse, daß unser Leben ein Ziel habe und wir davon müssen. Das ist unser Seyn!

Ihr Gebeugten im Volke, freuet euch in dem Herrn, und abermals sag' ich euch: freuet euch, denn ihr werdet sterben! und eben dann, wenn ihr nicht aus noch ein wißt, wird euch der Herr gen Himmel zeigen – da werdet ihr Friede haben und nicht hören die Stimme des Steuereinnehmers, da werden getrocknet werden die Thränen von den Wangen der Wittwen, da werden die Gottlosen aufhören mit Toben, und sanft ruhen die des Lebens Last und Hitze getragen haben. – Fasset eure Seelen in Geduld, und wenn euch eine Krankheit anficht, denkt, daß sich eure Erlösung naht. Seht an den Feigenbaum und alle Bäume, wenn sie jetzt ausschlagen, so seht ihr's und merkt, daß jetzt der Sommer nahe sey, – Bei Menschenkindern ist es umgekehrt. – Wenn der auswendige Mensch stirbt, fängt der inwendige zu leben an. Gern hätt' ich diese Lebensumstände, die mir, so wie sie da sind, gewiß nicht wenig Mühe gemacht, da sehr viele Worte halb verwischt und viel unleserlich geschrieben war; gern hätt' ich, weil mir wohl bekannt ist, daß ihr lieber einen Lebenslauf als eine Predigt höret; gern hätt' ich diese Lebensumstände verstärkt, wenn ich mehr im Taschenbuche gefunden hätte. Zum Beschluß wollen wir vom einunddreißigsten Vers bis zum sechsundvierzigsten des fünfundzwanzigsten Kapitels des Evangelii Matthäi verlesen hören und verlesen:

Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heilige Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie von einander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. Und wird die[111] Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird denn der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeiset. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränket. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackend gewesen und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besuchet. Ich bin gefangen gewesen und ihr seyd zu mir kommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeiset, oder durstig und haben dich getränket? Wann haben wir dich einen Gast gesehen und beherbergt? oder nackend und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir kommen? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, ich sag' euch, was ihr gethan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich nicht gespeiset. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich nicht getränket. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich nicht beherberget. Ich bin nackend gewesen und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen und ihr habt mich nicht besuchet. Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig, oder einen Gast, oder nackend, oder krank, oder gefangen, und haben dir nicht gedienet? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sag' euch, was ihr nicht gethan habt Einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht gethan. Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben! – –[112]

Ins ewige Leben verhelf' uns alle zusammen der Herr des Lebens, Amen!

Nach der Predigt ließ der gute Pfarrer singen: Lieber Gott, wann werd' ich sterben, und seine werthen Zuhörer, welche bis auf mich lauter Bauern und Fischer waren, sangen dieß Lied mit einem so himmlisch-sehnsuchtsvollen, der Welt abgestorbenen Herzen, daß ich sehr gerührt ward. Man hörte es ihnen genau an, daß niemand unter ihnen vierzig Kupferlinge im Vermögen hatte, und daß sie alle des Tages Last und Hitze dieses Lebens trügen. – Der Pfarrer sang ebenso herzlich, nur mit dem Unterschiede, daß er mit seiner Stimme die ganze Gemeinde commandirte.

Meinen Lesern zu Gefallen, die kein Gesangbuch haben, will ich die Stelle, die mir der Pfarrer vorzüglich ins Ohr und Herz sang, abschreiben:


Lieber Gott, wann werd' ich sterben?

Meine Zeit läuft schnell dahin,

Und des alten Adams Erben

(Wo ich auch ein Erbe bin)

Haben dieß zum Vatertheil,

Daß sie eine kleine Weil'

Arm und elend sind auf Erden,

Und am Ende Erde werden.


Ich mit allen meinen Brüdern

Lebe eine kleine Zeit,

Trag' ich nicht in allen Gliedern

Samen zu der Sterblichkeit?

Geht nicht immer da und dort

Einer nach dem andern fort?

Und wie mancher liegt im Grabe,

Den ich hoch geehret habe.
[113]

Aber, Gott, was werd' ich denken,

Wenn es wird zum Sterben gehn!

Wo wird man den Leib versenken?

Wie wird's um die Seele stehn?

Ach, ein Kummer fällt mir ein:

Wessen wird mein Vorrath seyn?


Man hätte glauben sollen, das Gewissen hätte beim guten Pfarrer wegen seiner Erklärung der Worte und für diese Reihe mitgesungen; allein ich versichere auf Ehre, das Gewissen gab seine Stimme nicht dazu. – Beinahe möcht' ich das Gewissen auf ein Haar kennen, wenn es mitsingt. – Es hält selten Melodie, singt lahm und so, als dürft' es nicht.

Schriebe meine Mutter dieß Buch, sie hätte von diesem Liede seinen Buchstaben ausgelassen; indessen will ich einigen meiner Leser diesen Gefallen thun.

Die ganze Gemeinde, o Gott! wie inbrünstig sang sie diese Zeilen:


Lieber heute noch als morgen,

Denn ich werd' einst auferstehn!

Ich verzeih' es gern der Welt,

Daß sie alles hier behält,

Und bescheide meinen Erben

Einen Gott'. – der wird nicht sterben!


Vorzüglich fiel mir ein alter Mann bei dieser Stelle auf, der unfehlbar nicht mehr Träger wegen seiner sehr hohen Jahre sehn konnte, und sich in einem etwas finstern Kirchenwinkel aufgestützt hatte. – Ich hätte mich nicht enthalten können, diesem Aufgestützten etwas aus meinem ἀνέχου καὶ ἀπέχου zu geben, wenn ich es bei mir gehabt. – Diesem alten Manne gehörte, das merkte[114] man, noch ein Haufen Kinder an, der um Brod schrie. Es war recht, als wenn alle diese Kleinen mitleierten.

Zwinge dich nicht, schreibt meine Mutter, ohne Geld auszugehen, das heißt: aus einem guten ein schechter Mensch werden wollen. – Dießmal freut' ich mich aber, ohne dieses versiegelte Schatzpäckchen gewesen zu seyn, da ich zu Hause kam; denn ich hätte mich in Wahrheit nicht gehalten und meines Vaters Auflage geradezu entgegengehandelt! »In der größten Noth!« Dieß brachte mich zum Gelübde bei mir selbst, dieß Schatzpäckchen nie bei mir zu tragen. Ohne Geld aber, liebe Mutter, werd' ich nicht ausgehen.

Bei der letzten Strophe, die ich meinen Lesern auch nicht entziehen will, war der Ton ganz anders:


Herrscher über Tod und Leben,

Mach' einmal mein Ende gut!

Lehre mich den Geist aufgeben

Mit recht wohlgefaßtem Muth!

Hilf, daß ich ein ehrlich Grab

Neben frommen Christen hab',

Und auch selber in der Erde

Nicht zu Spott und Schande werde!


Ob nun gleich der Alte, den ich bis oben zu begraben gesehen, nicht der mit dem einen Handschuh war, als welchen Handschuh ich mithin ebenso wenig als den Segen dieses Himmlischen aus seiner Hand erben konnte, so war ich doch sehr belohnt, daß Mittag und Abend in einemweg gehalten ward. – Ich dacht' an Mine, wie beim Schloß in Mitau und bei aller Gelegenheit, und wie hätte wohl ein Vorfall, der mich zum Stehen, zum Denken bringen konnte, nicht zugleich Mine und ihn in einem Paar darstellen sollen? Wenn man liebt, ist überall schöne Natur für den Liebenden.[115]

Mein Reisegefährte kam eben von der Jagd und hatte drei Vögel erlegt, die wir uns braten ließen. Ich hatte noch nichts gegessen und er hatte sich weidmännlich ermüdet.

Indem wir uns niedersetzten und ich ihm von meinem Todten, er mir von seinen drei Vögeln erzählte, siehe da, der Pastor loci! und mit ihm ein Melotenpflastergeruch, so daß der Pastor die ganze Stube würzte.

Er konnte nicht unterlassen, denjenigen, der heut ihm die Ehre gethan, sein Zuhörer zu seyn, näher kennen zu lernen, und da wir aus seiner Art sich zu führen uns überzeugten, daß er nicht abschlagen würde, mit uns vor'n Willen zu nehmen, so baten wir ihn, seine Kapuse abzulegen. Der Herr v. G. erzählte, eben drei Vögel geschossen zu haben. Eben drei? sagte der Pastor und fand hiebei was Besonderes. Der Mann einen Vogel! beschloß ich, und der Pastor konnte nicht aufhören zu wiederholen: eben drei! Der arme Pfarrer entdeckt' uns gelegentlich seine recht schlechte Verfassung. – In Curland, sagt' er, sind meine Herren Amtsbrüder Edelleute! Mögen sie doch. – Wenn ich nur einen bessern Fang wie vor'm Jahr hätte!

Diesen Wunsch klärt' er uns durch die Erzählung auf, daß er auf den Drosselfang gewiesen wäre und dieses ein Hauptaccidenz bei der Pfarre sey. – Unfehlbar war dies die Ursache, warum er: eben drei! so oft sagte. Wir öffneten dem armen Pastor noch unsern Eßkorb, den uns die Frau v. G. reichlich gefüllt hatte. Unser Wein war ihm Labsal. – Ich konnte mich kaum des Lachens enthalten, da er den heut Begrabenen einen Zugvogel nannte. Da ich die Verfassung dieses ehrlichen Drosselpfarrers hörte, fand ich die Erklärung, die er von den letzten Worten:

und für

gemacht hatte, der Sache so vollkommen angemessen, daß ich überzeugt war, das Geld hätte nicht besser angelegt werden können,[116] wenn es ins Hospital gekommen wäre. Die sogenannte Pastoralklugheit ist, in einer guten Uebersetzung, eine wohlehrwürdige Bemühung, auf anderer Leute Kosten zu leben; bei unserm Drosselpastor nicht also.

Ich erkundigte mich noch nach verschiedenen Umständen des zur Ruhe Gebrachten; allein außer dem, was der gute Pfarrer in der Kirche angebracht, wußt' er kein Wort.

Ich gab dem Pastor loci für den Alten, der sich in einem finstern Kirchenwinkel aufgestützt hatte und die Worte:


Und bescheide meinen Erben

Einen Gott, der wird nicht sterben!


überlaut sang, eine Kleinigkeit, um sie ihm morgen abzugeben. So hat er, sagt' ich, zwei frohe Tage – denn wenn er gleich Alters wegen nicht getragen hat –

Allerdings, fiel der Pfarrer ein, ich habe die Anordnung gemacht, daß sie alle was zu essen und zu trinken haben. Der Alte ein Theil mehr, weil er noch außer den großen Kindern drei kleine Kinder zu Hause hat.

Da der Pastor hörte, daß wir auf die Akademie gingen, wünscht' er uns tausend Glück. Mit einer besondern Freude, die ihn wohl kleidete, erzählt' er von seinen akademischen Jahren, wo er sich alles ganz genau zu besinnen wußte, wie alle von gewissen Jahren, die nach Art von Leuten, welche trefflich in die Ferne sehen, schlecht aber in der Nähe sehen können, alles haarklein wissen, was in ihrer Jugend geschah, wenig aber oder gar nichts von dem, was gestern und ehegestern vorfiel. – Das ist die beste, beste Zeit, sagt' er, sobald man ein lastbares Geschäftsvieh wird, ist's aus. Ich pflüge zwar Gottes Acker, indessen fallen doch all' Augenblicke Menschensatzungen vor. Wohl dem, mein Herr v. G., dem die Geburt das Recht gegeben – ein Mensch zu seyn für ein Amt zu halten. »Wenn Jagden dabei sind,« fiel ihm Herr v. G. ein.[117]

Der ehrliche Pfarrer ließ sich merken, daß er herzlich gern einen Adjunctus hätte, und wenn es auch nur der Gesellschaft und der Maulbeerbäume wegen wäre, welche das ehrwürdige Consistorium ihm zu pflanzen ausgegeben hätte. Endlich kam seine Tochter Marthe hinter dem Berge hervor, und man sah wohl, daß der Adjunctus nicht bloß seiner Gesellschaft und der Maulbeerbäume halber gewünscht ward. Noch hat er keinen gefunden, der einen so überwiegenden Drosselgeschmack gehabt, daß er ihm andere Vortheile aufzuopfern kein Bedenken getragen hatte. – Man sagt, setzte er hinzu, daß man darum nicht gern ein Testament mache, damit den Erben nicht die Zeit zu lang würde; allein ich versichere auf Ehre, daß ich bei der Anfrage meines Schwiegersohns, wie ich geruhet und wie ich mich befände? keine Falschheit vermuthen würde.

Die Gegend war wüst und öde. Ich habe keine Biene gehört, und ich wollte was drum geben, daß hier kein Bienengewächs im ganzen Bezirk aufzutreiben gewesen.

Nachdem der Pastor drei bis vier Gläser Wein getrunken hatte, sang er das Studentenliedchen:


Vivat Academia!


Nach dem Liede (dacht' ich mit einem Verwunderungszeichen), nach dem Liede:

Lieber Gott, wann werd' ich sterben?

Indessen, wenn gleich ein solcher Zugvogel nicht tagtäglich kommt, so wird ein Prediger doch mit der Zeit mit dem Tode so bekannt, wie eine geübte Wöchnerin mit einer Entbindung. Muth, das bin ich vollkommen überzeugt, ist nicht Stärke der Seele, sondern Bekanntschaft mit dem Gegenstande.

Unser alter Pfarrer war nicht ohne Empfindung; er ward sehr leicht roth, wenn man ihn nur mit einem Blick etwas zu[118] hart anfühlte. Gleich roth – ist ein so sicheres Zeichen von einem empfindlichen als empfindsamen Menschen, von einem Menschen, der sich fühlt, und der auch fühlt, was um und neben ihm ist; so wie es was Sanftes, was Weibisches verräth, wenn man Musik liebt! – Der gute Pastor! in Wahrheit, er brauchte keinen andern Beweis von seiner Frömmigkeit, als sein heiteres, Gott ergebenes Auge, in dem Ruhe und Zufriedenheit lag. Ich will nicht, sagt' er, wie Israel über die Wachteln murren, und wär' es auch der vierzig Wüstenjahre, der vierzig Festungsjahre wegen – ich bin schon, fügt' er seufzend hinzu, zehn Jahre bei dieser Wachtelstelle.

Es wußt' unser Gast nicht viel von dem Zustande der Königsberger Universität, außer, daß er uns einen Catalogum lectionum aus den Intelligenzzetteln vorwies und uns versicherte, daß es noch bis jetzo nicht friedlich herginge; er war ein Inpietist, denn einen Orthodoxen kann ich ihn nicht nennen, falls nämlich die Orthodoxie, wie ich fast vermuthe, eine Strenge der Observanz ist, sich und andere an angenommene Regeln zu binden. – Ihm schien der Pietismus so sehr nicht zu Herzen zu gehen, obgleich er nicht umhin konnte zu bemerken, daß die Pietisten viel sähen, was kein Inpietist sähe, und viel empfänden, was sie nicht ausdrücken könnten. Es blieb dabei, ohne die inpietistische Partei unsers guten Pastors zu nehmen, daß Gedanken, die man nicht ausdrücken könnte, unreifes Obst wären. Bald, sagte der Pastor, hätt' ich gesagt, daß ein Wort ein verdauter Gedanke sey. – Er ward roth dabei.

So wie Gärtner ihre Blumen oft so pflanzen, daß die Farbe einer in die andere spielt, und dadurch jede einzelne verdirbt, so ist's auch auf Universitäten.

Bei dem zweiten Vers des:


Vivat Academia!
[119]

ward die Frage aufgeworfen, warum man beim Trunk so gern Lärmen mache und vorzüglich Fenster einwürfe; welches auch solche Jünglinge thäten, die bei spätern Jahren einen stillen, innerlichen Rausch bekämen?

Unser Pastor nahm Abschied. Sein letztes Wort war vivat Academia! Wir verpfändeten uns schließlich, so oft wir diese Straße zögen, uns ihm aufzudringen. Dieß Wort bitt' ich zu streichen, fiel er ein; vielleicht gibt mir Gott bald ein Stück Brod anstatt der Drosseln, und alsdann bitt' ich zu mir – alles andere: Gott sey mit Euch, lebt wohl, faßt' er zusammen in das vielbedeutende vivat Academia!

Kaum hatten wir uns niedergelegt, so hörten wir einen schrecklichen Streit, den unsere Fuhrleute, die von Mittag bis Abend in einem Zuge gezecht hatten, erregten.

Ich wollte Mittler seyn, allein mein Reisegefährte verbat es dringend.

Warum, Bruder, willst du gerad oder ungerad spielen? Deine Worte werden nichts gegen diese Rosse und Mäuler verfangen. – Glaub' mir, ich zittere vor einem Lande, wo ein Fuhrmann Major, sein Schwestersohn Junker und ein Pastor ein Drosselfänger ist.

Das Ungewitter legte sich und stieg wieder auf – ich schlief vielleicht beim härtesten Schlag ein.

Habt Ihr je in einer Gesellschaft, in der alles überlaut war, auf Euerm Stuhl geschlafen? Wie süß! – Mein Reisegefährte versicherte mich des folgenden Tages, daß er noch nach meinem Einschlaf zwei Stunden gewacht hätte.

Ich. Aus Furcht, Bruder?

Er. Ich kann es nicht läugnen –

Ich. Entschließe dich, Bruder, meinem Beispiele zu folgen. Ich fürchte mich nur vor der Furcht; das scheint ein Wortspiel,[120] allein es ist ein richtiges, wahres Wort. – – Auf mein Wort gehe hin und thue desgleichen!

Unser Major und Junker waren mit den Wirthsleuten des Hauses an diesem guten Morgen so einig, daß man nichts anderes hört' als Bitten: bald, bald wieder zuzusprechen, und Versprechungen: bald! bald!

Wie schön es sich, sagte Herr v. G., nach dem gestrigen Gewitter abgekühlt hat! – Da siehst du, Bruder, erwiedert' ich. – Der Teufel traue den Preußen, beschloß er. – –


* * *


Und nun in Königsberg! Ein großer, weitläufiger Ort. – Ich fragte meine Fuhrleute, wo dieser und jener Professor wohne, die mir dem Namen nach bekannt waren. Das weiß Gott am besten, sagten sie.

Im Kneiphof gehört die Akademie in die Kirche; und vor diesem kam der Magnificus mit einem Purpurmäntelchen, es war spannenlang und mit einer goldenen Borte bebrämt, alle Michaelis und alle Ostern in diese Kirche.

Nun nicht mehr?

Nein, nun nicht mehr. Man erzählt, daß ein grober Kerl von Bauer, der von ungefähr zu dieser Ceremonie zu Maß gekommen, überlaut (der Püffel! doch was versteht ein Bauer von Safran) gesagt haben soll:

»Wie sich doch so ein alt und wohlbetagter Herr noch zum Narren macht!«

Nach der Zeit geht der Magnificus ohne spannenlanges Mäntelchen in die Kirche.

Die Kneiphofsche Kirche ist der Dom und auch die akademische Kirche. Die zur Akademie gehörigen Gebäude sind in[121] einer so vertrauten Nachbarschaft mit dieser Kirche, daß alles wie Eins aussieht. – Dieß ist eine Erklärung zur Fuhrmannserzählung.

Wir stiegen bei dem Major ab, der uns zwei Zimmer mit der Versicherung aufräumte, daß wir sie so lange gebrauchen könnten, bis wir ein gutes Quartier bekommen würden. Er für sein Theil schlüg' uns die Magistergasse im Kneiphofe vor, wo die meisten Studenten logiren – und der Name selbst schien ihm sehr angemessen. Es währte nicht drei Stunden, so waren drei Landsleute bei uns, welche die Sorge über sich nahmen, uns ein Quartier zum Küssen, wie sie's nannten, anzuangeln. Dieß Wort war damals, so wie das Wort fidel, Universitätsparole.

Diese Nacht blieben wir bei unserm Fuhrmann. Den Morgen um neun Uhr kamen schon unsere fidele Landsleute, verstärkt mit drei andern: das Quartier zum Küssen war angeangelt – und wir Burschen (um ganz akademisch zu sprechen) zogen vom Pferdephilister aus.

Ist es Hecht oder Barsch? fragt' ich, was Sie uns angeangelt haben, und sie lachten herzlich über eine so unakademische Frage.

Wir gingen unser Quartier besehen, das uns über alle Maßen gefiel. Es hatt' es ein Curländer bewohnt, der heim reiste, um nachher in französische Dienste zu gehen.

Warum in französische? sagt' ich.

Zum größten Theil der Sprache wegen. Auch gut! Ehemals verliebte man sich, um Französisch und das Feine der Sprache, das je ne sais quoi des Herrn v. W., zu lernen.

Es ward verabredet, daß die Landsmannschaft von dem Abziehenden und den Anziehenden bewirthet werden sollte. Jeder, sagten die Aeltesten und Vorsteher, gibt sein Theil, und zwar der[122] Abziehende allein so viel, als Ihr Anziehende beide – denn er kommt bald nach Canaan.

Um indessen diesen Schmaus mit Ehren zu geben, ward beschlossen, daß wir zuvor immatriculirt werden sollten.

Einer der Landsleute begleitete uns zu Sr. Spectabilität, wie man den Decanus der Facultäten nennt, zum Examen.

Curländer? fanden Se. Spectabilität, der Decanus der philosophischen Facultät für gut zu fragen, als wollten Sie zugleich andeuten, daß das Examen darnach eingerichtet werden würde. Man hat überhaupt die Gewohnheit, Fremde entweder ganz und gar nicht, oder höchstens nur sehr wenig zu examiniren. – Es sind, wie sich unser ehrlicher Pastor in – – ausgedrückt haben würde, Zugvögel.

Se. Spectabilität schienen ohnedem überschwenglich lustig, und, wie wir nach der Zeit erfuhren, waren Sie die Nacht vorher Großvater geworden. – Sie kamen uns mit einem Mund voll Latein entgegen und erkundigten sich in dieser Sprache nach unserm Namen, Geburtsort und Alter. Ich antwortete sehr behende, und da das lateinische Gespräch bloß zum Spaß angehoben, von mir aber im Ernste fortgeführt wurde, so wollten Se. Spectabilität es durchaus nicht glauben, daß ich ein Curländer wäre. – Nachdem ich ihm dieses in lateinischer, nachher aber, um es desto kräftiger zu machen, auch in deutscher Sprache versicherte, fand er für gut, mich zu fragen: ob mein Vater ein Curländer wäre? Dieß setzte mich aus aller Fassung, besonders da er diesen Ausfall in reinem Deutsch that, und meinem Reisegefährten diese verfängliche Frage zu Ohren gekommen war. Ich ward blutroth – und nach einer Weile (dergleichen Empfindung ist immer wie ein kaltes Fieber) fühlte ich, daß ich wie eine bleich gewordene Rose ausgesehen haben müßte. – Der Professor (das merkte ich auch) sah mich so an, wie man eine bleich gewordene Rose anzusehen gewohnt ist – mit[123] einer großen Theilnehmung. Er trieb diese Frage nicht weiter; allein ich war bestimmt, bei Sr. Spectabilität aus dem Regen in die Traufe zu kommen.

Erst einige Fragen nach Art meiner Großmutter mütterlicher Seits, z.B. wie sich latinum von latinitas unterschiede?

Was der Magister Saliorum für eine Würde bekleidet? Was für ein unlauteres, unorthodoxes Wort dem Tiberius Gewissensbisse gemacht, da er Neujahrsgeschenke verbeten und darüber ein Edict erlassen?

Wie Attejus Capito, dem er darüber gebeichtet, ihn absolvirt?

Was Marcus Pomponius Marcellus, als der zweite Hofprediger, ihm im Beichtstuhl gesagt?

(Jener meinte, das Wort könnte wohl dem Kaiser zu Gefallen auf- und angenommen werden, dieser aber war so stockorthodox, daß er dem Kaiser geradezu sagte, er könne zwar den Menschen das Bürgerrecht ertheilen, allein den Worten nicht.)

Was den Virgilius bewogen, wie er selbst gesagt, aurum ex Ennii stercoribus legere, und warum er nicht, da doch Ennius ingenio maximus, arte rudis gewesen, lieber geradezu, zur Natur oder zum Homer, gegangen, der für uns Adam der Natur ist, ob es gleich in diesem Stück Präadamiten gegeben?

Bei jedem großen Werk müssen zwei Köpfe arbeiten, wenn auch der eine nur den Kalk löschen, oder einen Grundstein legen oder abmessen sollte. Moses und Aaron sind gemeinhin nöthig. Einer erfindet, der andere sagt. Einer schafft den Leib, der andere die Seele. Einer weiset den Weg, der andere geht. Niemand, der sterblich ist, kann ein selbstständiges Genie seyn!

Hier ein Wort von der Natur des Dichters und von dem Lande, wo er sie pflückt.[124]

Er pflückt seine Natur, denn der Ort, wo er sie nahm, ist, wenn man die Natur wieder sucht, die der Dichter beherzigte, wie abgemäht, man sieht höchstens die Stätte; das, was der Dichter sah, ist es wohl mehr ersichtlich?

Des Dichters Natur ist unsterblich. Sie macht die Seele, die Monaden in seinem Werke.

Man sagt, und in Wahrheit, kluge Leute sind unter diesem Man sagt inbegriffen: Ergiebiger Boden zieht nicht Genies, sondern schwieriger. – Nicht also! Reiset nach Holland, um nur eine einzige Reise vorzuschlagen, hier hat der Fleiß alles gethan. Wie das Land, so die Köpfe. Ein schwieriger Boden zieht Kritik, ein ergiebiger Genies.

Wieder eine Frage.

Was den Casimirus, den vierten König in Polen, zum Befehl bewogen, die lateinische Sprache in Polen zu treiben?

In wie viel Tagen Josephus Justus Scaliger, des Jul. Cäs. Scaliger Sohn, den ganzen Homer, und also 63,000 griechische Verse, durchgelesen und zwar so, daß die Frage wegfiel: verstehst du auch, was du liesest? Es waren, glaub' ich, einundzwanzig. Elias, setzten Se. Spectabilität hinzu, oder, wie er sich schreibt, Helias Putschius, der, sobald er auf die Welt kam, herzlich zu lachen anfing, bis in sein vierzehntes Jahr kein Latein konnte und eben drum als Grammaticus und Criticus es so weit brachte wie Einer, nennt den Joseph in seiner Epistola dedicatoria vor den zweiunddreißig Grammatiken, die er kommandirt,


illustrem et incomparabilem virum.


(Wir sollten, bemerkten Se. Spectabilität, alle später die Wissenschaften anfangen, alle wie Putschius sein Latein. Wir wären auf Ehre weiter! – Frühzeitige Unterrichte sind seine Ketten, die uns binden, oft so sein wie Seidenfäden. – Bei spätern Anfängen[125] würde der Schüler, wo nicht selbst was erfinden, so doch den Lehrer drauf bringen.)

Die Scaliger bildeten sich ein, aus dem Geschlecht der Fürsten de la Scala abzustammen, sagten Ge. Spectabilität. Jammer und Schade, fuhren Sie fort, Putschius vergaß sein Latein bald, denn er starb im sechsundzwanzigsten Jahre, so, daß er also nur etwas über zehn Jahre Latein gekonnt hat. – Se. Spectabilität kamen wieder auf Ihre Räthselaufgaben und wandten sich zur Auflösung Notarum und vorzüglich juridicarum, und so wie unser Großvater sich herzlich aufhielt, daß man Aut verkürzt durch A. Ante durch AN. Auctor durch AVCT. Est durch E., so gab er mir vielerlei Abbreviaturknoten zu entziffern und zu lösen. – Ich ließ mich mit einer Bemerkung hören, wie man ein Volk aus der Sprache kennen lernen und beurtheilen kann; so sind, sagt' ich, in der Sprache vorzüglich diese Abbreviaturen, sobald sie ins Allgemeine gehen, eine Findgrube. Sie sind das Volk in compendio. Jeder Mensch hat indessen seine eigenen Abbreviaturen, und dieß ist ein Grundriß eines jeden Menschen. – Bei dem Abbreviaturknoten bewies ich mich als Alexander, und da das meiste, so bis dahin verhandelt war, lateinisch zwischen uns vorfiel, so konnte mein Reisegefährte und Begleiter nicht wissen, wo ich ging und wo ich stand – mithin wußten sie nicht, was aus dem Kindlein werden würde.

Kann was Aehnlicheres zwischen meiner Großmutter mütterlicher Seits und diesem seit der vorigen Nacht gewordenen Großvater seyn? Meine Großmutter ist mir seit der Zeit eben so spectabilis (sichtbar) als ein Decanus. Seltene Fragen sind seltene Fragen. Räthsel sind Räthsel. Knoten sind Knoten. Die Sprache thut hiebei nichts.

Ich rechne nicht bloß auf Leser, sondern auf Leserinnen, und diese guten Kinder haben nicht nöthig, mit fremden Kälbern[126] zu pflügen und ihre Liebhaber wegen einer Uebersetzung, die ohnehin stutzerfrei ausfallen dürfte, in Anspruch zu nehmen; denn was der Magister Saliorum für eine Würde bekleidet, heißt mit andern Worten, was der Engel Gabriel für Federn in seinen Flügeln gehabt? und alles, was sie von Tiberius, Ennius, Attejus Capito und Marcus Pomponius Marcellus gelesen, betrifft den Nabel des Adams, die Farbe Rahels, die Frage: ob David ein Adagio oder ein Allegro vor Saul gespielt? Ob Pilatus sich mit Seife gewaschen, und wie viel Selas in der heiligen Schrift vorkommen?

Durch die Auflösung der Abbreviaturen, wo ich – meine Leser wissen warum? ging und nicht am Berge stand, wetzt' ich alle gemachte Scharten aus, und Se. Spectabilität beliebten mich wirklich auch für ein sichtbares Geschöpf zu halten, wofür ich Sr. Spectabilität noch jetzt dienstergebenst verbunden bin.

Nun ließen mich Se. Spectabilität einige Stellen aus den Carminibus saliariis ins Latein künsteln, und sodann dieses Kunststück mit einigen Stellen aus den zwölf Tafeln machen.

Meinem Reisegefährten bot er auch einen lateinischen Rapier an; allein er erhielt eine abschlägige Antwort, und ich nahm das Wort für ihn.


Ὡς αἰεὶ τὸν ὁμοῖον ἄγει ϑεὸς ὡς τὸν ὁμοῖον,


sagten Se. Spectabilität, und ich weiß nicht, ob diese Stelle, oder ein Hund, der auf der Straße sich hören ließ, und eben dadurch den Herrn v. G. aufsprengte und ans Fenster zog, Se. Spectabilität auf die Frage brachte: Ob auch im Griechischen?

Der ehrliche Noster holte seinen Homer – nicht aus einem rußigen Bücherschrank. Homer war so wenig wie die Bibel, die neben ihm lag, bestäubt. Ich dachte, wenn ja ein Mann Großvater zu werden verdient, ist er's. Er ließ mich eine der Lieblingsstellen meines Vaters, die ein adliches Thier anging, übersetzen,[127] ich wußte sie, eben weil es eine väterliche Lieblingsstelle war, fast auswendig. Sie fängt an:


Ὡς οἱ μὲν τοιαῦτα πρὸς ἀλλήλους ἀγόρευον,

Ἂν δὲ κύων κεφαλήν τε καὶ οὔατα κείμενος ἔσχεν,

Ἄργος, Ὀδυσσῆος ταλασίφρονος, ὅν ῥά ποτ᾽ αὐτὸς

Θρέψε μέν, οὐδ᾽ ἀπόνητο πάρος δ᾽ εἰς Ἴλιον ἱρὴν

Ωἴχετο. τὸν δὲ πάροιϑεν ἀγίνεσκον νέοι ἄνδρες

Αἶγας ἐπ᾽ ἀγροτέρας, ἠδὲ πρόκας, ἠδὲ λαγωούς. – –


Mein Vater hatte die Gewohnheit nicht angenommen, die häufig grassirt, das Griechische zu verlateinen, ich mußt' es verdeutschen, und diese Gewohnheit behielt ich bei, und mein Reisegefährte lernte den Hund Argos kennen, der nach zwanzig Jahren seinen Herrn Ulysses erkannte, sich von seinem Sterbelager aufrichtete, mit dem Schwanze wedelte, indessen nicht mehr das Vermögen hatte mit seiner Zunge seinen Herrn zu berühren, um ihm Dank zu lecken. – Dieser weinte.

Argos aber, der seine starren Augen noch angestrengt hatte seinen Herrn zu sehen, starb, nachdem er ihn gesehen hatte, in Frieden. – Gott hab' ihn selig, sagte Herr v. G., und eine Thräne blinkte in seinen Augen – denn es war ein Hund, von dem geredet war. – Herr v. G., Sie haben mich etwas sehen lassen, sagte der Großvater, was eben so gut ist, als griechisch verstehen. – Wollte Gott, antwortete Herr v. G., ich könnte griechisch, des Argos wegen. – Es sind mehr schöne Stellen im Homer, fuhr der Großvater fort. – Herr v. G. wiederholte: Des Argos wegen.

Endlich singen Se. Spectabilität (auch dieß, weit Sie Großvater geworden waren) etwas aus der lieben Weltweisheit an. Es sah so aus, als wenn wir einen Ritt dran wagen wollten.

Quid est –

Wenn Ew. Spectabilität es im Deutschen erlauben?[128]

Der gute Mann stimmte bei, und aus unserm Examen ward ein Gespräch, ein Piknik, wo jeder sein Schüsselchen gibt.


* * *


Die Philosophie und die deutsche Sprache – wollte Gott, dies; könnt' ein Paar werden für und für! – Wollte Gott, unsere Philosophen möchten solche Gewissenskoliken haben, als Tiberius über jenes Wort im Edict, und über daß Wort Monopolium, von welchem mir bekannt ist, daß er es mit salva venia verbrämt, und über das Wort ἔμβλημα, welches er, wie Se. Spectabilität beiläufig anzumerken beliebten, aus einem Edict ausradiren lassen.

Es gibt Naturphilosophie und Kunstphilosophie. Leben! Leben! Leben! und Schulweisheit. Philosophie, die bloß weiß, und Philosophie, die weiß und thut, gelehrten Wust und Weisheit. Aristoteles war ein Künstler, Epikur, Diogenes (mit Fleiß zusammen) waren Naturalisten und Sokrates deßgleichen. – Die künstliche wird ganz und gar gelehrt, bei der natürlichen ist nur eine gewisse Methode, die gezeigt wird. Das Faß des Diogenes, der Brei des Epikur, wie verehrungswerth! – Die Fenster im Auditorio, wo natürliche Weisheit gelehrt wird, gehen all' ins gemeine Leben. – Die natürliche lehrt die Zeit gebrauchen, die künstliche sie vertreiben. Die Naturphilosophie ist fließend Wasser, Springwasser, die künstliche ist Wasser, welches steht. Die Kunstphilosophie treibt Commissionshandel, die Naturphilosophie hat bloß eigenes Product. Das Leben der Naturphilosophie ist eine Copia vidimata ihrer Grundsätze, und zu ihren Angaben ein solch erklärender nachhelfender Beleg, daß ohne Beilage sub Vide ihre ganze Lehre wie gar nichts ist. Wohl dem, der von diesem Wasser des Lebens getrunken hat! Die Idee der Weisheit liegt der Naturphilosophie zum Grunde, die nicht gleichgültig, sondern gleichmüthig macht. – Ist wohl ein passenderes Motto zur künstlichen Philosophie, als »die Herren werden[129] doch wohl Spaß verstehen?« Will man ein Emblem, so ist's ein optischer Kasten.

Vom natürlichen Philosophen sagt man, er philosophirt. Ein künstlicher Philosoph hat Philosophie. Er hat sie für Geld und gute Worte zum Verkauf und zur Pacht. – Man muß es bei der Philosophie nicht anlegen, ein Buch, den beliebten Autor, sondern die Sache zu verstehen. Man will sich vorzüglich selbst verstehen und das Buch Gottes, die Welt – Diese Philosophie kann nicht auswendig gelernt werden; es ist was Inwendiges, ein Philosoph zu seyn. Denken und leben heißt: philosophiren. Wenn man die Wissenschaften in die der Gelahrtheit und die der Einsicht eintheilt, so würd' ich die künstliche Philosophie zur Gelahrtheit rechnen, und so wie man z.B. von einem Historikus sagen kann: er sey ein Gelahrter, er habe viel gelernt, so auch von einem Kunstphilosophen. Die natürliche Philosophie besteht nicht in Nachricht, sondern in Einsicht. Man kann nicht vom natürlichen Philosophen sagen: er habe viel gelernt, allein er kann viel lehren. Alle Vernunfterkenntniß aus Begriffen gehört zwar zur Philosophie, allein der Philosoph ist eigentlich ein Führer der Vernunft, und bringt den Menschen an Ort und Stelle. Der Mensch ist nicht bei sich, heißt oder sollte heißen: er habe diesen eigentlichen philosophischen Weg verfehlt. Die Bestimmung des Menschen, und die Mittel, dahin zu gelangen, das ist das Ziel, wo alle philosophische Erkenntniß zusammentrifft. Es ist die Probe der Philosophie. Der gemeine Mann meint und wünscht, und selbst dazu ist er ex speciali gratia privilegirt; der Weise denkt und will. Verstand und Wille zusammen ist eine Seele. Wer kann die Seele halbiren? Der Mann hat Geist und Leben, das heißt: der Mann ist ein Philosoph natürlicher Art. Zwar sagt man auch, dieß Buch hat Geist und Leben, allein alsdann denkt man, der Verfasser, ein Philosoph her besagten Art, hat es geschrieben und es sich so ähnlich[130] gemacht, daß er ihm etwas Geist und Leben abgegeben. Er hat es angehaucht – wie Gott den bis auf die Seele fertigen Adam. Der Mann ist im Buche getroffen! – – – Oft hab' ich gehört, wenn man den Mann sieht und sein Buch, sollte man sie wohl für Vater und Sohn halten? Ja – und wenn ihr sie nicht dafür haltet, liegt es an euch. Wie der Autor, so das Buch, per omnia saecula saeculorum. Jeder Physiognomist muß den Autor aus dem Buche abziehen und zum Reden treffen. Das Buch hat Hand und Fuß, der Mann hat Hand und Fuß, heißt ein Mann mit Winkelmaß und Wage, der alles mißt und paßt, und ein Buch von der nämlichen, richtigen, abgemessenen Weise, wo weder Mangel noch Ueberfluß ist, sondern just die erforderlichen Gelenke. – Die Naturphilosophie ist keine Feindin von reinen Vernunftsbegriffen, allein sie bestätigt sie, wenn ich so sagen soll, auf der Stelle. – Sie schafft sich gleich einen Abdruck – wie Gott die Welt. – Die Religion fängt heut zu Tage mit dem Katechismus, und die Philosophie mit einem Compendio an. – Allein in Wahrheit, man sollt' auf ein lebendiges Erkenntniß dringen, dann würde man doch einmal einen Philosophen zu sehen bekommen.

Rousseau, damit ich eine Bemerkung mache, die in unsern Tagen zu Hause gehört, Rousseau (Schade, daß er todt ist!) war wirklich eine Spectabilität unter den Philosophen. – Der bloße philosophische Künstler weiß nichts Rechtes, nicht daß ein Gott ist; der arme Schelm! Man könnte die natürliche: Philosophie και᾽ ἐξοχὴν die künstliche: Vernünftelei nennen. Die Vernünftelei und die Zweifelsucht sind Grenznachbaren. Ein Zweifler und ein Abergläubischer sind Schwester und Bruder. – Ein Zweifler macht sich sein Leben nicht gemächlich. – Nein, er hat sich mehr aufgelegt. Er hat Ja und Nein zu tragen, wenn er denkt. Im Fall er aber bloß spaßt, ist er nur ein Scheinzweifler, und ein Mann,[131] der alles der Nachfrage wegen hat. Man glaubt gemeinhin, ein Zweifler sey kein Vielwisser, allein er ist es im eigentlichsten Verstande, und es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wissen bläset auf. Wer Dinge, die gäng und gäbe sind, beprüft, und keinen Stein auf dem andern läßt, ist kein Zweifler, sondern ein Prüfer, im Fall er nämlich aus pro und contra, aus links und rechts, sich etwas auspunktirt, was Stich hält. Solch ein Mann ist nicht aufgeblasen, sondern bescheiden. Seine Zweifel leiteten ihn auf den rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahrheit und zum Leben. – Ein Lehrer der Naturphilosophie kann von sich und seinen Jüngern sagen: Ich leb' und ihr sollt auch leben. Wer hat je mit dem Pietisten über die Wahrheit der christlichen Religion gestritten? Wer so lebt als er lehrt, darf nur bitten, ihm die Ehre zu thun, bei ihm einzusprechen. Man ist heut zu Tage von der Naturphilosophie so abgekommen, daß man den, der so lebt als er lehrt oder glaubt, einen Schwärmer nennt. – Sehr unrichtig!

Meine Leser werden, hoff' ich, nicht vergessen haben, daß sie zu einem Piknik geladen sind, wo nur Se. Spectabilität und ich (meinen Vater kann ich immer mit einrechnen) ihr Schüsselchen austrugen. Wenn ein Koch diese Schmauserei angeordnet hätte, wär' es freilich abgemessener gewesen – ob schmackhafter, weiß ich nicht.

Ich bemühe mich auch hier, Lebensläufer zu seyn, und diese Abschrift ist dem Original ähnlich. – Wir fielen von einem aufs andere. Wir scheitelten die Haare nicht. Würd' ich nicht einen Roman schreiben, wenn ich nicht auch von einem aufs andere fallen und die Haare scheiteln sollte? Ein Roman! fern sey er von mir!

Die Eintheilung der Philosophie in die natürliche und künstliche ist die Haupteintheilung, die philosophische Eintheilung der[132] Philosophie. Sonst gibt es Eintheilungen Gott weiß wie viel! – In Absicht der Kräfte des Menschen, in Absicht der Principien, in Absicht der Objekte, der Erkenntnisse.

Ein Philosoph muß das Allgemeine in concreto und das Einzelne in abstracto erwägen, und wenn man gleich gern zugibt, daß bei jeder Wissenschaft die Idee des Ganzen die Avantgarde macht, und daß aus der Eintheilung des Ganzen die Theile entstehen, und daß, um die Theile zu wissen, man erst das Ganze von Personen zu kennen die Ehre haben müsse, so ist doch nicht gut, wenn ein erschrecklicher Eingang präludirt und prologirt wird, ehe man zum Thema schreitet, auch wenn die Präludia, wie die des Hermanns, noch so ausstudirt sind. Wozu die Prolegomena und das erschreckliche Geschrei: da werden Sie sehen! da werden Sie sehen! Gleich das Lied ist am besten! Wenn ich heißhungrig bin, und der Wirth, der mich geladen hat, zeigt mir erst seine drei Porcellanservice und sodann sein Silberzeug, und endlich seine Fayence, bis ich mich überhungert und keine ordentliche Mahlzeit thun kann, wie wenig Ursache hab' ich, den Wunsch einer gesegneten Mahlzeit anzunehmen und mich ergebenst zu bedanken; ich wollt' anbeißen und nicht mit der Gabel anspießen. Warum nicht kurz präsentirt: Herr Gott, dich loben mir. Befiehl du deine Wege. Philosophie! Verstandes- und Willensphilosophie, theoretische und praktische, wenn es ja nach der alten Leier gehen soll. Vernunft-und Erfahrungsphilosophie. Empirische und rationale, und damit die Eintheilung in Rücksicht des Objekts nicht vernachlässigt werde – Philosophie der engelreinen Vernunft und der menschlichen Sinne. Die Philosophie der Sinne heißt die Naturlehre. Die Sinne sind zweifach, innerlich und äußerlich. Was ich mit dem innerlichen Sinn gewahr werde, ist einzig und allein meine Seele. Also gibt's Seelennaturlehre und Körpernaturlehre. – Empirisch und rational kann jene und diese seyn, und[133] was kann nicht alles so seyn? – – Ich kann zwar nur mit mir selbst Seelenbetrachtungen anstellen, allein ich kann nach dem Kennzeichen der Uebereinstimmung auf andere schließen. Welch ein großes Wort: Lerne dich selbst kennen! – Mancher Philosoph, der sich auf die Seelennaturlehre legt und viel darin philosophirt. kommt endlich zu einer Art nota bene, zu einer Art von Geisterseherei, von Anschauung vom Platonismus und mystischem Wesen. Es wird entzückt, und wenn man gleich mit dem Verstande nicht sehen, sondern nur denken kann, so ist er doch in einer Verfassung, wo es heißen könnte: Es hat kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, es ist in keines Menschen Herz kommen, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben. Oft versehen sich diese guten Leute so, daß sie an ihren Ort gestellt werden, der nicht der angenehmste ist. – Biegen oder brechen ist die Losung dieser Seher. Jammer und Schade, daß es gemeinhin bricht!

Ist denn in den äußern Sinnen Wahrheit, ihr Sinnengläubige? Gehet die Sonne an, geht oder steht sie? Selbst wenn unser Urtheil mit der Erscheinung übereinstimmt, und wenn man sagen kann, die Sache ist wahrscheinlich, ist sie darum so und nicht anders?

Gott allein kann die Gegenstände mit dem Verstand anschauen, denn sie sind durch ihn und in ihm. – Er hat alles in originali, wir uns selbst nur so. – Was heißt: Gott schauen und in Gott alle Dinge? – – Durch eine einzelne Vorstellung erkennen, könnte man anschauen nennen, durch allgemeine Begriffe erkennen, würde denken heißen. Man kann physisch und mystisch schauen, durch Körper- und Seelenaugen. Die Seele hat, nach der Mystiker mystischem Dafürhalten, wie die Cyclopen nur ein Auge.

Die Logik ist Verstandesgrammatik. Die lehrt uns von keinem Gegenstande etwas – selbst vom Verstande nichts; allein sie lehrt uns von Dingen, die wir gar nicht kennen, viel, und was noch[134] mehr ist, gelehrt – reden. Von Dingen, die man weiß, von denen man überzeugt ist, spricht man nur wenig. Man handelt wie oben gezeigt worden. Dingen aber, von denen man nicht überzeugt ist, legt man durch eine gewisse Hitze einen Grund bei. Man legt es recht dazu an, sich dadurch, daß man den andern überzeugt, auch selbst zu überzeugen, und oft ist man hiebei glücklich, so daß man in der That auch hier durchs Lehren lernt. Es kann eine allgemeine Grammatik aller Sprachen geben, so auch eine des Denkens, die nämlich allgemeine Regeln des Denkens enthalten müßte. Was thun Wörter zur Grammatik! Allgemeine Regeln der Sprachen würde eine allgemeine Grammatik seyn. Vielleicht hätte die lateinische dazu alle Anlage. Die Dialektik ist die Logik des Scheins. Wahrheit ist der Inhalt der Erkenntnisse, mithin kann sie durch die Dialektik nicht erkannt werden. Die Dialektik trägt die Livree des Verstandes, sie ist die Kunst des Scheins, die Wissenschaft der Sachwalter und der Skeptiker. – Die Römer waren nicht speculativisch in der Philosophie, sondern gesund. Sie waren nicht Aristoteliker, sondern Menschen. Den Cicero machten die Wissenschaften ruhig, denn er sprach wenigstens, wie Sokrates lebte, und schon diese von der Naturphilosophie entzündeten Worte wehten ihm Ruhe zu. – Durch die Scholastiker ist dem Summus Aristoteles ein Ehrengedächtniß gestiftet. Der Ausleger weiß immer ein Drittel mehr, als sein Autor; so geht es immer, und so ging es auch hier. Man findet von diesem Greuel der Verwüstung noch Ueberbleibsel und vorzüglich sind diese Antiquitäten noch in der Logik zu sehen. – Da gibt es Alterthümer die Menge. (Einen Winckelmann bei den Antiquitäten der Logik wünschte ich bloß der Seltenheit wegen; dieses ist ein Wunsch, der ohne Fingerzeig weit jünger als mein Examen ist.)

Des Aristoteles, Gott verzeih' mir meine Sünden! oder vielmehr seiner Ausleger wegen – denn wahrlich, er für seine[135] Person war ein Mann, der sich gewaschen hatte – sollte man eine Feindschaft wider alle undeutsche Namen in der Philosophie haben. – Die Ausleger! was sind sie meistentheils und was sind sie in casu besonders? Kanäle in die Kreuz und Quer, die dem Lande die feuchte Kraft nehmen und den Reisenden hindern.

Viele behaupten, daß wir mit Erkenntnissen auf die Welt kommen, die man allmählig herausspinnt, wie Garn aus Flachs, Diese halten die Seele für eine beschriebene, andere halten sie für eine unbeschriebene Tafel. Beide für Tafeln von Wachs, und nicht von Stein wie die Tafeln Mosis. Alle Sünden aus der Erbsünde herleiten, heißt: eben dadurch eine wirkliche Sünde mehr begehen. Es waren schon Weise des Alterthums, die der Meinung waren, daß alles noch Ueberbleibsel von unserer vorigen Gemeinschaft mit Gott wäre, daß alles, damit ich mich deutlich und christlich ausdrücke, aus dem Paradiese herkäme. Was mein Vater von angebornen Begriffen dachte, konnte ich nicht anbringen, Se. Spectabilität überkreischten mich, und was Se. Spectabilität davon dachten, ergibt sich ziemlich deutlich aus dem Vorigen. Sie glaubten, der Tisch sey nicht mit Essen und Trinken besetzt; allein auf dem Tisch stände ein Beutel mit Ducaten und Thalern, groß und klein Geld, je nachdem die Fähigkeiten sind, Essen und Trinken anzuschaffen. Die Erkenntnisse mögen nun aus den Sinnen geschöpft werden, oder die Sinne mögen bloß Gelegenheitsmacher seyn; dieß sey der Weg zur Erkenntniß.

Es ist die Frage, ob wir alle gut, alle böse, oder bald gut, bald böse auf die Welt kommen?

Wenn wir in die Höhe wollen, müssen wir steigen. – Wenn der Mensch alles aus dem lieben Gott beweiset, so will er ohne Leiter auf den Kirchthurm; glückliche Reise! So philosophiren, nenne ich einen leichtsinnigen Eid schwören. Man muß sich nicht anders auf Gott berufen, als bis Noth am Mann ist. Du sollst[136] den Namen deines Gottes nicht unnützlich führen! – Eure Rebe sey ja, ja, nein, nein, was drüber ist, ist vom Uebel. So wie sich Gott durch die Werke offenbart hat, und der Mensch von allen Geschöpfen, die wir die Ehre haben zu kennen, sein Meisterstück ist, so will er auch keinen Sprung zu ihm hinauf, sondern will, daß es sein in dem Geleise der Natur bleibe, die nicht springt. Die Instanzen, die Gott angeordnet hat, müssen nicht übergangen werden. Schein ist ein Urtheil, das aus der falschen Anleitung des Verstandes entspringt, Wahrheit ist die Uebereinstimmung der Erkenntniß mit dem Gegenstande. Wenn also gefragt wird, was ist Wahrheit? reine gediegene Wahrheit? so kann man nicht besser drauf antworten, als Wahrheit ist Wahrheit. Wenn mir nicht ein Gegenstand gegeben wird, so kann ja auch keine Probe der Uebereinstimmung gezogen werden. Eine Erklärung der Wahrheit in der Art zu geben, daß sie auf alle Objecte ohne Unterschied paßt, ist unmöglich. Jeder hat seine Uhr, jeder seine Brille, jeder sein Pferd – und jeder seinen Hund, seinen Argos, setzte Herr v. G. hinzu. Ein allgemeines Wahrheitsmerkzeichen, wo ist es? Eine Regel, die alle Objecte umfaßt und sie herzt und küßt, wo ist sie? Ich muß vergleichen Erkenntniß und Gegenstand; wenn ich aber keinen Gegenstand habe, wie kann ichs? Vielleicht könnte sie die Uebereinstimmung der Erkenntniß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft heißen, und der Irrthum, der Widerstreit der Erkenntniß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft – vielleicht!

Die Seele in jeder Sache, oder dasjenige in der Erkenntniß von ihr, was in allen Vorstellungen, die wir von der Sache haben können, gilt, ist daß Wahre darin.

In so weit sich eine Sache nicht widerspricht, in so weit ist eine Seitenwand zum Wahrheitsgebäude fertig, in so weit ist eine Bedingung da, unter der etwas wahr ist. Wer kann und will aber sagen: Alles, was sich nicht widerspricht, ist wahr? Es[137] kann wahr werden. Es ist in Gott wahr, jeder Gedanke bei ihm steht da. Das Principium des Widerspruchs ist immer ein negatives Wahrheitskennzeichen. Es ist nur eine Laterne in der Hand, allein es gehört mehr dazu, als meiner Mutter Handlaternchen, wenn man hier sicher und unangefallen an Stelle und Ort kommen soll.

Die Sinne lehren das Formale eines Dinges, der Verstand das Materiale. Das, wodurch das Mannigfaltige auf gleiche Art gedacht werden kann, heißt Regel. Der Verstand ist das Vermögen der Vorstellungen nach Regeln. Wir haben viele Vorstellungen, die wir nicht wahrnehmen, deren wir uns nicht bewußt sind. Man kann mit einem Menschen sprechen, ohne daß man weiß, was er für ein Kleid hat, und man kann denken, ohne daß man es wahrnimmt. Ein abstrakter Kopf ist, der so denkt, daß er nur immer auf das sieht, was den Begriffen gemein ist. Das Vermögen, sich Dinge durch Begriffe vorzustellen, heißt denken. Einen Begriff analysiren, ihn klar machen, ist ein Hauptstück der Philosophie. Sie macht Gold; denn wenn es aus der Erde kommt, ist es Erde, durch Läuterungen wird es Gold. – Ein Moralphilosoph kann keinen Buchstaben mehr als dieß. Läge der Begriff der Tugend nicht in uns, wie könnten wir von ihm überzeugt werden? Wie? – Begriff, Urtheil, Schluß, major, minor, conclusio! Ein Uebergang von einem Urtheil zum andern heißt Schluß. Major enthält mehr in sich, als das Subject quaestionis. Es ist der Vater vieler Kinder, Söhne und Töchter. Ehe man sein Zimmer bezieht, steht man den ganzen Palast. – Das Prädicat ist größer als das Subject. – Es behaupten einige: Empfindung wäre die größte Wahrheit; allein sie gibt nur Stoff zum Urtheil. Die Sinne urtheilen nicht, die Vernunft urtheilt. Die Sinne sind Stahl, Feuerstein und Zunder. Zum Irrthum (Heil mir und meinem Buche!) gehört so gut als zur Wahrheit Verstand. Die Unwissenheit[138] allein kann sich ohne ihn behelfen. Der Verstand wird beim Irrthum anders gewendet. Beim Irrthum ist Illusion des Verstandes. Sinne und Verstand sind Wasser und Wein. Wer hat Wein ohne Wasser getrunken? Schon in der Traube ist Wasser.

Jedes muß sein Maß und Gewicht haben. Die Schranken des Verstandes bringen nicht Irrthümer hervor, sondern nur weniger Erkenntnisse. Ein engbegrenzter Verstand irrt weniger als ein großer! Bei Gelehrten sind mehr Irrthümer, bei gemeinen Leuten aber mehr Vorurtheile. – Wenn man den Menschen bindet, so läuft er nicht davon. – Man sagt von großen Genies, ihre Irrthümer, ihre Fehler wären schön. – Schmeichelei!

Ein Kleid hebt das Gesicht. Ein kleines Männchen kann so richtig gebaut seyn, als der größte; es kommt nur auf das Verhältniß unter den kleinen Theilchen an. Irrthum, wenn ihn ein Kluger begeht, ist Taschenspielerei; es gehört ein Auge dazu, den Trug zu entdecken, und dieß Auge hat nicht jeder. Irrthum liegt oft in Sätzen, oft in der Anwendung dieser Sätze. Ein Fehler in Absicht der Sätze heißt wirkliche, in Absicht der Anwendung Schwachheitssünde.

Erst buchstabiren, dann lesen, sagten unsere lieben Alten. – Erst ein Urtheil über Bausch und Bogen, dann ein richtiges. Erst der Läufer, dann der Herr. Wer in seinen vorläufigen Urtheilen das rechte trifft, heißt: ein Glückskind, oder sollte es eher heißen, als der, in dessen Familie viele alte Tanten sind. Es wäre wohl werth, ein Buchstabirbuch in diesem Verstande, in diesem Sinn, herauszugeben, und über die vorläufigen Urtheile eine Anleitung zu ertheilen. Die Franzosen sind vorläufige Urtheiler. – Der erste Gedanke ist oft der beste, und in Wahrheit, es gibt vorläufige Urtheile, die werth sind in Rahmen gefaßt zu werden.

Vorurtheile sind Urtheile aus der bloßen Sinnlichkeit, die man für Urtheile aus dem Verstande hält. Die Sinnlichkeit läuft dem[139] Verstande vor. Den Grund, den wir haben, von einer Sache zu urtheilen, der aber nicht aus den Gesetzen des Verstandes genommen ist, heißt ein Vorurtheil. Die Eltern haben Vorliebe zu ihren Kindern, hieraus entsteht eine Vorsprache, welches die Redekunst des Vorurtheils ist.

Ein Vorurtheil ist eine Lüge, nur daß sie nicht immer vom Vater, dem Teufel, ist.

Große Köpfe stiften viel Gutes, allein auch wahrlich viel Unheil, denn sie werden verehrt, und niemand untersteht sich, weiter zu gehen. Sie sind ein Wall, den kein Remus zu ersteigen sich unterfängt. Jeder Mensch hat seinen Hang, seine Meinungen andern mitzutheilen, und der Gelehrteste ist nicht gleichgültig gegen das Urtheil seiner Wäscherin und seines Ofenheizers. Die Methode ist dogmatisch über apodiktische Wahrheiten, und dieß ist die Methode der Unterweisung und Behauptung. Die Methode ist aber skeptisch, polemisch, wo man erst untersucht, ob etwas apodiktisch heißen kann. Dieß ist die Methode der Untersuchung, Beprüfung oder Kritik. Die polemische Methode ist die Läuterung, das Sterben, die Verwesung in der Kenntniß, ehe wir zum Licht und Leben kommen. Die skeptische Philosophie ist hievon unterschieden, von welcher wir oben loco congruo schon ein Wörtchen gewechselt. Zweifeln und sein Urtheil aufschieben ist so unterschieden, als vorurtheilen und nachurtheilen.

Hier eine schöne Predigt über die Worte: der Glaube kommt durch die Predigt, viva vox docet.

Ein mündlicher Vortrag verräth die Art zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangekleidet. Beim Hören denkt man immer mehr als beim Lesen. Hören ist auch natürlicher als Lesen. Zwar können auch Bücher erbauen, allein es ist hier das nämlich Verhältniß wie zwischen Kirchen- und Hausandacht.

Man muß beim Lesen die Seele des Buches suchen und der[140] Idee nachspüren, welche der Autor gehabt hat, alsdann hat man das Buch ganz. Zuweilen ist freilich die Seele schwer zu finden, wie bei manchem Menschen sie wahrlich auch schwer zu finden ist. Der Verfasser selbst würde Mühe haben die Seele aus seinem Buche herauszurechnen – indessen hat jedes Buch eine Seele, etwas Hervorstehendes wenigstens, und gemeinhin pflegt sich hiernach das übrige zu bequemen.

Es scheint in der Welt bei allen Sachen eine Fibel nöthig zu seyn, überall ein gewisser Mechanismus, überall eine Schule, eine Akademie. – Wer nur ein Buch liest, vergißt, daß das Jahr vier Jahreszeiten und daß jeder Tag vier Tageszeiten habe. Man lese vier Bücher auf einmal, und man wird finden, daß dieß dem Gemüthe Erholung sey. Ein einziges Buch lesen heißt im Seelenverstande den Pflug führen oder dreschen. – Neue Beschäftigung ist wahrlich Erholung. Warum ist die Gesellschaft Erholung? Weil ein kluger Mann hier mehr als ein Buch liest. Der hat es weit gebracht, der Menschen lesen kann!

(Gott weiß, dieß ist ein großes Studium! Die schönste Gegend, was ist sie gegen einen Menschen? Und wer die Gesellschaft aus diesem Gesichtspunkt nimmt, kann gelehrt werden ohne ein gedrucktes Buch, das ohnehin selten Leben hat.)

Es gibt einen gewissen Lesegeiz, alles, was man liest, in seinen Nutzen zu verwenden. – Einen Lesevielfraß, alles zu verschlingen – und da ereignen sich oft Kopfdrücken und Verschleimungen. Sich in einem Buche betrinken heißt: darüber Sehen und Hören vergessen und es so vorzüglich finden, daß nichts drüber ist. – Wenig und gut lesen ist großen Köpfen eigen. Es ist schwerer so schreiben als so reden, daß es einen interessirt. Das beste ist, sich selbst herausdenken, nicht bei Hand- und Lehrbüchern, sondern bei seinem Genie in die Schule gehen und ihm Folge leisten, und die Logik dem natürlichen Gange seines selbsteignen Geistes, sowie[141] die Moral seinem Gewissen zu verdanken zu haben. Wohl dem, der sich von allem entkleiden kann, was nicht er selbst (das letzte Hemde nicht ausgenommen) ist! Wohl dem, der seine Willkür dem Gesetz der Wahrheit und der Tugend unterwirft; wohl dem, der Wesen vom Schein, Schatten vom Licht absondert; Menschenfurcht, Menschenehre und den ganzen unwürdigen Troß von Vorurtheilen, sie mögen gleich die höchste Stufe des menschlichen Lebens und ihre Achtzig erreicht haben und mit dem regierenden Hause in Einverständniß leben, vom Hauptpastor canonisirt und vom Professore Philosophiae ordinario als ein Anhang vom Catechismus der Vernunft beigebunden seyn, für das hält, was sie sind – Menschensatzungen und Tand! – – Wohl –

Alles Rationale zusammengenommen heißt Metaphysik. Sie ist die Seele der Philosophie. Die Metaphysik enthält Urtheil des Verstandes, abgesondert von aller Erfahrung und von allen Verhältnissen der Sinne, wenn z.B. von der Möglichkeit, Zufälligkeit u.s.w. gehandelt wird. Hier reden, wir nicht vom Schein, sondern vom Seyn, um dem Drosselpastor nachzuahmen. Die Metaphysik hat kein Verhältniß zu den Sinnen. Es will hier alles geistig gerichtet seyn. Sie ist ein Lexikon der reinen Vernunft, ein Versuch, die Sätze des reinen Denkens in eine Tabelle zu bringen. Was in der Logik Urtheile sind, sind in der Ontologie Begriffe, unter die wir die Dinge setzen, Titel des Verstandes, Inhalt der Vernunft. Die Metaphysik muß kritisiren. Ihr Gebrauch ist negativ, wenn –

Wir waren im Begriff, uns recht viel Metaphysik ins Auge zu streuen, allein, siehe da! die Hausmütze Sr. Spectabilität, die Großmutter, würgte die Thür auf und blickte durch ein Ritzchen. Man sah, daß die alte Frau noch einen Brand im Auge hatte. Sie schlug einen Strahl ins Zimmer. Dieser Wink sollte ihren lieben Ehegatten zum Schluß bringen, weil sie unfehlbar beim[142] Großsohn den Abend versprochen waren. Man sah es Sr. Spectabilität an, daß Sie wußten, was man einem Blick durchs Ritzchen schuldig wäre. Es ging über und über. – Ich weiß nicht, ob ich dieß über und über schriftlich werde nachmachen können.

Die moralischen Maximen, singen Se. Spectabilität nach diesem Blick durchs Ritzchen (ich weiß nicht warum?) an, zeigen, wie ich der Glückseligkeit würdig werden könne, die pragmatischen zeigen, ihrer theilhaftig zu werden. Die Moral lehrt, der Glückseligkeit würdig zu seyn; ihrer theilhaftig zu werden, ist eine Lehre der Geschicklichkeit. Es ist nicht möglich, die Regeln der Klugheit und der Sittlichkeit zu trennen. Es ist kein natürlicher Zusammenhang zwischen dem Wohlverhalten und der Glückseligkeit; um es zu verbinden, muß man ein göttliches Wesen annehmen. Ohne dieß kann ich keine Zwecke in der Welt finden, keine Einheit. – Ich spiele in der Welt blinde Kuh. – Ohne Gott hab' ich keinen Punkt, wo ich anfangen soll, nichts, was mich leitet. Gott ist groß und unaussprechlich! – – Die Menschen bedienen sich ihrer Vernunft a priori zum Nachtheil des praktischen Gebrauchs, wenn sie nicht durch künstliche Schranken zurückgehalten werden. Dieses ist auch die Pflicht der Metaphysik.

(Zehnmal singen Se. Spectabilität quid est? an, und zehnmal macht' ich eine Verbeugung, um ihn vom Fragen abzubringen.)

Das erste, was ich bei mir gewahr werde, ist das Bewußtseyn, dieß ist kein besonderes Denken, sondern die Bedingung und die Form, unter der wir denkende Wesen sind. Wie schön bauen und wirken nicht manche Thiere, wie nah' kommen sie uns nicht auf die Seele; allein eins, was nicht ersetzt werden kann, das Bewußtseyn, fehlt, und wahrlich, es fehlt wenig, und es fehlt viel![143] Mein Reisegefährte wollte wegen der Hunde einwenden, indessen konnt' er nichts mehr als husten.

Alles, was da ist, ist im Raum und der Zeit. Raum und Zeit sind Formen der Anschaunngen, sie gehen den Erscheinungen vor, wie das Formale dem Wesentlichen. Ich muß Zeit und Raum haben, damit, wenn Erscheinungen vorfallen, ich sie hinstellen und beherbergen könne. Die Objecte der äußern Sinne werden im Raum, die der innern Sinne in der Zeit angeschaut. Hier ein ganz kleiner Commentarius über den theologischen terminum technicum Zeit und Raum zur Buße, der, wie Se. Spectabilität sich ausdrückten, nicht außerm Wurf läge. Wie vielen Dingen mußten wir auf der Stelle, des Blicks durch die Ritze wegen, einen Scheidebrief geben. Wir nannten bloß ihre Namen und behalfen uns damit, daß wir diese Namen nannten und uns einander zulächelten. – Ein wahres Examen!

Bei reinen Verstandesbegriffen haben wir keine Begriffe von Sachen, sondern nur Titel, worunter wie uns eine Sache denken können. Durch diese Titel können wir nichts ausrichten, außer wenn wir sie auf Gegenstände der Erfahrung und Anschauung anwenden. Wer kann aber, ohne die Titel des Verstandes vorauszusetzen, wer kann Erfahrungen anstellen? wer Fische ohne Netz oder Hamen fangen? Die Metaphysik enthält alles und enthält nichts. Sie macht nichts von den Gegenständen aus, allein ohne sie kann man nichts von Gegenständen ausmachen. Sie ist das Zollhaus, die öffentliche Wage der philosophischen Erkenntniß. Sie enthält Titel des Denkens, allein keine Prädicata der Dinge. Nur die Erscheinungen verleihen Begriffe von den Dingen.

Vernünftelei (Se. Spectabilität wurden von einer Mücke verfolgt, die um sie herumsauste und sich nicht haschen ließ) ist das, was kein Object hat. Was eine Bedingung der Vorstellung und des Begriffs vom Gegenstande ist, machen wir oft zur Bedingung[144] des Gegenstandes selbst, die subjective Bedingung zur objectiven. – Die Mücke verhinderte Se. Spectabilität, dieses Thema weiter auszuführen. Im Ernst, die Mücke hätte nicht besser ihre Sache machen können, wenn sie von der Frau Gemahlin Sr. Spectabilität wär' auf den Hals geschickt worden.

Der analytische Theil der Metaphysik enthält Definitionen meiner Begriffe, der synthetische Bereicherung von Erkenntnissen. Der Begriff von den Monaden muß billig nur auf denkende Wesen gedeutet werden, singen Se. Spectabilität mit einem frischen Athemzuge nach einer geendigten Cadenz an, und schienen noch sehr viel Metaphysik auf Ihrem Gewissen zu haben, allein die Thüre ging auf. – – Wir sahen ein Großmütterchen in Sterbensgröße, denn sie war so zusammengefallen, daß man Kegel mit ihr schieben können, wie Hr. v. G. bemerkte. Was für Feuer im rechten Auge! Damit hatte sie durch die Ritze geblitzt; das linke Auge war schon aus der Welt gegangen, es war stumpf und todt, als wenn eine Blatter darauf gefallen wäre, allein das war es nicht. Die Zeit hatte es so abgefeilt. – Die Tochter, fing sie an, und ohne sie auszuhören, schrie die überfallene Spectabilität – gleich, gleich! – Nur das Signum depositionis. Er schrieb uns einen Passirzettel, einen Freibrief, womit wir uns noch bei Sr. Magnificenz zu melden hätten.

Während der Ausfüllung dieses gedruckten Zettels wandt' er sich zu mir:

Sie, fing er an, werden sich wohl der Universität widmen?

Ich? fragte ich etwas einfältig.

Der Herr v. G. nicht, erwiedert' er.

Ich auch nicht!

Alles, was geschieht, hat seine Ursache, fuhr er fort, und warum?[145]

Es war sogar, mit Ew. Spectabilität Erlaubniß Streit, ob ich gar auf eine Universität gehen sollte?

Dieser Streit war wohl gewiß generis feminini, und die Frau Mutter?

Ich. Wenn sie daran Theil nahm, so geschah es bloß, um den Akademien Ruhm, Preis und Ehre zu geben und Stärke und Kraft, denn sie behauptete, daß das Paradies die erste Universität gewesen, weil die ersten Eltern relegirt worden.

Der neue Großvater lachte herzlich über diesen Einfall und – machte mir viele Complimente auf Rechnung meiner lieben Landsleute.

Der eine der Landsleute, der uns zu Sr. Spectabilität begleitet hatte, war die ganze Zeit über in Seelennoth gewesen. – Es waren ihm alles böhmische Wälder, bis aus Casimirus IV., König von Polen, welcher vom König in Schweben, Carolo Canuto, in Danzig examinirt ward, und mit seinem ganzen Hofstaat kein Latein verstand. Diesen König kannte er par renommée, alles übrige war ihm dicke Finsterniß. Er erzählte mir beim Weggehen, daß er gefürchtet hätte, der Professor würd' ihn aus Höflichkeit ein Wörtchen mitfragen.

Und wenn? sagt' sich.

Bruder, erwiederte er, Deutsch, Latein und Griechisch – alles war mir gleich unverständlich.

Wegen der zwölf Tafeln fragt' er mich im Vertrauen, wie der gute Professor auf zwölf Tafeln gefallen wäre, da ihm doch nur zwei steinerne Tafeln bekannt wären? – und mußt' ich ihm erklären, daß Se. Spectabilität nicht von den Tafeln Mosis geredet hätten.

Ich erinnere mich an ein Versprechen zurück. Den Regen kennen meine Leser, allein die Traufe bin ich ihnen noch schuldig.

Nachdem das Signum depositionis unterschrieben und besiegelt[146] war, und wir uns der Gewogenheit Sr. Spectabilität, als unseres Vorgesetzten, empfohlen hatten, sagten Se. Spectabilität lächelnd zu mir:

So wünsch' ich Ihnen denn ein Secessum, Secretum, Angulum das ist ein Pastorat in Ihrem Vaterlande, damit Sie bald Ihre zurückgelassene Schöne heirathen können.

Das war die Traufe. Ich weiß nicht, was ich geantwortet, nur das weiß ich, daß es nicht griechisch, nicht latein, nicht deutsch war, und daß ich mich gern noch einmal lieber examiren lassen wollen, als –. Se. Spectabilität beschlossen den ganzen Actum mit einer güldenen ABCregel: Minus est actionem habere, quam rem.

Unser Begleiter begegnete mir mit einer ganz vorzüglichen Achtung. Beim Schmause sagt' er der ganzen Landsmannschaft, was ich für ein Kerl wäre, und daß ich von zehn Tafeln mehr wüßte, als er bis heute gewußt hätte. Man versicherte mich, daß kein Curländer bei Menschengedenken durch so viel Trübsal des Examens in das akademische Reich eingegangen wäre, und daß besonders Se. Spectabilität gar kein beißiger Hund wären.

Wer Henker, setzt er hinzu, konnt' es wissen, daß er eben die Nacht vorher Großvater geworden. – Ich dachte bei dieser Gelegenheit an den Backofen, der bei meiner Geburt, – wie der Tempel zu Ephesus, als Alexander geboren ward – abbrannte, und hatt' in Verbindung mit diesem Examenvorfall, nach meiner Mutter Anweisung, recht erbauliche Gedanken. Das Testimonium unseres Begleiters setzte mich in eine solche Achtung bei meinen Landsleuten, daß ich dux, fax et tuba war, und kein Duell konnte vorfallen, keine Fackel angezündet, keine Musik gebracht werden, wo mir nicht, der zwölf Tafeln wegen, ein votum decisivum wär' eingeräumt worden.

Bald hätt' ich Se. Magnificenz vergessen, wohin uns Se.[147] Spectabilität sandten. Gott verzeih' mir meine Sünd', ich dachte, von Pilatus zu Herodes.

Se. Magnificenz sahen den weißen Stein, den wir aus den Händen Sr. Spectabilität mit hatten, und wollten uns anfänglich auf den Stein und Bein des Albrechts, Stifters dieser hohen Schule, schwören lassen, allein sie besannen sich eines andern, eines Bessern, und verwandelten den Eid in einen Handschlag – worauf wir die akademischen Gesetze erhielten und mit großen Siegeln zu den lieben Unsrigen nach Hause kehrten, wo uns die Landsmannschaft mit einem curischen Liedchen bewillkommte. Jede Strophe ward mit einem Lihgo oder Frohlocken beschlossen. Es war mir, als wär' ich mit dem Ritter Jachins und seinen Leuten zusammen.

Unsere Landsleute besahen die großen Siegel und die Schriften; als wenn sie ihnen was neues wären, und bliesen den Sand von unsern Taufscheinen. – – Kinder, hieß es am Ende, ihr kriegt darauf nicht einen Dreier geborgt.

Ich muß noch einen Vorfall nachholen, der in dem Hause Sr. Magnificenz auf mich zukam.

Der Edelmann, sagten Sie, zahlt doppelt, und hat die Ehre, einen Degen zu tragen, der in preußischen Staaten dem bürgerlichen Studenten wegen vieler vorgefallenen Schlägereien verboten ist. – Die auswärtigen Familien sind uns indessen nicht so bekannt (mit einem Fragzeichen), also beide Edelleute? Mein Reisegefährte nahm hier das Wort, wie ich beim Latein. Beide, sagt' er. – Verzeihung, Bruder, erwiedert' ich –

Es verdroß mich, daß ich in einem fremden Lande, wo ich mein Geld und, im Fall der Noth, mein ἀνέχου καὶ ἀπέχου auszugeben Willens war, und wo es keinen was anging, ob ich als Edelmann oder als Bürger äß' und tränke, durchaus Adel oder Unadel documentiren sollte – und wie? dacht ich, hat man[148] hier zur Ruhe des Degens, wenn ihn der Edelmann trägt, ein besseres Zutrauen, als wenn ihn ein Bürgerlicher angelegt hat?

Ich bezahlte wie ein Edelmann, allein ich bat sehr, mich als Bürgerlicher in Album Studiosorum einzuführen. Dieß fiel Sr. Magnificenz nicht wenig auf. Da aber dieselben die vorige Nacht nicht Großvater geworden waren, so gaben dieselben weiter nichts darauf, sondern nahmen, was Ihnen gebührte, und wünschten wohl zu leben.

Ich konnte nicht umhin, von diesem Umstande gegen meine bürgerlichen Landsleute Gebrauch zu machen; allein diese lachten herzlich über meine Einfalt. – »Den Edelmann dir so nah zu legen und ihn nicht zu nehmen!« – Und eine Lüge? »Sie wird ja bezahlt.« – Und wenn ich heim komme? »Ja, dann müssen wir freilich Ew. Hochwohlgeboren oder mein Gönner sagen, indessen sind wir doch Literati.« – Daß euch Gott helfe, dacht' ich, Literati, ohne von keinen Tafeln mehr als von den zweien des Moses zu wissen!

Der Abend ward mit Essen und Trinken und Musik zugebracht. – Einige gaben dem Abreisenden das Geleite, und da in der ganzen Straße, so weit nur das Gesicht reichte, die ganze Nacht hindurch Licht brannte, so brachte mich dieses auf die Frage: was diese Erleuchtung und nachbarliche Aufmerksamkeit zu bedeuten hätte? Die Antwort unseres Vorfahrs war: Seht da, Kinder! so viel Lichter, so viel Mädels, die ich euch unentgeldlich lasse; indessen will ich wohlmeinend anräthig seyn, daß sich jeder eins oder zwei aussondere und die andern fahren lasse. Sonst geht es euch wie mir! Diese, jene, dort, hier, die, da, diesseits, jenseits, links, rechts, kurz, in all' den Häusern, die ihr seht, sind Mädchen, die den ganzen ausgeschlagenen Tag, von früh bis in die sinkende Nacht, im Fenster liegen und liebäugeln, die guten Dinger! Man sieht ihnen den Verdruß an, daß sie nicht Mittag[149] und Abend am Fenster halten können. – Ihr könnt es nicht glauben, wie die Mädchen unserer Landsmannschaft treu, hold und gewärtig sind. Ein Präsentchen, und ihr habt das ganze Spiel gewonnen. – Glaubt mir, die all' zusammen, wo ihr Licht seht, waren mein! Sie sahen mich so steif und fest an, als ob sie mich mit den Augen fassen wollten. Die guten Dinger! Und ich sah sie all' zusammen so (der Himmel weiß, wie mein Aug' auf diese Art ausfiel), daß jede glaubte, ich sähe nur sie an. Ich regierte hier wie ein Sultan, hol' mich der Teufel! nur daß jedes Fenster glaubte, es hätte mein Schnupftuch. – Die guten Dinger! Die eine da, ein Aug' in Himmelsblau getaucht – der, den sie mit diesem Aug' ansieht, glaubt, er sähe den Himmel in Miniatur. – Wenn ich sie zuweilen (denn sie verdient' es) ganz allein ansah, dann, dann! fragte mich ihr Auge so, daß es mein Innerstes hören konnte: ist's auch wahr? und wenn ihr mein Auge vorlog: ja, es ist wahr! o wie zitterte dann süße Verwirrung in ihrem Auge, recht als ob wir zur Trau gehen sollten und noch weiter. – Das ist ein Mädchen, so ich dir gönne (er wandte sich zu mir). Ihr Athem göttlich, Bruder! Wen sie anhaucht, von dem könnt' es heißen: Also ward der Mensch eine lebendige Seele! Sie spielt eine Laute, Bruder! Des Abends im Sommer, wenn sie am Fenster diesem Instrumente die Zunge löst – Zephyrs, die eben der Hitze halber Mittagsruhe gehalten – denn es ist im Sommer hier sehr heiß – flatterten ganz frisch und munter herum und brachten mir alles, bis auf die geheimste Bebung zu. Auf Ehre, in jedem Finger hat sie eine Seele! und wenn alle diese Seelen eine Ton herausbrächten – Bruder, da ist die Nachtigall ein Kind! – Leb' wohl, Amalia! leb' wohl! Ich laß dir einen braven Jungen zurück, der auch Bebungen versteht. Schau, wie sie die Laute hält und wie sie das Ordensband sich so leicht umhängt, als flöss' es, Bruder! – Die Laute ist an sich ein so[150] gutherziges Instrument. Amalia trauerte jüngst, und da kam die Weiße ihres Arms aus der Dunkelheit so abstechend hervor, daß ich sitzen blieb wie vom Schlage gerührt. Hast du bemerkt, wenn das Hemd auf dem Busen eines Dorfmädchens sich einen Finger breit verschiebt, und bei dem sonnenschwarzen Busen den weißen Fleck verräth? – Das, sagte Herr v. G., hab' ich bemerkt; meine Leser wissen, wo?

Die, sagte unser Maler zum Herrn v. G., die in diesem Hause, Bruder! schwarzes Haar, wie Ebenholz! Ein Auge, das immer drei Schritt weiter ging als meines, so stark auch meines zudrang. – Ein Busen, zehntausend Liebesgötter tanzten darauf. – Pfui, sagte Herr v. G., was muß das für ein Busen seyn! Unser Reisender hatte Mühe, ihn mit dem Busen und den Liebesgöttern auszusöhnen, die er auf zehn reducirte, wobei sich am Ende Herr v. G. zufrieden gab. Bei deiner lebt man, bei des – – (auf mich) stirbt man. Bei deiner hält man sich gerade, denn sie ist eine Göttin. Man sieht gen Himmel. – Bei deiner (wieder auf mich) legt man den Kopf von einer zur andern Seite, denn sie ist eine Schäferin! O die schönen Schäferstunden! Ich hab' noch vergessen, fuhr er zu mir fort, ihr Busen wallt so wie eine Laute, er bebt nur herauf, und, Bruder! ihre Stimme, wenn sie singt – sie thut es selten; sie hat eine blonde Stimme, du wirst mich verstehen; sie stiehlt das Herz, deine Brünette (zum Herrn v. O.) nimmt es mit Gewalt! sie raubt! – Sie kommt nicht mit vollen Segeln! Sie ist stolz und scheint sich wenig aus einem Siege zu machen, denn sie ist sich bewußt, daß sie Herzen wie Fliegen zu fangen im Stande ist. Jene streichelt, diese schlägt; allein wenn sich diese Königin herabläßt, ist's auch so, als wenn die Sonne aufgeht. Man hat sich besoffen, wenn man sie liebt, und einen Jesuiterrausch, wenn es die mit der blonden Stimme gilt. – Diese spielt kein Instrument. Die Orgel würde sie spielen, allein[151] wenn sie singt – das thut sie oft, Bruder, so prächtig wie ein Donnerwetter! – Diese beiden Auserwählten empfehl' ich euch zu Gemahlinnen, die andern – zur linken Hand und so neben an, zum Spiel. – Noch eine Warnungsanzeige, eh' ich von hinnen gehe. – Die beiden waren freilich die Hauptpersonen und meine Gemahlinnen, allein auch unter den andern gibt's Dingerchen zum Rasendwerden! Sie waren gleich in den ersten acht Tagen alle mein. Ich meine mit den Augen; und nun hielt da unten zu – ein Kaufmann Hochzeit, der die ganze Gegend und mich mit bat. Ich kam zum erstenmal mit all' diesen angeangelten Mädchen zusammen; jedes Auge forderte Rechenschaft. Da ward ich, wie Cäsar, mit dreiundzwanzig Wunden erstochen. – Sah ich eine an, so waren die andern wie Tiger auf mich und forderten Antwort über meine Untreue. O, wer da mehr Augen gehabt hätte als zwei! Ich mußte nicht aus noch ein – bis ich endlich Muth zum Entschluß faßte und mich zu vieren bekannte, und in Rücksicht der andern die Augenehen aufhob und dieß Band trennte. Diese vier halfen mir selbst die andern abfertigen – und diesen vieren bin ich auch so treu geblieben als möglich. Sie haben sich bis an mein End' in meinem Gewahrsam befunden. Seht, da ist es am hellsten! Es blieb nicht bei den Augen in Rücksicht dieser vier, indessen dürft ihr nichts von mir fürchten.

Mich müßte der Teufel plagen, setzte der Abschiedsredner fort, ein Mädchen in Königsberg zu heirathen, wo Curländer gerad' über logirt haben! – Ihr werdet Wunder sehen und glauben! – Schaut die andern selbst, von denen ich mich, nach dem fatalen Gefechte, scheiden mußte; auch die noch Licht! – Wenn es angeht, schränke sich jeder auf zwei ein, damit kann man bestehen und bei Ehren bleiben; einer das rechte, der andere das linke Auge!

Wie wenig ich von dieser Uebergabe Gebrauch gemacht, darf ich nicht bemerken. – Herr v. G. vergaß zwar seine Dorfdirne,[152] seine schmucke Trine, nicht; indessen legt' er sich dennoch, wenn er nicht zu jagdmüde war, in's Fenster, und dann hatt' er sie, nach seinem etwas jagdfreien Ausdruck, wie am Rosenkranz. – Ich habe mich nie in Liebeshändel anderer Leute gemischt, nur das konnte mir nicht verborgen bleiben, daß er seine übrige Zeit (er hatt' indessen nicht viel übrig) den beiden von unserem Vorgänger beschriebenen Mädchen schenkte, mit denen er, wie er zu sagen pflegte, so ziemlich bekannt wäre. – Sie sind, sagt' er, meine Dorfdirne in mangelhafter Copie; allein mich soll der Teufel beim ersten Kuß, den ich ihnen zudrücke, holen, wenn ich nicht mein Dorfmädchen viel höher schätze als sie! – Ehrlicher, und das heißt genau genommen, auch schöner. Meine Trine, ausgewachsen wie eine Göttin, kein Mißglied an ihr, keins verkrümmt und verkratzt. – Alles reif, herausgegangen wie die Natur!

Redet dein Vater aus dir? fiel ich ihm ein. – Getroffen, erwiedert' er, aber meine Empfindung bestätigt seine Rede.

Mein akademischer Wandel – ich kam nicht mit Denksucht, sondern mit Lernsucht in die Hörsäle, nicht verwöhnt, sondern hungrig und durstig. Ich dachte nicht meinen Lebenslauf zu schreiben, welcher Einfall mich nur seit kurzem überfiel, sondern ich wollte leben lernen. Ich durfte nicht meine Hengste der Einbildungskraft ausspannen, die mich zu tausend Zeitungslorbeeren führen sollten; denn ich hatte sie nie angespannt. Ich flog nicht, ich ging und wußte, wie es wächsernen Flügeln, wenn sie der Sonne nahe kommen, zu gehen pflegt. Höchstens lief ich – um aus einer Stunde zeitig genug in die andere zu stürzen. Im Hörsal dacht' ich: Er hat's gesagt; zu Hause frug ich mich: Was hat er gesagt?

Ich schreibe (meine Leser werden es, wie ich nach der Liebe hoffe, wissen) Leben, nicht Schule, und was kann ich also von meinem akademischen Laufe sagen, was ein großer Theil meiner[153] Leser nicht schon selbst, wie ihren Haus- und Wirthschaftskalender, aus- und inwendig wüßte? Die Lehrer lasen, ich hörte. Ich lernte von allem was ich schon wußte, die Grammatik, auf der Reitschule, auf dem Tanzboden, in der Philosophie, in – allem. Ich lernte meinen Lehrern den kürzesten Weg zum Ziel ab und war aufmerksam auf die Straße die zu gehen, und auf die Straße die zu meiden war. Sollte man nicht überhaupt auf Universitäten mehr Polemik als Thetik in allen menschmöglichen Wissenschaften lehren? Und sollte nicht Kritik, in einem besondern Sinne, der Gegenstand der akademischen Beschäftigungen seyn? Der ist in meinen Augen der beste Professor, der am gründlichsten seinen Schülern zu sagen weiß, was nicht verlohnt gelernt zu werden, und die Titel von dem, was lernenswerth ist. Meine Hauptbemühung in Rücksicht der Gelehrsamkeit auf der Universität war, ein Lexikon zusammenzutragen, wo ich die Gelehrsamkeit weiter nachschlagen könnte, wenn ich, wie Felix, gelegenere Zeit haben würde. Gottlob! diese gelegene Zeit ist gekommen. Die Sprachen, die ich angefangen, setzt' ich fort, in so weit es von ihnen und mir heißen konnte: Der Schmied hat mehr als eine Zange. Ich wünsche, daß Sie Ihre Zeit gut anwenden mögen, war damals in dem Munde eines Professors, wenn er mit einem Studenten sprach, so viel als guten Morgen, guten Abend und gute Nacht! – Die Pietisten setzten hinzu: Gott segne ihre Studia! und mehr als dieß weiß ich von diesen Leuten nicht zu sagen.

Se. Spectabilität nannten mich, wo Sie mich reichen konnten, den curischen Philosophen und empfahlen mich Ihren Herren Collegen, wo ich nicht viel Großväter fand; indessen wünschten alle, daß ich meine Zeit gut anwenden und daß Gott meine Studia segnen möchte. Wenn sie zum Inpietismus gehörten, blieb der eingliedrige Segen weg.

Froh denk' ich noch heut (es ist eben Michaelstag) an diese[154] akademische Zeit, und rufe mit dem guten Drosselpastor: vivat Academia! Mir fehlte nichts als Mine, der Kirchhof, das Wäldchen und die andern heiligen Orte, wozu noch die gründicke Laube des Bekannten gekommen war; indessen ersetzte mir die Einbildungskraft alles. Ich las Minens Briefe, beschäftigte mich mit den von ihr eingeweihten Sachen und kam mir wie ein Wittwer vor, der seine Frau in seinen von ihr zurückgelassenen Kindern sucht. Seine schönste Zeit ist, wenn er mit ihnen spielen kann. – Meine Spaziergänge waren Kirchhöfe, Wäldchen und überhaupt Orte, die mich desto deutlicher an Minen erinnern konnten. Sie sah ich überall. Ich studirt' an ihrer Hand. – Sie beseelte mich mit Muth und war mir sans comparaison das, was jedem Ritter seine Schöne ist.

Mein lieber v. G. blieb keinem Professor einen Dreier schuldig, das ist alles, was ihm zum Ruhm im Testimonio behauptet werden können, wenn er ein dergleichen Ding nöthig gehabt hätte. Ich studirt' in seiner Seele als sein Sachwalter und erzählt' ihm des Abends im Zeitungston, was ich den Tag über im eigenen Namen und vi specialis mandati gehört hatte, worüber er, wenn er jagdmüde war, sanft einschlief. – Ich indessen setzte meine Wiederholung fort und hatte dadurch den Vortheil, mit dem gehörten Worte bekannter zu werden. Die Digestion der Wissenschaften wird eben hiedurch unendlich befördert, wenn man erzählt, was man weiß. Man lernt auf diese Art mit der Wissenschaft conversiren und sie auf einen freundschaftlichen Fuß nehmen, der Hörer sey übrigens jagdmüde oder nicht. – Was konnte Herr v. G. dafür, daß es um Königsberg solche schöne Jagdplätze gab und daß ihm davon viele Feldmarken, die durch zwei besondere Thore lagen, als plus licitanti zugeschlagen wurden? – Herr v. G. hatte sich vortreffliche Jagdbücher angelegt und war jetzo so sattelfest in der Jagdterminologie, daß er nicht allein Hochselbst für[155] Fund zeitlebens sicher war, sondern er war noch obenein im Stande, andern Fund zuzuwenden, die ihre Zeit auf der Akademie nicht so, gut wie er angewendet hatten. Mir versprach er, wenn es nöthig seyn sollte, aus Noth zu helfen; du hilfst mir wieder, setzt' er hinzu, wenn etwas vom Argos vorfällt. – Am Ende, fuhr er fort, dünkt mich, daß überall bei Eurer weltgepriesenen Gelehrsamkeit Jagdterminologie ist. – – Den mangelhaften Copien seiner Dorfdirne entging oft zu viel durch diese Jagdneigung, und gern hätten sie ihn davon abgebracht – allein so sehr hatten sie ihn nicht getroffen, wie er sehr jagdmäßig sich gegen mich erklärte. – Die eine ließ ihre blonde Stimme hören, die andere donnerwetterte; allein es gehörte mehr dazu als Orgel und Laute, den Herrn v. G. auf mehr Sprünge zu bringen. Bei alledem war er Sieger und die beiden Schönen geschlagen. Die andern Schönen in der Straße sah er an, wie solche Feldmarken, die ihm nicht als plus licitanti zugeschlagen waren. Bruder, sagt' er zu mir, in Rücksicht der beiden, sie sind abgerichtet, sie sind dressirt, sie verstehen alles auf ein Haar. – Die werthen Eltern dieser beiden setzten die Freundschaft mit uns fort, wobei ich freilich in der Hauptsache sehr leer ausging. Diese Freundschaft war also nicht an die Personen, die hier logirten, sondern an die Zimmer gebunden, nicht eine Personal, sondern eine Realbekanntschaft, wie es jede nachbarliche Bekanntschaft ist. Freilich trug es sich zuweilen zu, daß die Dirnen den Herrn v. G. in die Enge brachten; allein er pflegte sehr richtig mir in's Ohr zu bemerken, daß die Stadtschönen, wenn gleich sie mit Witz ausziehen, doch ohne Witz in die Flucht geschlagen werden könnten, wenn nur – – Herr v. G. besaß von diesem wenn nur gerade so viel, um seinen Posten zu behaupten. – Der Schweiß Abels, hatt' er im Jagdeifer gesagt, schrie zu Gott um Rache, und unsere Stadtnymphen wollten ihm hart fallen. – Ich war Augen- und Ohrenzeuge von[156] ihrem witzigen Ausfall – er sah sie nur an, und sie, gleich in die Flucht.

Unsere Bekanntschaften waren, außer den beiden Nachbarn, das Haus eines Kreisrichters, auf dessen Haus unser Vorfahr gleichfalls seine Assignation zurückgelassen. Dieser Kreisrichter, der eine alte Frau des Geldes wegen geheirathet, hatte keine Kinder. Er braucht' ein paar junge Leute zu seinen häufigen Gesellschaften als Hausofficiere, und obgleich diese Stellen besetzt waren, so honorirt' er doch die Assignation unseres Vorfahren, dessen Andenken überhaupt im Segen war. Ich nahm selten an diesen Zeitverkürzungen Antheil; indessen lernten wir einen königlichen Rath bei dem Kreisrichter kennen, der an Leib und Seel' auffiel, und sich auch bei jedermann zu erhalten im Stande war. Er schien gegen Vierzig und hatte sehr seine Kenntnisse. Er las die Alten und kannte die Neuern. Er legt' es nicht dazu an, daß man ihm dieß anhören und ansehen möchte; allein wo er stand und ging, streut' er Funken. Er verdrängte keinen. Er vernichtete nicht Sprößlinge vom Witz der Jünglinge, die mit ihm zu Tische saßen, um den Saft den bejahrten Zweigen zuzuleiten. Witz und Verstand war ihm Witz und Verstand – es mochte hervorsprossen, wo es wollte. – Er wußte wohl, daß alles Obst nicht reif sey, das der Wind herabwirft. – Es war nicht abgezogener Geist, nicht Lebenstinktur – was er sprach. Beim Kreisrichter sprach er wie der Kreisrichter, der über nichts als Schlägereien, neue Brautschaften, Todesfälle oder dergleichen Dinge mehr, sich verlauten ließ; indessen wußt' unser Rath über die gemeinsten Dinge besonders zu seyn. Ost war er ganz still, und alsdann sah man es ihm an, daß er wohlbedächtig mit den falschen Spielern in der Gesellschaft nicht mitspielen wollte. – Ich fand, wenn er sprach, so viel Eigenes, daß ich tausendmal wünschte, wenn er doch schreiben möchte, oder wenn er doch wenigstens mehr spräche. Er verbesserte nie ein Urtheil,[157] das er in Gesellschaft hörte, und legte sich nie das Ansehen einer Appellations- und Revisionsinstanz bei. Wenn ich eine Rechtssache gehabt hätte, wäre mir sein Gutachten Entscheidung gewesen. Viele hatten dieß Zutrauen zu seinem Herzen und Verstande, und sein Laudum (sein Schiedsspruch) galt ihnen mehr als ein für Geld und gute Worte in bester Form genommenes Urtheil. – Er war unverheirathet. Man sagt', er wär' in der Liebe unglücklich gewesen. Schade! Es haben Curländer vielleicht, bemerkte Herr v. G., seiner Schönen grad' über logirt. – Mag wohl seyn! – Dieser würdige Mann war im Stande, Menschen zu lesen, und dieß schien sein Hauptgeschäft in Gesellschaft zu seyn. Durch vereinte Kraft eins seyn, ist der Zweck der großen Staatsgesellschaften, sagt' er zu mir. So im Großen, so im Kleinen! Instinkt und Vernunft lehren uns, daß ein großer Theil unserer Glückseligkeit von Menschen abhängt, und darum seh' ich Menschen, darum geh' ich nach ihnen aus und freue mich herzlich, wenn ich was Unerwartetes vorfinde. Im Collegio ist alles auf einen gewissen bestimmten Horizont calculirt.

Noch seh' ich den Mann mit seiner offenen, weit offenen Stirn, schwarzem Haar, einem Auge, in dem man ihn im Kleinen – allein doch ganz sah. Zuweilen hatt' er kleine Abendgesellschaften, woran er mich Theil nehmen ließ. Dieses Collegium versäumt' ich nie. Ich fand einen Officier, einen königlichen Rath, seinen Collegen, einen Prediger und einen Professor; allein alle waren große Lehrer in ihrer Art für mich. – Da war er zuweilen ausgelassen. – Er warf Münzen aus, und ich muß aufrichtig bekennen, daß, wenn ich je in meinem Leben mit Leib und Seele zugleich gegessen und getrunken, so war es hier; ich wundere mich noch jetzt, daß es mir so gut bekam. Wenn er es nicht länger aussetzen konnte, gab er eine große Mahlzeit. Da that er wenig mehr als vorlegen, und hiezu braucht' er auch alsdann den[158] Officier, den königlichen Rath, den Prediger, den Professor und mich.

Ich habe schon bemerkt, daß ich das votum decisivum bei der Landsmannschaft hatte, und so lang' ich den Präsidentenstuhl bekleidete, ist kein Stein von einer curischen Hand gehoben, um ehrlichen Leuten die Fenster zu verwüsten. – Mit der Zeit wär' ich weiter, bis zum Kopf meiner Landsleute gekommen. – Fürs erste hatt' ich Ursache, mir Glück zu wünschen, daß ich über ihre Hände disponiren konnte.

Wenn ein Landsmann kam oder ging, ward ein Mahl gegeben, wozu ich zwar meine Stimme, allein nicht meinen Magen gab.

Herr v. E. war, unter vielen andern, König eines solchen Mahls. Er war von seiner Mutter, die Wittwe geworden, aus Frankreich nach Curland gerufen. Seine Geschäfte indessen hatten ihn noch ein halbes Jahr in und um Königsberg zurückgehalten, ohne daß wir uns zusammen getroffen. Kein Wunder! Er ging nicht in die Hörsäle und ging nicht auf die Jagd. Seine Geschäfte waren – wie man sich leicht vorstellen wird – Liebesangelegenheiten. Freilich hatten die Königsbergischen Schönen Ursache, einem Manne Complimente zu machen, der von Paris kam und sie nicht verschmähte. – Endlich schlug seine Stunde. – Ich war, ohne selbst zu wissen wie's zuging, bei diesem Mahl, und lernt' einen Menschen ohne Kopf und Herz kennen, der auf den preußischen Adel loszog, weil ihm niemand (die Sache ohne Allegorie vorzutragen), obgleich er angeklopft, aufgethan. – Wahrlich, dieß brachte mir eine sehr gute Meinung vom preußischen Adel bei, die ich auch nie aufzugeben Ursache gefunden. Ich brachte die Nacht, da Herr v. E. mit Extrapost abging, wider Gewohnheit schlaflos zu, und selten hab' ich einen Menschen gefunden, in dem jeder Zug mir so entgegenarbeitete. – Dem Herrn v. G. war er auch unausstehlich.[159] Er sollt' ihn bis Schacken begleiten, allein er konnte nicht. Herr v. E. kroch und war stolz; er war Franzos und Curländer. Für und wider sich – und gewiß auch Freund und Feind eines jeden, der es mit ihm anbinden wollte. – Sein Gesicht und er schienen zweierlei, und waren es auch immer. – Er fragte uns, ob wir nicht an unsere Mädchen was zu bestellen hätten? Da fuhr es mir so durch die Seele, daß ich außer mir war! – Herr v. G. sagte, daß er ihn am wenigsten zum Liebespostillon brauchen würde, weil er aus Frankreich käme; und Sie? fuhr er fort, indem er sich zu mir wandte. – Ich habe, sagt' ich, nur eben Briefe von ihr. – Er nahm es als Scherz, und ich fand dießmal, und hab' es oft gefunden, daß selbst bei dergleichen Verlegenheiten die Wahrheit am besten aushilft Ich hatte wirklich Briefe von Minen.

Sie erfüllte redlich ihr Versprechen, sie hielt ein Tagebuch, und alle Vierteljahre erhielt ich es durch den bezeichneten Weg. Das erste Päckchen kam nach Manatsfrist; ich hoffe, niemand werde fragen, warum? Er an Sie ging vor sich, sobald ich an Ort und Stelle war. Ich fühlte jeden Kuß in ihren Briefen, so warm so sonnenwarm, obgleich er seine fünfzig Meilen gereiset war. In Wahrheit, hätt' ich Minchen nicht gehabt, ich hätte nicht die Hälfte von dem auf der Universität gethan, was ich jetzt that, nicht die Hälfte vor mich gebracht.


* * *


Da bin ich an einer schweren Stelle meines Lebens, wo ich noch zittre und bebe! Der Himmel helfe mir auch in diesem Buch über! Er, der sie mir leben geholfen, helfe sie mir auch schreiben! – Ein bitterer Kelch! – Gottes Wille gescheh' auf Erden wie im Himmel!

Ich will ihm nicht fluchen, dem Vater meiner Mine, denn diese Holdselige verbietet es mir. – Ich will ihm nicht fluchen.[160]

Sie schrieb mir ehemals:

»Ich will meinen Vater nie unsern Vater nennen. Der meinige ist er, weil's Gott hat haben wollen, warum sollst du dich aber mit ihm beschweren?«

O Mine, warum warst aber du mit ihm beschwert? warum? du Dulderin, du Märtyrin! du Heilige! mit diesem Peiniger, mit diesem Tyrannen, mit diesem Unheiligen – mit diesem –

Ich will abbrechen, bis ich besser gefaßt bin, sonst würd' ich dein heiliges Gebot übertreten, du heiliger Engel! und ihm doch – fluchen.

Auf heute, morgen und übermorgen nehm' ich von meinen Lesern Abschied. – Ich will mir ordentlich Zeit nehmen, mich zu fassen – und wenn ich es in drei Tagen nicht bin, noch einen und noch einen – zugeben und bis acht Tage zu dieser Fassung aussetzen. In dieser stillen Woche soll meine Seele gen Himmel sich aufrichten, und mit meiner Mutter will ich beten:


Herr, wie du willst, so schick's mit mir,

Im Leben und im Sterben.


Rede, Herr! dein Knecht höret. – Thu mit mir, wie's dir wohlgefällt. In deine Hände befehl' ich meinen Geist.


An einem schwarz bezogenen Tage, da es Vormittags donnerte.


Ich habe meine Leser nur drei Tage allein gelassen. – Je mehr ich mir Zeit nehme mich zu fassen, desto mehr verlier' ich das Gleichgewicht. – Fast glaub' ich, daß die Fassung so schnell komme als der Schreck, die Hülfe wie die Krankheit, und wenn alle Fassung nur Betäubung wäre?

Der Gedanke hat mich am meisten in diesen drei heiligen Tagen erfrischt, daß es Tugenden gäbe, die es nicht geben würde, wenn nicht böse Menschen in der Welt wären. Wahrlich, die größten Tugenden werden hierdurch an Tageslicht gebracht. – Durch Schatten wird das Bild erhöht. Es ist, ich gesteh' es gern,[161] dieses eben nicht einer von den Gedanken, die einer göttlichen Eingebung nahe kommen; allein wenn Noth am Mann ist, schmeckt Hausmannskost am besten und bekommt auch so. – Der Unglückliche, der Furchtsame glaubt alles, wenn es nur Trost enthält.

Fluchen will ich dem Hermann nicht, allein ich will treu befunden werden.

Von dem ersten Tag an, da meine Leser den alten Herrn kennen lernten, fanden sie einen Mann (kaum kann das Wort Mann von jemanden gebraucht werden, der sich nicht nach seiner Decke zu strecken versteht. – Doch Minchens –), einen Mann, der allem, was man Belang heißen kann, gerade entgegen war. Sie fanden eine geschwächte, eine zu Fall gekommene Person, einen Hofnarren, Kammerherrn, Forst- und Jägermeister, einen Witzdiener, Positivschläger. – Einen, von dem man nicht behaupten, kann, daß er seinen Namen, wie mein Vater sein Vaterland geflissentlich verschloß (wie einer meiner Splitterrichter des ersten Bandes der Meinung gewesen), sondern den man den alten Herrn zu nennen für gut fand, und der, weil mit dem Wort Alt das Wort Herr verschwägert war (womit man wahrlich in Curland nicht verschwenderisch ist), nichts mehr erwarten konnte, und mit dieser Ehre sehr zufrieden schien; und wie hatte wohl dieser Schneider, Schuster, Töpfer, Ton- und Tausendkünstler, und wär's auch nur des Podagra's wegen, welches keine gemeine Krankheit ist, wider den Ehrennamen, Nicolaus Hermann, eine Sylbe einwenden und den Kopf schütteln können? Der alte Herr war kriechend und stolz, wie die Stolzen immer zu seyn pflegen. – Obgleich er seinen Abschied als Witzdiener in höchsten Gnaden erhalten, so sprudelte doch ein schwarzes Blut in seiner satyrischen Ader auf, sobald es Gelegenheit gab. Die Ader war recht schwarz und fürchterlich aufgequollen zu sehen. – Seine ganze Geberde verstellte sich, sobald diese Ader auflief. Er pflegte[162] sich selbst einen Invaliden des Apoll zu nennen, und Dank sey meiner Mutter, die ihn, wie ich mich eben erinnere, bei dieser Gelegenheit einmal fragte: wie's mit seiner Wunde am Kopfe stünde? Die Zeiten, sagte Hermann selbst, sind gottlob vorbei, und dieß waren Zeiten, da er Gräber schändete; allein kann auch ein Mohr seine Haut bleichen und ein Parder ein Fleckkügelchen benutzen? Erst mehr Fechter, jetzt mehr Tänzer!

Ich bin der Meinung, daß sich die Physiognomisten nie eher, als in der Miene eines Pasquillanten (wär' es auch ein Recensent) und Mörders irren können. Da muß ein sehr seiner Unterschied seyn! Sie sind eines Handwerks: beide schlagen aus Gewinnst todt – und es kommt nur auf Umstände an. Beide legen Händ' an uns, und so wie es bloß von der Kürze der Jahre kommt, daß nicht jeder, dem der Strick in den Lineamenten liegt, gehangen wird, so –

Wenn ich in einer großen Gesellschaft einen Witzling sehe, der nach Landesmanier wie der dritte Mann zum Spiel gebeten wird, und der über Tisch und Stühle schreit, ist mir nichts anders, als wär' ich mit dem verstockten Schächer zusammen. Wer in einer Gesellschaft von zwölf Personen witzig seyn und sich hören und sehen lassen kann, ist ein schrecklicher Mensch. – Wo zwei und drei versammelt sind, da ist Witz an Ort und Stelle. Niemand ist geiziger, als ein wirklich Witziger. Er wirst seine Perlen nicht weg. Ein Witziger ohne Urtheil ist ein Witzling – und wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt! Vorrede genug.

Hermann hatte, nach dem Tode der Mutter meiner Mine und der meinigen, noch Lust, sich ein Hochzeitsbett anzulegen. Der Tischler, den er darüber besprach, glaubte, es sey ein Sarg, da er sich in der Stille an ihn wandte. Der Tischler wandte sich mit einem Warum? auch in der Stille an Hermann zurück. – Ich[163] hab' es von meiner Mutter, daß eben dieser Tischler in seiner Gewerksstube herzlich geweint habe, wenn er einen Sarg für einen Redlichen im Land' erbaute. Meine Mutter nannt' ihn oft des Todes Zimmermann, und gratulirte Curland und der dortigen Gegend, wo hölzerne Häuser etwas Gewöhnliches sind, weil sie schon im Leben mit ihrem letzten Hause sich bekannt gemacht. – Wir sind schon im Leben im Sarge, pflegte sie zu sagen. Wir sterben täglich; Heil uns! Der eigentliche Sarg wird uns kein so wildfremdes Gemach seyn.

»Lieber Freund,« fing Herr Hermann wieder in der Stille an, und der liebe Freund ließ ihn nicht zum Worte, wenigstens nicht zum Ende kommen.

Sie sind ja, unterbrach er ihn, munter und gesund – frisch und gesund hab' ich Sie nie gekannt.

»Eben darum, weil ich munter und gesund bin.«

Recht! Es sieht uns nicht vor der Stirn geschrieben.

»Vor der Stirn?«

Sie fochten lang' in die Luft, bemerkte mein Waffenträger Benjamin, von dem ich dieß alles hab', ehe sie zusammentrafen.

»Ein Himmelbett,« sagte Hermann; allein da man einen Sarg eben so gut, wo nicht besser als ein Brautbett, ein Himmelbette nennen kann, so erwiederte der Tischler: »Schöner Ausdruck!« Der gute Tischler konnte den Sarg nicht aus dem Sinn und Gedanken bringen, und selbst, da ihm Hermann ziemlich laut (er war hitzig geworden) gesagt hatte: »Ein Brautbette,« schüttelte der Tischler noch den Kopf – und dieß Schütteln war dem Hermann widriger, als das vorige Mißverständniß vom Himmelbett und von der Stirn, und von munter und gesund.

In Rücksicht der Jahre hätte freilich Hermann eher an Sarg als an Braut, oder, wie man es gewöhnlich in Curland nennt, an ein Himmelbette denken können; wenigstens hätte Hermann, der[164] ein Weib wie unsere Mutter gehabt, eine andere, der Seligen – und ihm anständigere Wahl treffen sollen. Ich will, um aller Parteilichkeit auszuweichen, an seine Tochter nicht denken, obgleich auch Töchter, wenn sie wie Mine sind, hiebei einen Blick verdienen.

Seine Schöne war eine Person, die sich in der Nachbarschaft, Gott weiß, wie? ein kleines Vermögen erworben hatte. Der Unterricht der Kinder ward dem Hermann in der Länge zu beschwerlich, und es ist freilich eine andere Sache, Kinderlehrer, und eine andere, Hofnarr zu seyn. Dieß war die Ursache, warum er zuweilen zu sehr für die körperlichen Uebungen war, und die Kinder ohne Unterricht ganze Wochen hinschleudern ließ. Hiedurch litt sein guter Ruf. Seine Selige wußte alles zum Besten zu kehren. Nach ihrem Tode war er sich ganz und gar allein überlassen, und das hieß an der Hand eines schlechten Führers seyn. – Die Schuljugend trieb sich um und der Lehrer deßgleichen. Kurz, Hermann war wieder auf der schlimmen Seite und lebendig todt, ja wohl! lebendig todt!

Ich will mir, sagte Hermann, einen ruhigen, guten Tag machen; eigentlich wollte er sich diesen ruhigen, guten Tag für baar Geld kaufen, ohne zu bedenken, daß Ruhe nicht feil sey. Immer noch überzeugt, daß es besser sey ein Schneider als ein Hofnarr zu seyn, blieb des Hermanns Losung zwar:

Gottlob! die Zeiten sind vorbei; indessen war er doch fest entschlossen, aus einem Hofnarren ein Stocknarr zu werden. Der Unterschied ist ungefähr wie zwischen Postbote und Nachtwächter.

Magdalene (so hieß die Schöne quaestionis) war nicht abgeneigt, mit diesem Manne zu ziehen. Sie hatte nicht ermangelt, weit und breit herumzublicken und ihr Augennetz auszuwerfen, allein sie hatte nichts gefangen; sie hatte, um die Sache deutlicher[165] zu machen, nicht abgesehen, daß sich ein anderer mit ihr in diesem Leben einspannen würde. – Magdalene weinte herzlich, so oft sie an den seligen gnädigen Herrn dachte, dessen gnädige, zurückgebliebene Wittwe so herzlich nicht über diesen Verlust weinte. Dieß machte Aufsehen in der ganzen Gegend, die nur eine solche Kleinigkeit von Anlaß brauchte, um laut zu sagen, was jeder längst und schon bei Lebzeiten des seligen gnädigen Herrn, da Magdalene noch nicht so herzlich weinen durfte, gedacht hatte. Man machte über diese Thränen der Magdalene bittere Anmerkungen, so daß, da der größte Theil davon an die beiden Weinenden kam, Wohlstandes wegen Magdalene weniger als die nachgebliebene Frau Wittwe zu weinen anfing. Der wunderbare Wohlstand!

Es hatte der Herr Gemahl der Frau v. E. in seinem letzten Willen die feierliche Verfügung gemacht, daß seine Gemahlin und Mamsell Dene (so ward Magdalene im ganzen Hause und überall genannt) sich nicht von einander trennen, sondern beisammen bleiben sollten, bis sie der Tod schiede. Das war ein neuer Gegenstand zu Anmerkungen, welche die ganze Gegend machte, sobald das Testament eröffnet war. Die Frau Wittwe, die vor der Eröffnung des Testaments, und vorzüglich bei Gelegenheit der Thränen, den Plan gemacht hatte, Denen in allen Gnaden zu verabschieden, war jetzo, wie sie sich ausdrückte, gezwungen diese Klette am Kleide zu leiden. Sie sah es also im Herzen sehr gern, daß Herr Hermann Denen die Aufwartung machte. Zwar hatte sie sich so fest an den Willen ihres verstorbenen Gemahls gebunden daß sie keine Trennung von Denen möglich glaubte; indessen glaubte sie, durch Denens Umgang mit Hermann wenigstens die Scene zu verändern und der Nachrede eine andere Wendung zu geben. Einen Rechtsgelehrten hatte sie nicht das Herz darüber zu Rathe zu ziehen. – Es gibt Krankheiten, die man nicht gern entdeckt. Dene fand von dieser Seite nicht die mindeste Schwierigkeit, wohl aber war[166] ihr bedenklich, daß sie die Ehescheidungsstrafen, wenn sie den Aufstand anheben sollte, zu tragen würde angewiesen werden. Wenn aber die Frau v. E. anfinge, dachte Dene, was könntest du nicht für Bedingungen vorschreiben! – Dene sah wohl, wie überlästig sie der Wittwe war, sie mochte mehr oder weniger weinen als sie. Wenn Dene also nach dieser ihrer Verbindung mit dem Herrn Hermann gefragt ward, war ihre Antwort: Sie belieben zu scherzen, oder: ich bitte tausendmal um Verzeihung, oder: mir fehlt ohne den Herrn Hermann nichts auf der Welt. Roth zu werden hatte sie entweder schon längst verlernt, oder hatte es nie gekonnt. Es blieb also ihre Verbindung mit dem Herrn Hermann problematisch. Die Nachbarschaft pflegte die gnädige Frau und Denen zu nennen: Sara und Hagar. – Sowohl Sara als Hagar ärgerten sich über diese Beinamen, ohne gegen einander sich diese Aergerniß merken zu lassen.

Magdalene hatte, seit ihrer vieljährigen Praxis, alle Kniffe auf einem Schnürchen, wodurch unser in Liebesangelegenheiten abergläubisches Geschlecht gefesselt gehalten werden kann, so daß es noch diese Fesseln als Ordensketten verehrt. – Sie hatte den alten Herrn erst äußerst verliebt gemacht und war ihm in allem – wenigstens ein Viertelmeilchen (ich rede von deutschen Meilen) – zuvorgekommen. Auf einmal eine andere Dekoration. Wer A sagt, muß auch B sagen, war bei Denen keine Regel, und alle ausgelernte Coquetten denken so. Der alte Herr hatte durch eine überaus gefällige Aufnahme in dem Hause der Sara sich das Wohlleben so angewöhnt, daß, wenn auch nicht die körperlichen Uebungen seine Schuljugend, die wie Schafe in der Irre ging, zerstreut hätten, diese guten Tage sich mit den Schulstunden nicht länger vertragen haben würden. Was sollte der alte Herr anfangen? Der Unterhalt, den ihm seine verstorbenen Witzprincipale zugestanden hatten, war klein und zum Theil ungewiß. Dene hatte,[167] nach der Meinung des alten Herrn, mit Herzen, Mund und Händen A gesagt; allein nun war sie nicht aus der Stelle und bei weitem nicht zum B zu bringen, vielmehr schien sie zuweilen gar das A zurückgehen zu wollen, wenigstens ward aus dem großen A ein so kleines, daß man es beinahe dafür nicht ansehen konnte. – Ich habe, dachte der alte Herr, das unreine Wasser ausgegossen, ohne reines aufgefangen zu haben – obgleich er wirklich reines Wasser ausgegossen hatte, um unreines zu schöpfen. – – Dieß machte ihn äußerst verlegen; allein diese Scharten wetzte er zu Hause aus, und Mine, die arme Mine, hätte nicht in Aegypten mehr ausstehen können, als bei diesem wetzenden Vater, der reines Wasser ausgegossen hatte und keinen Tropfen unreines auffangen konnte, seine Zunge zu kühlen; denn es ging ihm wie dem reichen Mann in seinem Präludio. Der Frau Sara Gnaden, welche sich auf dergleichen Wendungen (meine Mutter würde Ränke und Schwänke geschrieben haben) wohl verstand, suchte dem alten Herrn Trost zuzuneigen und ihn wenigstens durch guten Fraß und Suff zu stärken und zu festigen, seine Last zu tragen. – Dene blieb indessen halsstarrig beim kleinen, ganz kleinen a, und so wie kein Unglück allein, sondern paarweise kommt, so mußte es auch dem Amtmann S. einfallen, um Denen in einem Brief, ehe ihr Trauerjahr noch um war, förmlich anzuhalten. – Diesen Amtmann, der ohnehin in den nämlichen Jahren des Hermanns sich befand, obgleich ihn kein Zipperlein plagte, würde Dene um alles nicht einem Literatus (unerachtet dieser Literatus den kalten Brand hatte) vorgezogen haben, indessen konnte ihr nichts erwünschter kommen, um den Herrn Hermann völlig aufs Haupt zu schlagen. – Hermann litt zusehends, denn er war in das Geld der Dene sterblich verliebt. – So wenig Herz auch der alte Herr hatte, so würde er doch mit diesem Amtmann eins versucht haben (nämlich in Briefen), wenn nicht die gnädige Wittwe den glimmenden Docht[168] der Hoffnung in dem Herzen des alten Herrn angefacht hätte. – Zwar brannte es sehr schwach, indessen brannte es doch. – Zu keiner kleinen Freude des alten Herrn veranstaltete die Wittwe einen Besuch beim Herrn Hermann. So viel Ehre ihm dieser Besuch war, so wußte er doch nicht, wie er seine Gäste aufnehmen würde. – Der Frau Sara Gnaden wollten mit; wie hätte auch die viel Ehre und Tugend belobte Jungfrau Magdalene, ohne eine solche Bedeckung, zu einer los und ledigen Mannsperson kommen können? Die Frau Sara war jetzt ihre feste Burg, in welche sie sich zu werfen Willens war, wenn die böse Nachrede sie verfolgen würde. – Im Herzen konnte ihr nichts willkommener als dieser Vorschlag seyn, denn sie wollte gar zu gern ihr künftiges Bleibchen kennen lernen, und auch ihre Stieftochter, von der so viel Gutes gesagt ward. Uebermorgen also! – Der alte Herr beurlaubte sich sogleich und reiste mit Freuden und mit Kummer zu seiner Wohnung.

Mine! Mine! Mine! das arme von einem Briefe an mich verscheuchte Mädchen, kam und erfuhr die große Neuigkeit von dem Heil, das diesem Hause widerfahren sollte. Der Stolz machte ihren Vater verdrießlich; denn es war nicht nach Herzenslust in seinem Hause eingerichtet – überall blickte Dürftigkeit hervor. – Würde nicht die Hoffnung auf Denen dieser Leidenschaft Zaum und Gebiß angelegt haben; die arme Mine, was hätte sie nicht noch mehr ausgestanden, als sie ausstand! – Das arme Mädchen, das viel zu edel war, um ein einziges Wort von ihren häuslichen Verfassungen gegen mich auch nur fallen zu lassen, das sich in alles schicken konnte, das selbst auch ihren Bruder Benjamin, obgleich er das Schneiderhandwerk lernte, zu dieser Denkungsart hinauf gestimmt, der um alles in der Welt willen nichts von meinem ἀνέχου καὶ ἀπέχου angenommen hätte; dieß arme Mädchen sollte zu meinen Eltern gehen – und borgen, damit die hohen Gäste,[169] wie Hermann sie nannte, übermorgen, wie es sich eigne und gebühre, aufgenommen werden könnten. Verzeihung, Vater, das kann ich nicht! sagte Mine sehr gefaßt. Hermann stampfte, wüthete und tobte, bis ihm Mine endlich einen Plan vorlegte, der, ohne daß geborgt werden dürfte, zu bestreiten wäre. – Mag es – antwortete er, wiewohl noch unwillig – mag es – denn er konnte es Minen nicht verzeihen, daß sie zu meinen Eltern zu gehen verweigert hatte. Er gab ihr, wiewohl unter Hieroglyphen, zu verstehen, daß sie meinetwegen dieses Schrittes wegen die Peinlichkeit eben so nöthig nicht hätte. – Mine verstand nicht bloß, was er sagte, sondern auch, was er dachte; indessen verschwieg Hermann meinen Namen vorsichtig, und da Mine ihren Plan gut einzukleiden wußte, überwand ihn die Hoffnung, Magdalenens Reichthum zu überzählen, endlich ganz. – Die Freude nahm Oberhand, und diese verführte ihn, Minen seine Heirath rund aus zu entdecken. Das gute Mädchen hörte keine Neuigkeit, allein sie konnte nicht umhin, ihm im Hintergrunde des Gemäldes, das so schön in seiner Erzählung aussah, die Fehler zu zeigen. Die Sache war indessen nach ihrer Meinung zu weit gekommen, als daß sie sich lange bei diesen Fehlern im Hintergrunde verweilte.

Mine hatte durch ihrer Hände Arbeit sich schon seit der Zeit, daß ihr Vater Denens wegen die Schulanstalten aufgehoben, beinahe allein erhalten. – Jetzt brachte sie von diesem ihrem kümmerlich ernähten Verdienst von freien Stücken etwas in den Plan zur Aufnahme, ohne sich einst darüber ein Verdienst zuzueignen und es dem Vater zu entdecken. Das gute Kind! – Der feierliche Tag erschien, den Sara und Hagar zum Besuch bestimmt hatten. Der alte Herr konnte diesen Mittag nicht essen, nicht trinken; er blies selbst den Staub ab, wo er noch Staub in dem Zimmer entdeckte, und vergaß so sehr, daß er Literatus war, daß er Holz gespalten haben würde, wenn es auf diesen Umstand bei[170] Minens Plan angekommen wäre. – Er trug nicht tagtäglich Manschetten, allein er legte sie, wie die Pastoren den Kragen, in die große Bibel, um die Manschetten in Züchten und Ehren zu erhalten. Dießmal nahm er ein ganz neues Paar, allein dem unerachtet mußte Mine sie ihm noch aufbügeln, und da sie's ihm nicht zu Dank machte, vollendete er dieses Werk selbst. So lang wie des Himmelsbürgers waren die Manschetten Hermanns nicht; allein Hermann war auch in Wahrheit nicht werth, meines Vaters Landsmann in dem allerentferntesten Sinne zu seyn.

Mine hatte Tannenreiser und Kalmus in die Zimmer gestreut und mit Wachholder geräuchert, da Hermann eben mit den Augen seinen Gästen entgegengelaufen war. Dieß mußte alles, bis auf das letzte Wölkchen Rauch, das sich im Zimmer herumzog – heraus, sobald Hermann wieder kam, weil es, wie er sagte, in großen Häusern nicht mehr Sitte sey, Tannen, Kalmus und Wachholderrauch zu riechen. Man spritzt, fuhr er fort, die Zimmer mit wohlriechendem Wasser aus, um den Staub eben hiedurch niederzuschlagen. Die Nase des alten Herrn fand, nachdem schon alles aus dem Zimmer war, noch so einen gemeinen und, wie er ihn nannte, Coriandergeruch, daß er durchaus Modeweihwasser verlangte, um es auszusprengen. Mine konnte ihm damit nicht dienen – sie hätte gern das Grüne im Zimmer beibehalten.

Es schlug die Stunde, da er seine Gäste erwartete, und da man nach Ortsumständen sie mit Grund erwarten konnte, allein vergebens. – Hermann, obschon er einen Boten ausgesandt hatte, um ja den hohen Gästen weit genug entgegenkommen zu können, konnte sich nicht entbrechen, auf die Zinne des Tempels zu steigen. Es konnte bei dieser Gelegenheit nicht fehlen, daß seine Unter- und Oberkleider, obgleich er die letzten durch einen Mantel von Glanzleinwand in Obhut genommen, vom Staub angegriffen wurden. – Er hatte nichts von seinen Gästen entdeckt, und das war sehr[171] natürlich. Wenn der gute Mann sein höchst unzulängliches Gesicht zuvor übermessen, so hätte er diese Mühe sparen und den Mantel von Glanzleinwand in sanfter Ruhe lassen können. – Er war von unten bis oben zu beschäftiget sich wieder zu reinigen und zu läutern, und zitterte an Händen und Füßen und über Leib und Leben, wenn er was rauschen hörte. Da sind sie! schrie er, und lief und kam wieder, und lief noch einmal und kam noch einmal wieder. Obgleich Mine, die heute wohl Martha hätte heißen können, ihm eben so oft als er lief und wieder kam, »der Bote« nachschrie, so war er doch in einem solchen Gedankenconcurs, daß er nicht aus noch ein wußte. – Endlich (nachdem er schon eine halbe Stunde rein und sauber, wie aus einem Schreinchen gezogen, dastand) der Bote! – Wie ein Blitz war er fort. »Noch eine halbe Viertelmeile;« auch die halbe Viertelmeile hielt ihn nicht. – Er flog. – Regine, das Hausmädchen, schrie ihn dießmal bei aller seiner Eile zurück; unfehlbar glaubte er, daß Mine ihm noch eine Frage zu thun hätte.

Wollen Sie, sagte sie auf lettisch, nicht den Glanzleinwandsmantel überziehen? – Keine Furie kann wüthender werden, als unser alter Herr ward, und nun hätte ihn nichts zurückgebracht, nichts –

Sie kamen. – Mine war höflich, ohne sich wegzuschleudern. Sie hatte mich vor Augen und im Herzen – und der alte Herr konnte nicht aufhören, mit Geberden ihr zu verstehen zu geben, daß sie zu wenig, viel zu wenig thäte. – Er, das wissen ja meine Leser, war ein Regenwurm.

Die gnädige Sara hatte so viel mitgebracht, daß Minchens wohlgemeinter Plan völlig vereitelt ward. Die hohen Gäste hätten, dünkt mich, wenn es auch nur der guten, wohlmeinenden Hand Minchens wegen gewesen wäre, sich zu demjenigen bequemen können, was dieses gute arme Mädchen des Hausfriedens halber zum Theil[172] von ihrem Nähgelde angerichtet hatte; allein Sara und Hagar waren viel zu stolz, um sich so tief herabzulassen.

Minchen hatte den Einfall, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und nichts von dem Mitgebrachten anzunehmen; allein konnte sie's ihres Vaters wegen? Er winkte so lange, bis sie nahm und aß. – Nun hätte er zu winken aufhören können und sollen, allein er setzte es fort, und wollte durchaus, daß Mine sich den Magen verderben sollte. Das that sie nicht. – Es war ein unbeschreiblicher Stolz, womit diese Antiken, Sara und Hagar, über Minen herfuhren. Daß sie nicht von den natürlichen, wohlgemeinten Speisen nahmen, würde den beiden Damen endlich zu verzeihen gewesen seyn; allein es war unverzeihlich, daß sie sich über Gottes Gaben herüberbogen und die Nase rümpften. – Sie maßen Minen hundertmal mit ihren Augen, und hier und da hielt sich der Blick auf, als ob er ein Plätzchen gefunden hätte, das werth wäre ein wenig anzuhalten. Dieß alles war Minen unerträglich. Sie durfte nicht hundertmal auf- und abblicken, um dieses Paar völlig zu übersehen und ihre Ueberlegenheit zu fühlen. – Die Wittwe Sara that einige Fragen an sie. Womit sie sich die Zeit vertreibe? Ob sie einen Liebhaber hätte? Ob sie auch die Küche verstünde? Anzusehen, setzte sie hinzu, ist es nicht. – Ihre Hände sind so küchenrein als einer Dame von Stande. – Nicht wahr, liebe Dene?Dene enthielt sich aller Fragen, allein man konnte es deutlich bemerken, daß sie sich solche in bester Form Rechtens vorbehielt. Ihre Stunde hatte noch nicht geschlagen.

Das abgebohnte Clavier brachte die hohen Gäste auf die Musik und die gnädige Sara auf die Frage: ob Minchen musikalisch wäre? Mine beantwortete diese Frage mit der ihr eigenen Bescheidenheit. – Obgleich die hohen Gäste keinen Beweis, in wie weit sie musikalisch sey, begehrten, so bestand doch der alte Herr darauf, »Mine sollte singen und spielen,« da er es seinen hohen Gästen so nahe[173] legte, bestanden sie auch darauf, denn eine Bitte war es noch lange nicht. – Etwas Bekanntes, sagte er; denn er wußte wohl, daß ein Präludium, wenn es Hand und Fuß haben sollte, bei ihm vierzehn Tage zuvor bestellt werden mußte. – Mine sang und spielte, weil sie singen und spielen mußte. – Es war indessen keine Dedication an die hohen Anwesenden. Wenn diese Damen Gefühl gehabt, hätten sie wohl den Vogel im Bauer gehört. Indessen hatten die hohen Gäste weder so seine Ohren, noch so seine Herzen.

Dene hatte ein Paar Strahlen der Hoffnung auf den alten Herrn fallen lassen, die ihn entzückten.

Uebermorgen erwarte ich meinen Sohn, sagte die gnädige Sara zum Hermann, Sie werden doch so gut seyn und zu uns kommen? Minen fuhr es in alle Glieder. Mir war es, wie sie schreibt, als ob Sara hinzusetzen würde: Bringen Sie Ihre Tochter mit. – Ihre Befürchtung war vergebens. Der Stolz ließ diese Bitte nicht zu.

Noch ein paar Blicke von oben bis unten, und dann wieder von unten bis oben, ohne daß der Blick Minen die Ehre that, irgendwo zu weilen, und nun – Gott bewahre Sie, mein Kind! – Ein gewöhnliches Compliment. Mine schreibt: »Mir war es als hätte ich gesagt: Vor solchen Leuten – ich erschrak, allein ich hatte es nur herzlich und von ganzer Seele gedacht.« So ward hier, und so wird jederzeit das Gesetz erfüllt: Unrecht straft seinen eigenen Herrn.

Der alte Herr war in Seelenangst, auf welche Art, ohne sich zu viel herauszunehmen, er die gnädige Wittwe in den Wagen bringen sollte. – Endlich legte er Hand aus Werk. – Mit Denen ward er geschwinder fertig. Sie hatt' ihm Muth und Leben eingeflößt. – Er wollte durchaus zu Pferd' und den hohen Gästen vorreiten, allein sie verbaten es, der üblen Nachrede wegen,[174] und also begnügt' er sich, sie wieder bis auf die Stelle zu begleiten, wo er sie entgegengenommen.

Froh kam er zu Mine, allein dieß konnte die Strafpredigt nicht abwenden, die er ihr hielt, viel zu wenig, viel zu wenig sich gebückt, gesungen, gespielt und gegessen zu haben.

»Und wie gefällt dir (diese Frage außer allem Zusammenhang), wie gefällt dir Dene?«

Wie sie mir gefällt?

»Wie sie dir gefällt?«

Da sie meine Mutter werden soll – »Das ist sie schon!« unterbrach er Mine, wegen der paar Strahlen von Hoffnung, die sie auf ihn geworfen hatte – so ist es Pflicht – »diese Antwort erwart' ich von Minen.«

Es ist schwer, schreibt Mine, sehr schwer, wenn man eine so gute Mutter gehabt, einer Dene als Mutter zu huldigen, und wäre das vierte Gebot nicht –

Der alte Herr verfehlte nicht, der Einladung der gnädigen Sara gemäß sich zu rechter Tageszeit einzufinden, und wer hätte das gedacht? Der Herr Sohn der Madame Sara war kein anderer als der Herr v. E., der französische Curländer, welcher kriechend und stolz, für und wider sich, und gewiß auch Freund und Feind eines jeden Menschen war, je nachdem es die Umstände gaben. – Der Affe mit den Halbstiefeln! Der alte Herr fand ihn schon, da er ankam, und machte tausend Umstände, daß er ihm nicht entgegengekommen.

Der Teufel, Herr! wo haben Sie wissen können, daß ich kommen würde?

Die gnädige Mama!

Wir waren beim Herrn Hermann, ich und Dene, fing die gnädige Mama an. Dank, Herr Hermann, für alle erzeigte Höflichkeiten! – Für den schönen Sang Ihrer Tochter! Das ist[175] wahr, Herr Hermann, Sie können sich was auf solch eine Tochter einbilden. Ist es Ihre rechte Tochter? Ein hübsches Mädchen! Nur scheint sie mir die Finger nicht in kaltes, nicht in warmes Wasser zu stecken. – Ihre Hand faßt sich wie Atlaß an.

Da war unser Ankömmling wie ein Geier auf die Taube.

Ich liebe schöne Hände, gnädige Mama, die nicht kalt und warm vertragen, die sich wie Atlaß anfassen lassen; wann sind Sie zu Hause, Herr Hermann?

Wenn Ew. Hochwohlgeboren befehlen.

Ich will meiner Mutter nicht die Ehre allein lassen, Sie besucht zu haben; denn in Wahrheit, es kann kein Mensch ein größerer Liebhaber von einer schönen Hand oder von der Musik seyn, das ist beinahe einerlei, als ich.

Die Wittwe v. E. (ich habe sie lange genug und bis zum Ueberdruß meiner Leser Sara genannt) machte ihrem Sohne Vorwürfe, daß er sie so lang' auf sich hatte warten lassen. Dein Brief aus Königsberg –

Schönste Mutter (Frau v. E. hörte dieß gern), ich fand in Königsberg noch dieß und das, und Sie wissen wohl, wenn man dieß und das findet, so kann man so geschwind nicht. – Wir wissen das dieß und das, wobei Herr v. E. um und in Königsberg, vor seiner Rückkunft nach Curland, noch zum Ritter zu werden den Beruf hatte: nicht zum irrenden, denn hiezu hat er keinen Ansatz.

Deine Mutter aber hättest du über dein dieß und das nicht vergessen sollen, sagte die Frau v. E.

Vergessen? Schönste! vergessen? – Noch unterwegs traf ich ein hübsches, liebes Kind, und sagen Sie selbst, wie kann man eine schöne Gegend sehen und nicht wenigstens darauf athmen, und sich freuen, daß man athmen kann? Die gnädige Wittwe holte sehr tief Athem und ward durch diese und dergleichen Unterredungen,[176] die alle ergaben, daß Herr V.E. ein großer Verehrer von schönen Gegenden war, zur eigentlichen Materie gebracht. Du weißt, mein Kind, fing sie an, was dein seliger Vater wegen des Fräuleins S. noch bei seinen Lebtagen berichtigt. – Du weißt, daß dein Herz und deine Hand vergeben sind, und wenn du diese Gegend, die dir bald eigenthümlich zugehören soll, mehr in Erwägung gezogen, ich wette, du hättest deine Mutter nicht so lange warten lassen. – Im Testament denkt er an diese deine Verlobte, welche dich mehr liebt, als du dir vorstellen kannst. Sein letzter Wille setzt fest – hier nahm sie ihren Sohn, um sich mit ihm dieses Testamentswegen zur vertraulichen Unterredung einzuschließen.

Hermann hatte Gelegenheit, mit seiner Dene eine gleiche vertrauliche Unterredung anzustellen, bei der es beinahe bis zum B gekommen wäre. Es war dieses im eigentlichen Sinn für Hermann ein Schäferstündchen – denn er liebte, er liebte brennend – nicht Denen, sondern das liebe Ihrige, und davon sollt' in dem gegenwärtigen Stündchen gehandelt werden. – Es fiel sehr auf, daß die Frau v. E. sich mit ihrem Sohne, nicht seiner Heirath wegen, eingeschlossen. Diese diente nur zum Vorwand und Ueberrock; Dene war die Hauptrolle. Hermann empfand den glücklichen Vorfall, daß sich die Frau v. E. und ihr Sohn paarten; denn wo ein vertrautes Paar sich sondert, da gibt's mehr.

Sehen Sie nur, Herr Hermann, fing Dene an, es ist bei alle dem eine eigene Sache mit dem Testament, ich bin mit der gnädigen Frau wie getraut, wir können es nicht, der Tod soll uns scheiden.

Das dächt' ich, sagte Hermann, hätte nichts zu sagen.

Ein Testament!

Eine Ehescheidung!

Recht, lieber Hermann!


[177] (Hermanns Herz sing diesen Ball und freute sich, wie sich ein Kind freut, wenn es den Ball gefangen hat.)


Nun, meine Englische?

Aber die Scheidungsstrafen?

Das ist zu machen.

Und wie?

Und wie? Sie gibt Ihnen ein Jährliches, so lange Sie leben.

Wenn sie will.

Sie muß wollen.

Wenn ich zur Scheidung Anlaß gebe?

Wenn auch! – Im Herzen, glaub' ich, steht sie nicht ungern –

Daß ich gehe? – Dieß ist auch meine Hoffnung.

Zu der meinigen gehört mehr.

Was mehr?

Sie, meine Englische.

Lieber Hermann, ich dacht' eben dran.

O wie glücklich bin ich!

Ich dacht' eben, wenn die Frau v. E. diese Pension nur auf meine Lebenszeit beschränkt, so würden meine künftigen Erben –


(Hierbei hätte dem Hermann angst und bange werden können; indessen deutet' er diese Erben, wie es auch wohl gemeint zu seyn den Anschein hatte, auf sich.)


O Englische, o Gütigste! Sie denken auch nach Ihrem Tode – (Er weinte, denn das ward ihm nicht schwer. Ein Mensch wie er hätte beim Worte Tod heulen und zähnklappen sollen; allein es waren diese Thränen wie alles an ihm war. Seine Empfindungen waren Kunst. Sie ergossen sich nie, sie wurden nur durchs Druckwerk getrieben. Er hatte beides, Lachen und Weinen, in einem Behältniß – wie man wollte, wollte er mit.)[178]

O, den werd' ich, den werd' ich nicht überleben!

Dene, welcher unfehlbar der selige gnädige Herr beim Ueberleben einfiel, fing auch bitterlich zu weinen an. Hermann deutete dieses auf sich und umfaßte ihre Knie, und – da hörten diese Turteltauben die zurückkommende Frau v. E. und ihren Sohn, das Testament in der Hand.

Jedes, Dene und Hermann, gingen an ein ander Fenster. Es hatte sich schon jedes etwas kalt gewordenes Theewasser aufs Schnupftuch gegossen, um desto gründlicher alles zu verwischen.

Herr v. E. wandte sich, da er zurückkam, das Testament noch in der Hand, zu Denen. – Da find' ich, liebe Dene, fing er an, eine närrische Clausel. – Hat der Teufel je so was gehört, zwei Frauenzimmer sollen sich verheirathen! – Sie haben mir nie was Böses gethan, liebe Dene, und noch bei meines Vaters Leben, wo Sie im Hause was galten, habe ich alles Liebe und Gute, es versteht sich in allen Ehren, von Ihnen genossen; – allein so weit geht die Erkenntlichkeit nicht, und so nah sind wir, mit Ihrer Erlaubniß, nicht verwandt, daß meine Mutter eine Person im Hause ertragen sollte, die ihretwegen gar nicht ins Haus kommen sollen. Sie verstehen mich doch, Dene?

O ja, sagte Dene.

Sie haben also Ihren Abschied.

Frau v. E. Ohne daß Sie sich eben übereilen dürfen.

Herr v. E. Heute, morgen, übermorgen.

Dene. Und wegen meiner treu geleisteten Dienste?

Frau v. E. sah ihren Sohn an, als ob sie sagen wollte: Hab' ich es nicht gedacht?

Herr v. E. Es wird sich finden –

Frau v. E., die herzlich froh war, daß sie Dene so auf gute Manier, ohne einst einem Rechtsgelehrten deßfalls zu beichten, los[179] war, fiel ihrem Sohne ins Wort; Dene soll nicht drunter leiden! – Wir werden darüber eins werden!

Dene küßte der Frau v. E. die Hand und dem Herrn v. E. deßgleichen, und so war also Herr v. E. ein trefflicher Executor testamenti.

Hermann erzählte diese Geschichte, da er heim kam, seiner Tochter Minen. – Denn er war außer sich. – Kein Stein des Anstoßes mehr auf dem Wege zu Denens Herzen – aber ein großes Aber blieb ihm im Herzen stecken, weil es noch nicht berichtigt war, was Dene zum Abtrag haben sollte. Minen ergriff eine große Angst. Sie hatte beständig Ahnungen. – In dem Augenblick, schreibt sie, da mein Vater den v. E. aussprach, noch eh' er ihn aussprach, wußt' ich, daß Herr v. E. zu uns kommen würde; nur wer er war, wußt' ich nicht halb, nicht ein Viertel.

Den achten Tag, so lange hatte sich Hermann wegen kleiner podagraischer Anfälle, die ihm sehr ungelegen kamen, zu Hause gehalten, langte Herr v. E., wie er schwor, der Musik wegen, an, und nebenher zu sehen, wie Hermann sich befände. Mine that einen heftigen Schrei, da sie den Herrn v. E. sah. Er aber, nachdem er sie durch's Glas betrachtet, fand sie allerallerliebst – und das sagt' er ihr so ohne Rückhalt, als ob sie zum Kauf stände, wo jedem Vorbeigehenden frei stehet, ohne Umstände allerliebst zu sagen.

Es blieb bei diesem Allerliebst nicht. Sie war im Negligé, und da fand er das Band am Busen so sehr der Jahreszeit angemessen, daß man es nicht besser in Paris hätte wählen können. – Er packte seine drei Gläser (durch alle drei hatt' er sie gesehen) ein und schien es dazu anzulegen, Minen mit seinen leiblichen Augen zu erreichen. Er war fertig, sie in nähern Augenschein zu nehmen. Da nahm Mine ihre ganze Gewalt im Auge zusammen,[180] um ihn zur Erde zu sehen. – Er fühlte diesen Blick, obgleich er ein ganzes rundes Jahr in Paris gewesen war, und er kam wieder zurück zu seinen drei Gläsern und zum Allerliebst. Von dieser Stelle hätt' ihm das Auge der Tugend selbst nicht wegblitzen können. – Mine hatte nichts mehr nöthig, als diesen Zwitter von Franzos und Curländer zu sehen, um ihn unausstehlich zu finden. – Sie würd' über den ersten Sterblichen mich nicht vergessen haben. Sie war ganz mein. Sobald sie diesen Gecken gesehen hatte, sah sie, was sie oft gesehen, daß ihre Ahnungen nicht immer träfen. – Ein Geck dieser Art kann nicht schwer zu entfernen seyn, dachte sie, und in Wahrheit, sie dachte sehr richtig, denn mich dünkt, nichts ist einem jeden gutdenkenden Mädchen leichter, als einen Stutzer, der ein Jahr in Paris gewesen, auf seine Grenze und zu seinen drei Gläsern zu bringen – ich weiß wohl, wer unverschämter ist.

Es ist mir unbekannt, ob meine Leser schon einen curischen Franzosen gesehen haben. Werth zu sehen ist er! Franzos und Curländer reimen sich, als Chapeaubashütchen und Stallmeisterstiefel, als Sonnenschirm und Jagdtasche.

Ich habe schon die Ehre, gehabt, den Herrn v. E. als meinen Nebenbuhler zu präsentiren, und jetzt kennen ihn meine Leser noch obenein.

Herr v. E. konnte nicht ein Auge, oder eigentlich ein Glas, von Minen lassen. – Er war außer sich, steckte die drei Gläser an ihren Ort, und kam wieder an das der Jahrszeit so angemessene Band am Busen, das man in Paris nicht besser wählen können. – Mine warf ihn auch wieder mit einem Blick zu Gottes Erdboden – den Elenden! der nicht werth war, daß ihn die Sonne beschien. – Dem Kuß zum Abschiede ward ihr schwer zu entgehen; sie entging ihm zwar, indessen singen ihre Ahnungen wieder ihr Recht zu behaupten an. – Hermann selbst schien die Freiheiten,[181] die sich Herr v. E. herausgenommen, zu mißbilligen. Diesen Schein dedicirt' er indessen bloß Minen hinter des Herrn v. E. Rücken. – Uebrigens verstattete das Podagra dem Hermann nicht, so hart er sich gleich stellte, den Herrn v. E. so weit zu begleiten, als seine Geburt es mit sich brachte, und wegen dieses Umstandes konnt' er nicht aufhören um Verzeihung zu bitten.

Schon den folgenden Tag ward Hermann zur Frau v. E. gebeten; allein er konnte von diesem Ruf erst den dritten Tag Gebrauch machen. – Hermann war noch nie so bitterbös aufs Podagra gewesen als dießmal.

Herr v. E. hätte beinahe, wie er sich ausdrückte, den Verstand über Minen verloren! – Dazu, glaub' ich zwar, würde wenig erforderlich gewesen seyn, weil er gewiß keine große Summe zu verlieren hatte; indessen sah man aus allem, daß, so bereist er gleich war, er selten eine so schöne Gegend als Minchen gefunden, obgleich er ein ganzes rundes Jahr in Paris gewesen.

Da er ohne und mit den drei Gläsern gesehen, daß Minchen kein bonum vacans (erbloses, lediges Gut), wobei der Dieb galgenfrei stehlen kann, sondern zu tugendhaft wäre, um sein Allerallerliebst zu beherzigen, so fand er nöthig, einen andern Weg einzuschlagen und diese Festung, nach seinem Ausdruck, die nicht im Sturm überging, durch List einzunehmen.

Nachdem ich das Testament, fing er an, genau erwogen, find' ich Ihre Scheidung von Denen so leicht nicht, gnädige Mutter, als zuvor.


(Hermann und Dene gegenwärtig.)


Das dacht' ich wohl, erwiederte Frau v. E. in ihrer Unschuld. Ein Testament ist ein Testament. – Es ist der Wille eines Vaters! eines Gemahls! der letzte Wille – und ich glaube nicht, daß Sie sich von Denen so leicht zu trennen im Stande sind.

Die Frau v. E. würde mehr gesagt haben, wenn nicht der[182] Herr Sohn dieses Drama in Gegenwart Denens und Hermanns aufgeführt. Die Mutter schrieb diesen Umstand auf die Rechnung seines Leichtsinns, allein er gehört' auf ein unwürdigeres Blatt, auf die Rechnung einer niedrigen List. Es war dieses Drama Ausdünstung eines bösen Herzens. Die Mutter blinzte bald mit dem rechten, bald mit dem linken Auge, allein der Sohn ließ den Vorhang nicht fallen, das Glück hatte seine fünf Aufzüge – Dene und Hermann hörten wie natürlich auf. Er machte dem Hermann, auf den es bei dieser List angelegt war, so bange, daß er stehenden Fußes Minen verrathen und verkauft hätte, wenn er damit dem Testament eine günstige Wendung geben können. Dieß war das Ziel, nach welchem Herrn v. E's Rede gerichtet war.

Je mehr seine Mutter bei dieser Sache abbrach, desto weitschweifiger ward er. Sein Auge lag auf der Erde und konnt' also dem Winken der Frau v. E. nicht begegnen. – Die Mutter nahm ihn endlich bei der Hand – er küßte die Hand und fuhr fort. – Wollen wir nicht allein? sagte sie. – Warum, schönste Mutter? antwortet' er; es sind ja unsere Freunde.

Seht! was ist Recht und Unrecht? Wachs in einer warmen Hand; du aber, gerechter Gott, siehst auf alle, die auf Erden wohnen.

Nach einem sehr ausstudirten Vortrage aller der Schwierigkeiten, warum Dene nicht das mütterliche Haus verlassen könnte, sucht' er mit Fleiß eine Gelegenheit, den Hermann allein zu sprechen, um ihn vollende in sein Netz zu ziehen. Herr v. E. that, da er diese Gelegenheit hatte, als ob sie ganz von ungefähr gekommen oder, wie man sagt, vom Himmel gefallen wäre.

Nöthig hat er nicht, den Hermann über Denen auszufragen, denn alles war gegendkundig; indessen fing er an, von Denen als von einer Sache zu sprechen, bei der man wenig oder nichts verlöre. Dieß wirkte. – Er brachte den Hermann immer weiter,[183] bis er ihn endlich so weit hatte, daß er zu allem Ja zu sagen warm war; nur Dene mußte von diesem Ja abhängen. Was meinen Sie, sagte Herr v. E., würd' Ihre Tochter wohl Denens Platz vertreten? – Kurz, Mine sollte Dene werden. – Ein Engel ein Teufel. Hermann nahm nicht nur den Apfel vom verbotenen Baum und aß, sondern riß noch einen ganzen Ast mit. Er dankt' in tiefster Unterthänigkeit für die gnädige Versorgung, und es ward auf Treu' und Glauben verabredet und abgeschlossen, daß Mine die erledigte Stelle der Dene einnehmen sollte.

Bösewichter! warum starrte nicht euer Kopf, da ihr diese Verrätherei, diesen Mord dachtet, und eure Zunge, da ihr ihn ausspracht! Hermann, deine Tochter, die Gerechte, kannst du verrathen und verkaufen? Minen, die dir nicht mehr zugehört, sondern mir? Minen?

Herr v. E. brachte den Hermann krumm und gebückt zu seiner Mutter. Er trug die Sache öffentlich vor, das heißt, in Gegenwart seiner Mutter und Denens, die nun wohl einsahen, warum? Sie lächelten beide, allein sie fanden die Sache an sich sehr überdacht. – Die Frau v. E. hatte nur noch die eine Bedenklichkeit, daß, ehe Mine Dene würde, ihr Sohn sich mit dem Fräulein S. verheirathen sollte. Es ist nicht darum, sondern darum, sagte die gnädige Mutter. – Sie behauptete dergleichen Dinge zu verstehen, und endlich, nach vielen Zweifeln und Auflösungen, blieb es dabei, daß er sich, ehe Mine zur Frau v. E. zöge, wenigstens öffentlich verlobt haben müßte. Wer die Beistimmung des Hermanns zu diesem Morde für Uebertäubung gehalten, wird jetzt auf diese Entschuldigung Verzicht thun und – was vom Hermann denken? Zu Anfange sollte Hermann, dem unter dieser Bedingung sein Ja gegeben war, Minens Ja abholen. – Dene mußt' unter dieser Bedingung B sagen; allein dieser Plan ward abgeändert. Herr v. E. entschloß sich selbst in hoher[184] Person Minens Ja abzuholen. – Wenn gleich Minchen nicht eher Dene wird, sagt' er, als bis ich verlobt bin, so kann ich doch mit ihr den Contract vollziehen und ihn, um eine feste Bindung zu haben, verkitten. Warum nicht? fragte Hermann; alles fragte ihm nach. Das Strategem, dachte Herr v. E., kann nicht fehlschlagen, und du Hast das süße Vergnügen, Minen Ja sagen zu hören – »und wenn ich's auch nur durch's Glas hören soll. – Wer hört nicht gern Mädchen-Ja's! – Ich will hin!«

Herr v. E. machte jetzt einen ganz andern Auftritt als im ersten Akt. Der Knoten war geschürzt. Wer den Vogel im Käfig hat, bedarf keines Vogelleims. Ohne ihr Band am Busen der Jahreszeit angemessen zu finden, ohne die Exclamation: aller-, allerliebst! trug er Minen, die auf diesen Antrag nicht im mindesten vorbereitet war, das bewußte Brodstellchen an. – Vielleicht würd' ein weniger kluges Mädchen als Mine drei Schritte zurückgetreten und Bedenkzeit nachgesucht, oder wohl gar Ja gesagt haben, obgleich es an sich immer ein falscher, ein Pariser Zug war, diese Anwerbung selbst, und nicht durch gute Männer auf deutsche Weise zu thun. – Mine sagte Nein! – Ein so offenes Nein, ein so kurzes und gutes Nein, daß Herr v. E. nicht weiter das Herz hatte, auf ein Ja bei diesem hartschäligen Mädchen (wie er es zu nennen pflegte) zu bestehen. Hermann war bei dieser Anwerbung nicht gegenwärtig. – Herr v. E., der von Minen Ja (dieß Wortspiel von Ja, denn sie sollte den Worten nach Ausgeberin, Gesellschafterin werden) hören wollte, fand sie auch schön beim Nein. Er küßte ihr die Hand – brennend.

Ich beklage, sagt' er und wußte nicht von sich selbst, ich beklage meine Mutter, meine liebe, liebe Mutter, meine schöne Mutter, die schönste, die ich kenne. Es fährt mir durch Mark und Bein, wenn mein Finger noch so leise den ihrigen tippt. Eine aller-, aller-, allerliebste Mutter. Der Saum ihres Kleides[185] macht mich schon glücklich! – Sein Auge redete weiter. – Es war so unverschämt, so ungezogen als möglich. Viele Leute glauben zwar, daß man mit dem Auge nicht ungezogen seyn könnte. – Die Pariser!

Hermann reiste mit und kam, sobald Herr v. E. zu seiner S. abging, wieder heim. Er that Minen eine Frage, die ihr durch die Seele ging. Wie gefällt dir der Herr v. E., fing er an – allein Mine, die das vierte Gebot wußte und auf die Frage: wie ihr Dene gefiel? – »als Mutter« antworten konnte, besaß keine Fassung auf diese außer dem Gebiete des vierten Gebots liegende Frage: wie ihr Herr v. E. gefiel, zu antworten. Sie vergaß hiebei den Vater im Kuppler und sprach so gewaltiglich, so zudringlich, daß sie den Hermann aus aller Fassung setzte. – »Solch einen Antrag«, fing Mine an, ihre Zunge war feurig, »solch einen Antrag mir! War ich denn auch nicht einmal eines gefirnißten, eines verkleideten werth? Mußte mir denn dieser Entwurf ganz wie er war und nicht einmal gekrümmelt dargelegt werden? Mir! – Zwar wäre mir die Bosheit auch in ihrer Larve nicht entgangen, ich hätte das Gift auch im Wein erkannt, und wenn ich zu schwach gewesen, wahrlich! Gottes Engel hätten mir den Vorhang aufgezogen, wenn er noch so künstlich wäre gewebt worden! aber diese Dummdreistigkeit im Laster! – Gott!« – – Sie reckte ihre Hand weit gen Himmel, um sich durch diese Vollmacht zu der guten Sache zu berechtigen; sie sprach im Namen der Tugend, als ihre Machthaberin, und Hermann rang die Hände, schlug an seine Brust und versprach, sie nicht zu verrathen und zu verkaufen: sie nicht zu vertauschen, auch selbst – was konnt' er mehr versprechen? auch selbst – »wenn ich drüber Denen verlieren soll!«

Diese Bußandacht bewegte Minen, sie fiel ihm um den Hals, sie weinte, sie betete, sie versprach ihn mit ihrer Hände Arbeit zu[186] ernähren, und ihren Bruder, der bald aus der Lehre treten würde, zur Beisteuer zu bequemen, um ohne Denen leben zu können. »Diese Hände,« sie faltete sie und sprach so feierlich als wenn sie einen Eid ablegte, »diese Hände sollen Tag und Nacht arbeiten!« – Hermann war wirklich bewegt. »Ist Ihnen der Unterricht der Kinder schwer, Sie können ja nicht bloß ein Mundwerk, sondern mehr als ein Handwerk.« – Pfui, sagte der alte Herr, so gerührt er auch war. Mine wollte das Handwerk dieses Pfui's wegen verreden, allein Hermann ließ sie nicht vom Fleck. Handwerk fuhr er fort. Wie kannst du mir ein Handwerk vorrücken? Was hab' ich denn für eins getrieben? Die Schneiderei an ihren Ort gestellt, wo ich doch auch kein Kleid, keinen Ueberrock, sondern Sachen verfertigte, die nicht ins Auge fielen. Brusttücher und so was. – Von Stiefeln Schuhe, von Schuhen Pantoffeln künsteln, heißt das Schustern? Und etwas aus Thon drechseln, heißt das Töpfer seyn? Ich war, damit du's einmal für allemal weißt, Freischneider, Freischuster, Freitöpfer, so wie viele von unsern hochwohlgebornen Herren, wenn sie von Reisen kommen, Freimaurer sind. Mine gab sich alle nur ersinnliche Mühe, ihren Vater zu beruhigen, allein vergebens. Er konnt' ihr das Handwerk nicht verzeihen. Und die Schule? fuhr Mine fort. Auch nicht! erwiederte Hermann, der nicht Commißbrod essen wollte, wenn er magenverderbendes Gebackenes haben konnte. Du weißt, sagt' er ihr, daß wir die letzte Zeit jährlich eingeschustert haben – (gern hätt' er dieses Wort zurückgehabt) – Du weißt – – Mine weinte. – Sie leitet' ihren Vater auf Gott, den Brunnquell aller Gnaden. Wie ein Vater sich erbarmt über seine Kinder, so wird sich Gott erbarmen über uns, wenn wir ihn fürchten – wenn wir auf seinem Wege wandeln, seine Rechte halten und darnach thun. Ich will Nacht und Tag zu Gott empor rufen! Ich will eine Nähschule halten; ich will beten und arbeiten bei Brod[187] und Wasser. – Ich will alles, alles versuchen, was ehrlich und recht ist, vor Gott und Menschen. – – Aller Augen warten auf den Herrn! Er gibt Speise zu seiner Zeit, er thut seine milden Hände auf, sättigt alles was lebt, bis auf die himmelschreienden Raben. Sind wir denn nicht so gut als sie? – Mine sagte dieß mit solcher Zuversicht, daß Hermann ihr nicht weiter den Vorschlag von Mund-und Handwerk nachtrug.

Hermann wiederholte sein Versprechen langsam, bedächtig, als schwör' er einen Eid, Minen zu behalten, auch wenn er Denen drüber einbüßen möchte.

»Wie hätt' ich,« schreibt Mine, »ihm Glauben verweigern können? – Das Blut, das mir bei dieser Scene zu Herzen schoß, redete für ihn.« – – So weit konnt' es Mine nicht bringen, daß er nicht mehr nach – – zur Frau v. E. reiste.

Wer hingeht, sagte Hermann, muß zurückgehen; indessen wiederholte er mit einem feierlichen, Gott anrufenden Blick sein Versprechen. Es war gleich den folgenden Tag nach seinen Brustschlägen, nach seinem Blick, oder, welches einerlei ist, nach seinen Schwüren, daß er zur Frau v. E. dringend geladen ward. Mine nahm Gelegenheit, da sie ihren Vater auf dem rechten Wege hatte, ihm unsere Verbindung so deutlich zu machen, daß nur noch die Worte fehlten: Ich bin mit Alexander verlobt, wir sind Eins. – Mit Fleiß öffnete sie ihm Aussichten, wodurch er Denens wegen entschädigt werden sollte, und glaubte sie (wie sie schreibt) ihn im Geistlichen und im Leiblichen gewonnen zu haben. So unbescheiden Hermann in dergleichen Fällen war, so hascht' er doch nach keiner Sylbe mehr von mir als ihm Mine gab. Diese Bescheidenheit leistete Minen Bürgschaft für alles. – Vergessen Sie Ihre Tochter nicht, sagte Mine, da er von ihr Abschied nahm, Gott, wird Sie auch nicht vergessen, wenn Ihnen Hülfe, Trost,[188] Rath – noth ist. Es bleibt, erwiederte Hermann, und schwur wieder mit einem Blick.

Um also zurückzugehen, ging Hermann nach – und Mine war voll guter Hoffnungen, und diese gab sie, so sehr sie gleich das lange Ausbleiben des Vaters befremdete, doch noch den ganzen Tag, den Abend, die Nacht, den folgenden Mittag nicht auf.

Da aber Hermann auch den Mittag drauf noch nicht nach Hause kam, stiegen wieder Wolken oder Ahnungen auf. Sie wartete noch bis Mittag des folgenden Tages, und nun war es Minen mittagsklar, daß ihr Vater so viel Zeit nicht bedürfe, um zurückzugehen. Gegen Abend ein Brief von Hermann! – Mine wußte schon, ehe sie ihn öffnete, was drin war, und meine Leser werden es auch wissen.

»Ich bin krank, komm, deinen Vater zu sehen, denn vielleicht stirbt er, damit er dich segne.«

Das war der abscheuliche Inhalt eines Briefes, den ein Mann schreiben konnte, in dessen Mark Gichtgift verborgen lag, das oft, eh' er sich's versah, aufgährte; der mit feierlichen, Gott anrufenden Blicken geschworen hatte. – O Hermann, konntest du so mit dem väterlichen Segen spotten? und so mit dem Tode? und so mit Eiden?

Mit diesem Brief kam ein sehr gemeines Fuhrwerk, um alles desto glaubwürdiger zu belegen – und die Sache desto klüglicher zu machen. Man wollte durch diesen Einfall den vorigen zu plumpen Plan ausputzen und in einem elenden Zimmer Schildereien aufschlagen.

Mine schrieb sehr kalt an ihren Vater, bedauerte seine Zufälle, kommen würde sie nicht, die Ursachen müßten ihm erinnerlich seyn; sie hoff', er würde sein Versprechen erfüllen, und hiemit: leben Sie wohl!

Dieser Brief machte dem Hermann natürlich sehr viele Mühe,[189] um sich herauszuwinden; denn er hatt', aller seiner Betheuerungen unerachtet, auf den ersten gegenseitigen Angriff alles, alles aufgeopfert, alles – Das Wort von der Hoffnung, daß Hermann sein Versprechen erfüllen würde, das Mine eingestreut hatte, machte seiner Hermeneutik die meiste Mühe. Herr v. E. sowohl als Dene wollten daraus herleiten, daß er zweien Herren diene. Dieser saure Schweiß bei der Auslegung brachte den Hermann wider Minen auf eine höchst ungerechte und unnatürliche Art auf. Nun hatt' er mit genauer Noth diese Briefstelle gerettet und die hohen Anwesenden überzeugt, daß er nur einem Herrn diene, und nun war ihm auch nichts heilig. Der Satan fuhr in ihn. Er wollte Gift mischen und wußt' es nur nicht anzufangen. – Er entdeckte meine Verlobung mit Minen als den einzigen Grund ihres Neins. – Die Sache ward im ganzen Zusammenhang genommen, und nachdem er meine Mutter, meinen Vater und mich (Herr v. E. erinnerte sich meiner haarklein) in Lebensgröße dargestellt, so ward beschlossen, meiner Mutter Minens Liebesverständniß mit mir zu entdecken, ihr einen von meinen Briefen in der Urschrift beizulegen und Minen alle Auswege abzuschneiden, den Stricken so vieler Teufel zu entkommen.

Arme, arme Mine!

Hermann kam, um seine Krankheit desto wahrscheinlicher zu machen und Minen desto sicherer ins Verderben zu stürzen, erst nach drei Tagen nach diesem unglücklichen Brief an gerechnet, nach Hause. Was Mine während dieser Zeit ausgehalten, ist unbeschreiblich. Die erste Beschäftigung Hermanns nach seiner Rückkehr war, einen von meinen Briefen an Minen zu entwenden. Dieser Vorposten macht' ihm keine Mühe, weil Mine von dieser Seite nichts befürchtete. Vielleicht kühlt' ihn dieser Umstand, oder vielmehr die Vorstellung, daß Zorn die gute Sache verderben könne. Seine Maske war Güte und Freundlichkeit. Eine leichte Rolle für[190] einen Bösewicht. Der entwandte Brief ward sogleich an die Behörde, nämlich an meine Mutter, und zwar in Begleitung eines anonymen Briefes versandt.

Ich weiß nicht, ob meinen Lesern mit einem Theile des anonymen Uriasbriefes gedient seyn werde, womit diese Rotte Minen bei meiner Mutter anschwärzte, um ihr die letzte Trostquelle zu stopfen. Hermann war dabei der Fähnchenführer; denn obenein rächt' er sich so an meiner Mutter, ohne daß sie wußte, von wannen es kam.


* * *


»Da lesen Sie selbst, hochzuehrende Frau Pastorin. Sie kennen Bild und Ueberschrift – wahrlich, ein unwürdiger Sohn einer so würdigen, gottesfürchtigen Mutter, die genug für ihn gebetet und gesungen hat! So viel ist indessen gewiß, daß er nicht der Verführer, sondern der Verführte ist. Retten Sie seine Seele, die im Argen liegt, und machen Sie, daß er sie aus dem Argen ziehe und in seinen Händen trage. – Die ganze Gegend, und vorzüglich die in derselben, so seine Predigt angehört, ziehen über ihn die Achseln. Man glaubt, er habe Wilhelminen ein lebendiges Andenken zurückgelassen. Das wolle der Himmel nicht! Indessen war' aus den Worten: Mann und Weib, du und du, auf ein dergleichen im Verborgenen gebildetes Andenken, dem Sie, hochzuehrende Frau Pastorin, gewiß den Namen Großkind entziehen würden, nicht unsicher zu schließen. – Das beste ist, Wilhelminen – den Kauf aufzukündigen und ihr bei Hängen und Würgen alles Einverständniß mit dem Herrn Sohn zu untersagen, der in Königsberg nichts thut als Wilhelminen schriftlich lieben. Man weiß aus sicherer Hand –« Genug, ich kann nichts mehr abschreiben.

Mein Brief an Minen, den Hermann entwendet hatte und her diesem Schleichhandel den Schein des Rechts beilegte, war wie gewöhnlich treu und herzlich. – Die Stelle:[191]

»O Mine, o Weib! du bist mir wie gegenwärtig, und alles, alles ist mir gegenwärtig. Denkst du auch dran, wenn wir uns die Augen küßten, als tränken wir sie aus, wenn ich deine Hand so fest an mein Herz hielt, daß du jeden und den allergeheimsten Schlag drin fühlen konntest, den Puls der Liebe –«

Diese Stelle klammerte meine Mutter ein und nahm sie in frommen Beschlag. Zur Seite schrieb sie: »Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Uebertretungen, gedenke aber mein nach deiner großen Barmherzigkeit!« – Ueberall, wo Weib stand, zog sie einen Strich, als zöge sie einen Vorhang.

Mine konnt' es nicht über ihr Herz bringen, sich nach dem Befinden ihres Vaters zu erkundigen. Er dagegen hatt' auch kein Herz, an seine Krankheit zu denken. Hermanns Gesicht war bei aller angenommenen Freundlichkeit so durchsichtig, daß Mine wörtlich ihr Schicksal daraus abnehmen konnte.

Er fing die Lobrebe auf Herrn v. E. mit dem Eingang an: Wir haben uns geirrt, Mine. Irren ist menschlich. Wir haben uns geirrt. Herr v. E. ist nicht der Herr v. E., den wir glaubten, sondern ein ganz anderer Herr v. E. Der Text der Lobrede betraf seine Verlobung mit dem Fräulein S., und seine erd-, wand-, band-, niet- und nagelfeste Liebe zu ihr.

Ost kam die Verlobungserzählung so unzeitig, daß Mine mehr als zu deutlich sehen konnte, was diese Wiederholung sagen wollte. – Nach einer Weile fing er an: Du kannst nicht glauben, mein Kind, wie du dich durch deine Tugend dem Herrn v. E. empfohlen hast; er hat zum ersten- und zum zweitenmal ein Geschenk für dich in der Hand gehabt; allein du hast ihm so viel Achtung eingeflößt, daß er es nicht wagen dürfen –

Ein Geschenk, warum das?

Beim Geschenk, liebes Kind, fragt niemand warum?[192]

Mine konnt' und wollte nicht ihren Vater an seine Schwüre erinnern. Sie zitterte.

Wenn sich zu seiner Zeit ein Candidat fände, der dich heirathen wollte, fuhr Hermann fort, er sollte gewiß nicht lange auf ein Pastorat warten dürfen. – Hat der Herr v. E. Pastorate zu vergeben? fragte Mine bitter. – Das nicht, allein die Connexion der Edelleute unter einander –

Wieder nach einer Weile: Magdalene wird meine Frau! Das war nicht der erste Blitz, der Minen durchs Herz ging. – Meine Frank! wiederholte Hermann; ob du aber ihre Tochter werden willst, hängt von dir ab – die alte gnädige Frau will dich – du sollst nichts mit der jungen Herrschaft zu thun haben. Herr v. E. heirathet, das weißt du doch?

Ja, sagte Mine, ich weiß –

Wieder nach einer Weile: Er will, wenn du's verlangst, noch herkommen und sich wegen seines Antrages bei dir entschuldigen, den er dir sehr unzeitig gethan. Seiner Mutter kam dieser Antrag zu.

Ich sollte denken, sagte Mine –

Und dann wieder nach einer Weile: Er sieht seinen Fehler ein.

Mit oder ohne Glas? erwiederte Mine so bitter, so todesbitter, daß das weise Hofmännchen ganz aus dem Concept kam.

Mine war in einer schrecklichen Situation. – Sie sagt', ihr Plan wäre, ihre künftige Stiefmutter zu ehren, nie ginge sie in den Hof. Mein Leben, setzte sie sehr lebhaft hinzu, und meine Ehre ist eins!

»So?« sagte Hermann. Ja, Vater, sagte Mine.

»Und weißt du auch –«. Er wollte zu drohen anfangen; allein eben zu rechter Zeit fiel ihm seine Maske ein, er begnügte[193] sich daher großmüthigst, Minen den Bettelstab, Elend und Verachtung zu prophezeien.

Arme Mine, edles, unglückliches Mädchen! ich empfinde, was du empfandest – und dürft' ich doch nicht erzählen, was Mine sehr natürlich noch weit unglücklicher, noch bedauernswürdiger machen mußte.

Dieß verfolgte, unglückselige Mädchen entschloß sich, in den Armen meiner Mutter eine Freistatt zu suchen. Sie war aufs Aeußerste gebracht. Sie schrieb an sie. Den Brief hat Mine mir nie gezeigt. Es ist deine Mutter! schrieb die Holdselige und machte einen –

Ehe sie aber diesen Brief abschicken konnte, stehe da! ein Brief von meiner Mutter an Mine. Die Wirkung des Uriasbriefes und seiner Beilage. Dieser Brief fing sich an:

»Es will verlauten, daß Sie meinen Sohn verführt hätten und noch verführen –« und schon dieser Anfang lehrt, daß meine Mutter dem Uriasbriefe seine Schliche abgemerkt und den Verfasser für das, was er war – einen Schwarzkünstler, gehalten. Sie glaubte sein Hokuspokus vom lebendigen Andenken nicht, allein anstatt daß sie der verfolgten Mine, ihrer so wohlgerathenen Schwiegertochter, die Hand geben und sie in Schutz nehmen sollen, was that sie? Sie verschwieg diesen ganzen Vorgang meinem Vater, und wenn ich ihren Brief ganz meinen Lesern mittheilen sollte, würd' ich der Achtung zu nahe treten, die ich meiner Mutter schuldig bin. Sie ließ Mine aus besonderer Milde Vorzüge, nur den konnte sie ihr nicht zugestehen, die Frau eines Pastors und die Schwiegertochter einer so ahnenreichen Pastorin zu werden. Es wäre nicht das erstemal, schreibt sie, daß ein Cavalier ein armes Mädchen geheirathet hätte; sie wünschte, daß aus Scherz Ernst und Mine die Frau v. E. würde; denn unverhofft, setzte sie hinzu, kommt oft.[194]

Ein paar Stellen muß ich ungekürzt geben:

»Es wäre Stank für Dank, wenn Sie die Nachbarsrechte so gewissenlos aus den Augen setzen und meine grauen Haare so mit Schimpf und Schande hinab ins Grab bringen wollten. Ich habe etwas in originali gelesen, auf dessen Rechnung eine grau gewordene Stelle meines Hauptes gehört. Ich weiß die Minute, da sie grau ward. Gott verzeih' dem Urheber dieses Etwas in originali die graue Stelle auf meinem Haupte. – Lasset alles ehrlich und ordentlich zugehen, das, dächt' ich, hieße wohl ziemlich klar und deutlich, die Tochter eines noch zu bezweifelnden Literati könne meine Schnur nicht werden. – Ich habe schwarz auf weiß und verbitt' alle Sprünge durch einen Reif, alle Kunststücke der Entschuldigung, und kurz und gut, alles und jedes zur Antwort, die ich so warm, als ich sie erhalte, zurücksenden werde. Ihren Zuspruch muß ich noch aus einer andern Ursache mehr verbitten; auch selbst wenn Sie an der Hand meines Sohnes kämen, würd' ich für beide über Feld gegangen und nicht zu Hause seyn. So was kann nicht geschlichtet, sondern muß gerichtet werden. Ungern hab' ich an Sie geschrieben; allein um nicht Oel zum Feuer zu gießen und das allgemeine Gerede noch gemeiner zu machen, das ohnehin schon in fliegende Blätter ausartet, wie eine Raupe in einen Schmetterling – bloß darum dieser Brief, der erste und der letzte.


Sing', bet' und geh' auf Gottes Wegen,

Verricht' das Deine nur getreu!

Vertrau' des Himmels reichem Segen,

Und er wird jeden Morgen neu!

Denn wer nur seine Zuversicht

Auf ihn setzt, den verläßt er nicht.«


Da war nun Mine von aller Welt verlassen, diese Gerechte! Das Schwarz und Weiß und das allgemeine Gerede, und[195] das Etwas in originali, auf dessen Rechnung eine grau gewordene Stelle gehörte, die Gott dem Urheber verzeihen sollte, waren Mine unbegreifliche Dinge, – allein die Hauptsache war desto begreiflicher. – Mine that ihren Mund nicht auf. – Zu meinem Vater sich zu wenden hatte sie kein Herz. – Es fiel ihr der Ueberfall im Wäldchen ein. – Dieser hatte bei Mine etwas zurückgelassen, was sie hielt. – Sie wollte schon, allein sie konnt' es nicht vollenden. O liebe, liebe Mine, warum nicht?

Als ich einem meiner Freunde aus freier Faust meinen Lebenslauf erzählte und an diese Stelle kam, bei der ich ihn fragte: Haben Sie das von meiner Mutter gedacht? antwortete er: Ja, Freund, denn sie konnte buchstabiren, sie setzte ihren Casum und war fromm.

Ob mein Freund recht gerichtet, mögen meine Leser nicht hier, sondern über ein Kleines beurtheilen.

Herr v. E. kam jeden Sonntag in unsere Kirche. Mine sah ihn nicht an; allein er sah sie, und wie er sah, das wissen wir schon. Er verlobte sich wirklich mit dem Testamentsfräulein; den Sonntag darauf war er in unserer Kirche mit ihr und trieb die Sache so weit mit Mine, daß alle das Kirchengestühl, wo Herr v. E. saß, und Mine in einer Reihe ansahen, so daß mein Vater selbst ein paarmal ein Wort zweimal sagen und ein anderes lang ziehen mußte, um sich auf das folgende zu besinnen, so sehr ward er gestört! Mine hörte, indem sie aus der Kirche ging: »Der Braut im Gestühl drückt er' die Hand und von Jungfer Minchen ließ er kein Auge. Was ist besser, Hand oder Auge?«

Hermann ward in dieser Verlobungszeit mit keiner Ladung beehrt, allein daß er mit dem Herrn v. E. in Verbindung war, ergab sich unter anderm daraus, weil sie häufig Briefe wechselten, weil Verschiedenes in die Küche kam, wovon aber Mine keinen Bissen aß, und weil Hermann so gefällig gegen Mine that, daß sie sich vollständig überzeugte: es ging etwas vor.[196]

Sie hatte schon oft an ihren Bruder in diesen Herzensnöthen geschrieben; jetzt schrieb sie dringender und Benjamin kam. Seine Ankunft konnte bei Hermann um so weniger Verdacht erwecken, da er selbst verlangt hatte, daß sein Sohn zur Schicht und Theilung kommen sollte. Es ist unaussprechlich, wie sich Mine freute, ihres Geliebten Bevollmächtigten, ihrer Liebe Zeugen, ihren Benjamin zu sehen. – Sie konnte sich nicht zurückhalten, diese Freude vor den Augen des Vates aufflammen zu lassen – schön, wie ein Opferfeuer!

Mine entdeckte ihrem Bruder mehr, als sie zu schreiben im Stande gewesen, und Benjamin kannte sie kaum wieder, so sehr hatte sie sich verändert. Arme, arme Mine! rief er und sah sich um, ob es auch Hermann gehört hätte. – Die ungewöhnlich starke Correspondenz ihres Vaters mit dem v. E. fiel beiden zu deutlich auf. Zwar gingen alle Briefe:

An die

Hochedelgeborne ehr- und tugendbelobte Jungfer

Magdalene –

dienstfreundlichst

in –


indessen schien sie nur überhaupt das Feigenblatt zu seyn. Bald, schreibt Mine, hatt' ich Hoffnung, es würd' ein End' gewinnen, daß ichs könnt' ertragen, bald verlor ich den letzten warmen Tropfen Muth – und ich zitterte über Leib und Leben. – So ging es auch dem Benjamin. – Ohne daß dieser seiner Schwester etwas davon sagte (wer weiß, ob sie's zugegeben hätte?), entschloß er sich, da Hermann einen guten Nachbar besuchte – (noch ward er nicht zum Herrn v. E. beschieden) – das Pult zu öffnen und eine Hand voll Briefe zu nehmen. Er rief seine Schwester, »Lies!« sagt' er. Sie konnte nicht weit kommen; es überfiel sie eine Ohnmacht nach wenigen Reihen. Meine Leser sollen einen Brief ganz lesen und eine Antwort ganz.


[197] Brief des v. E. an Hermann.


Herr, Sie sollen nicht Denen haben und wenn ich Denen selbst heirathen sollte! ich selbst! Hört der Herr? wenn ich sie selbst sollte! Ihr krummer Buckel und Ihr Händedruck macht es nicht. Für was ist das? Ich bin Sohn und will das väterliche Testament aufrecht erhalten. Das will ich! ich will das! Der Herr schreibt nicht hin, nicht her! nicht gehauen, nicht gestochen. Ich muß wissen, woran ich bin, denn ich liebe Ihre bildschöne Tochter zum Entsetzen. Unter uns gesagt, ich denk' auch nicht, daß Sie ihr Vater sind. Minchens Mutter wird sonder Zweifel so bildschön gewesen seyn, wie die Tochter noch ist, und dessen Gebeine mögen sanft ruhen, der den Weg mit der Mutter ging, den ich, wenn ich lebe und gesund bleibe, mit der Tochter gehen will. Das Mädchen hat Verstand wie ein Engel, oder besser wie ein Teufel. Gegen mich ist sie ein Teufel. Damit Sie, lieber Hermann, sich alles zurückerinnern, worauf es bei der Sache ankommt, so bitt' ich, ja nicht zu vergessen und zu versäumen, Minchen alle zwölf Stunden, und wenn es auch öfter wäre, zu sagen, daß ich heirathe, und zwar aus lichterloher Liebe. Sie wissen es anders, lieber Freund, allein Mine braucht es nicht anders zu wissen, wenn ich nicht müßte. – Es ist wenigstens ein zehnfaches Muß, das eilfte sag' ich keinem, als Ihnen, meinem vertrautesten Freunde! Ich habe Reiseschulden, und in kurzem werden ein halbes Dutzend a Datos eintreffen. Sehen Sie nur, lieber Hermann, um Sie recht von meiner ehrlichen und redlichen Absicht zu überzeugen, ich will das Testamentsfräulein und Minchen zu gleicher Zeit, mit einer Klatsche zwei Fliegen. – Sagen Sie selbst, wie mir bei der Trauung zu Muthe seyn müßte, wenn ich nicht auf den Trost Ihres Engels rechnen könnte. Ihr gutes Herz wird mich nicht verwahrlosen. Alle Welt hat Holz zu diesem Brande gelegt, und nun[198] verbrenn' ich in dieser Flamme. Ich weiß alle Fehler bei dieser Sache, denn sonst wäre Mine schon mein – ihrer stoischen Tugend ungeachtet, die eben so wenig wie heut zu Tage irgend eine Festung Stich hält. – Wir leben in überwindlichen Zeiten. – Ich knirsche mit den Zähnen vor Liebe und vor Wuth, daß ich so schlecht gespielt habe. Wenn meine Mutter Minen den Antrag gethan, hätt' ich gewonnen Spiel gehabt; allein alsdann könnten Sie, Freund, Ihre Kunst nicht zeigen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Kurz, Herr, so wahr ein Teufel in der Hölle und ich ein Cavalier in Curland bin, das ist viel gesagt, Dene ist nicht die Ihrige, wenn Minchen nicht die meinige ist! Eine Hand wäscht die andere. Wird aber Mine Dene – Sie verstehen doch deutsch? – so sollen Sie von meiner Mutter, nämlich von ihrem Wittwengehalt, von Testaments wegen, so lange Dene lebt, und wenn Dene eher als Sie stirbt, noch so lange Sie leben, achtzig Thaler Albertus haben. Gelt, das schmeckt? Außerdem geb' ich Ihnen ein- für allemal noch zweihundert Thaler Albertus, sobald Minchen sich zum Ziele legt. Die Kinder sollen als deutsche Leute erzogen werden, wie mein seliger Vater Denens Kinder erzogen hat. Um die Sache Ihnen ganz auf ein Haar deutlich zu machen: ich verlange Minen nur her, und Sie haben die Wette zum größten Theil gewonnen. Es müßte mit dem feuerspeienden Drachen zugehen, wenn ich nicht Minchen bewegen sollte. – Nur her, Herr Magister, und das übrige wird sich finden, wie eine auswendig gelernte Predigt. Wenn Minchen sich weigert, wie sich ein Ast weigert, wenn man Kirschen pflücken will: einhundert fünfzig Thaler Albertus; wenn sie nichts hören und wissen will und doch herkommt: hundert Thaler Albertus und bald vergessen. Muß man doch dem Herrn alles zu Häcksel schneiden! – – Die Kruste kann der Herr Bräutigam nicht vertragen, darum Krume, wo nicht gar Pappe. – Genug, wenn Sie sich alle Mühe, es versteht sich[199] alle erdenkliche, geben, Mine zu bequemen, und man dennoch Nein schreit und weint und klagt, ist noch ein Mittel. Ich denke doch, Sie wissen, was ein Cavalier in Curland vermag, und daß er, wie Könige, lange Hände hat? Drei verschwiegene Kerls zu Hand- und Spanndiensten sind auf einen Wink hier, und dort und da. – Das Beste wäre, Sie brächten Minchen her. – Schlagen Sie vor, was Sie für gut finden, sparen Sie keinen Fleiß. Auch auf den Fall der drei handfesten Kerls fünfzig Thaler Albertus, und in allen Fällen, wo nur Mine ist, auch Dene. Sonst aber, hol' mich der Teufel, nicht – ewig nicht! – Der Herr soll wieder seine Klippschule halten und seine Knackwurst essen und Kofent dazu trinken. So was von Minchen trifft man nicht so leicht. Ich bin nicht etwa in sie verliebt, ich bin in sie verrückt, und das kommt wohl zum größten Theil, weil ich eben Bräutigam bin und den Verliebten spielen soll (eine verdammte Rolle!) bei einer Braut, die mir so unerträglich ist, und die mir noch unerträglicher wäre, wenn ich nicht eine Mine hätte, bei der ich mich erholen könnte. Mine gehört alles, was ich der Testamentsbraut sage, und wahrlich, ich würd' ihr nichts sagen können, ich würde vergessen, was verliebt seyn und verliebt thun hieße, wenn ich Mine nicht zur Uebung hätte. Wer Minens Tugend? – Ist so etwas Tugend, so ist wenig auf der Welt – hol' mich der Teufel – wenig! – Ich schwöre nur für Eva, weil niemand als Adam da war. – In Paris und an andern Orten essen die Schäfchen aus der Hand. Nur ganz zuletzt in Königsberg hab' ich Ihnen ein Mädchen – Mündlich mehr! Einen so langen Brief hab' ich, seit dem ich schreiben kann, nicht geschrieben. Wäre Minchen nicht der Inhalt, so müßte mich der Teufel plagen, so viel zu schreiben. Das Testamentsfräulein soll, bei meiner Seele! keinen über sechs Reihen besitzen. Haben Sie nicht was Gutes von Liebesbriefsteller, damit ich daraus ein paar Briefe für die S. abschreiben kann? Ich hab'[200] aus vielen Gründen, und auch darum an sie geschrieben, weil ich dich kenne, du verzagter, argwöhnischer Hund! Nun hast du doch was Schriftliches in der Hand und kannst mich vor allen Gerichten knebeln. Neu ist's bei alledem, daß meine Testamentsbraut die Courtage für Minchen bezahlt. Glaubt mir, Hermann, ich mein' es ehrlich mit Mine. Man wird von Tag zu Tag älter und muß solid denken. – Wenn der Pastor uns, S. und mich, traut, laß Mine dabei stehen. Dem Testamentsfräulein geb' ich zwar die Hand, denn das bringt die Ceremonie so mit, aber Mine will ich ein ganzes Auge voll Ja's schenken, und hol' mich der Teufel, ich will sie selbst ansehen, wenn ich Ja zur S. sage, und dieß Ja soll so leise seyn, daß es der liebe Gott selbst kaum hören soll. Mehr, glaub' ich, kann Minchen nicht zur Gewissensberuhigung fordern, wenn sie Superintendentin wäre, und mehr kann sie nicht fordern, wenn sie zehn Jahre Jura studirt hätte. – Dieser Brief muß zerrissen werden, sobald er gelesen ist, oder ich stecke dem Herrn Hermann das Haus an. Hat Magdalene nicht öfter Wochen gehalten als meine Mutter? Und einen Mund voll Zähne abgerechnet, was fehlt ihr zur Ehre, die Frau eines Literatus zu werden? Reinen Wein, ober ich heiße nicht

– – v. E.


Wenn meine Leser die saubere Antwort auf diesen curisch-französischen Brief lesen wollen, hier ist sie:


Hochwohlgeborner Herr und Gönner!

Gnädiger Herr Baron und Gönner!


Ew. Hochwohlgeboren werden gnädigst zu verzeihen geruhen, daß ich gleich anfänglich in aller Ehrfurcht bemerke, wie ich mich wohl zu bescheiden weiß, an Briefe von gnädigen Händen nicht gewaltthätige Hand zu legen; indessen ist dieser hohe Brief für Minen wie verbrannt, und noch ärger wie verbrannt, da sie nicht einmal die übrig gebliebene Asche sehen soll. Es wird Ew. Hochwohlgeboren [201] par renommée bekannt seyn, daß es mir nicht an Witz und Fähigkeit gebricht; indessen steht mir jetzo alles still, und ich muß aufrichtigst bekennen, daß ich bei dieser Sache keinen Einfall anzubeißen weiß, wenn's mir das Leben kosten sollte. Die Ochsen stehen, mit Ew. Hochwohlgeboren Erlaubniß, am Berge. – Der Auftrag, womit Ew. Hochwohlgeboren mich zu beehren geruht, zeugt von so vielem gnädigem Zutrauen, daß ich beschämt bekennen muß, nie auf so viel Gnade gerechnet zu haben. Minen (verzeihen Ew. Hochwohlgeboren, daß ich mit dem Namen meiner Tochter den Punkt anhebe; es geschieht bloß in Aussicht der Ehre, die ihr vorsteht) hab' ich alles gesagt, was ein redlich gesinnter Vater seiner ins Verderben laufenden Tochter nur bei dieser Gelegenheit sagen kann. Sie bleibt indessen bei dem, was Ew. Hochwohlgeboren schon wissen. Ich habe leise und laut geredet, sauer und süß, Böses und Gutes gezeigt, Finsterniß und Licht; was hat's geholfen? Was die Tugend ohne Brod ist, weiß ich leider aus eigner Erfahrung, und da Ew. Hochwohlgeboren entschlossen sind sich zu verheirathen, so fällt ja alle Gelegenheit zum Verdacht weg, welches in Absicht eines Mädchens, nach meiner wiewohl unmaßgeblichen Meinung, die ganze Mädchentugend ist. Meidet den Schein, kommt mir als die ganze Mädchenordnung des Heils vor. Es ist nichts versäumt, sie ist gebeten, sie ist bedroht, sie ist gesegnet, ihr ist geflucht; allein sie bleibt bei ihrem Eigensinn. Ich sag' es ohne Ende und Ziel: Herr v. E. sind Bräutigam, und da ich es ihr schon so oft gesagt habe, thu' ich, als sagte ich's zu mir selbst: »Der Herr von E. Bräutigam! wie's ihm doch lassen wird?« u.s.w. Es wär' als mein Rath, über drei Wochen, so lange geruhen Ew. Hochwohlgeboren sich gnädigst zu behelfen, zu uns zu kommen und noch Hochselbst einen Besuch zu künsteln. Wie würd' ich mich freuen, wenn er einschlüge! Sollt' auch dieser Vorschlag vergebens seyn, so muß ich schon auf die drei verschwiegenen[202] Kerls votiren, und werd' ich alsdann mündlich Zeit und Ort zu bestimmen die Gnade haben; indessen bitt' ich, ihr diese Widerspenstigkeit nicht nachzutragen, sondern ihr sogleich zur bewußten Brodstelle zu verhelfen, und mit der Zeit sie ihrem Seelenhirten als Pastorin zu überliefern. Ew. Hochwohlgeboren können sich ganz sicher darauf verlassen, daß ich nicht zum erstenmal bei einer solchen Gelegenheit, wo drei verschwiegene Kerls dabei sind, in Dienst gewesen; nur bei einer Tochter, ich muß es zu meiner Schande bekennen, dürft' es mir schwer werden, falsch zu weinen und die Hände zu reiben. Vielleicht kann ich indessen so glücklich seyn und mir die einhundert fünfzig Thaler Albertus verdienen, daher wiederhol' ich ganz unterthänigst meine Bitte, mir und ihr annoch drei Wochen huldreichst nachzusehen. Für die Nachricht von Magdalenens glücklichen Niederkünften bin Ew. Hochwohlgeboren ich ganz dienstlich verbunden; indessen wünscht' ich doch ungefähr zu wissen, wie oft sie Dero seliger Herr Vater begnadigt, um sie desto höher schätzen zu können. Wiewohl ich ohne Stolz glaube, daß es ihr nicht gleichgültig seyn könne, daß sie einem Literatus zu Theil werde. Ew. Hochwohlgeboren Bedienter hat sich sehr schön bei diesem Briefe benommen. Er verdient das Geschenk, wozu Ew. Hochwohlgeboren ihm bedingliche Hoffnung gegeben. – Meine Tochter ist auf keinen Schatten von Verdacht gefallen, und da ich, wie ihr bekannt ist, mit der Jungfer Dene in einem Liebesverständniß stehe, so kann es sie nicht befremden, daß ich in dieser kritischen Zeit mehr schreibe, als ich sonst zu schreiben gewohnt gewesen. Wenn Mine an Ort und Stelle und (was ich unter Ort und Stelle einbegreife) zu sich selbst zurückgekommen seyn wird, so wird sie's einsehen, wie redlich gut es Ew. Hochwohlgeboren mit ihr gemeint. Ich weiß nicht, was sie bei der heftigsten Gewissenskolik (anders kann ich die Stiche nicht nennen, welche die Mädchen über dergleichen Dinge zuweilen, wenn ein Ungewitter aufsteigt, befallen)[203] mehr beruhigen könnte, als wenn sie erwägt, daß sie die Ehre gehabt, in gewisser Art selbst mit Ew. Hochwohlgeboren getraut zu werden. Das Auge ist doch wohl mehr an Menschen, als die Hand? obgleich mir noch wohl bekannt ist, daß. Ew. Hochwohlgeboren eine weiße Hand nicht verachten, wie es denn auch wohl zu seiner Zeit ein Leckerbissen seyn kann. Uebrigens rechnet Ew. Hochwohlgeboren ganz unterthäniger Diener es sich zur vorzüglichsten Ehre, daß Ew. Hochwohlgeboren ihn mit einem so langen Briefe zu beehren geruht. Von Liebesbriefen im neuen Geschmack ist mir wohl außer dem bewährten Talander nichts bekannt; indessen wenn es Ew. Hochwohlgeboren gar zu viel Mühe machen sollte, so steh' ich sehr zu Befehl, und leg' auch zu diesem Ende ein Pröbchen nach eigener Weise bei. Wenn Ew. Hochwohlgeboren so viel Zutrauen zu mir hätten, die Uebergabe der Jungfer Dene an mich gnädigst zu bewilligen, ehe Minchen übergeben wird, und ohne daß es eben Zug um Zug ginge, so könnten Sie ja Denen noch obenein den Eid abnehmen, daß Mine Ihnen allenfalls gegen einen Solawechsel, Contrakt, Revers, oder wie es in den Rechten am besten und schnellsten gilt, abgeliefert werde. Dene würde hiebei mehr als vier Kerls verschlagen; indessen ist dieses nur ein unvorgreiflicher Vorschlag, über den ich nicht entrüstet zu werden ganz unterthänigst bitte.

Ich ersterbe, nachdem ich die Hand des Gebers mit den aufrichtigsten Wünschen, daß es ihm reichlich wiedervergolten werde, geküßt, mit der tiefsten Ehrfurcht


Ew. Hochwohlgeboren,

meines gnädigen Herrn Barons und hohen Gönners,

ganz unterthänigster Knecht und Diener


Wörtlich abgeschrieben von –

abgeschickt den –
[204]

Es fanden sich auch ein paar kurze Briefe, worin Montags der Termin zur Sühne angesetzt war. Hermann wollt' alsdann mitfahren und wiederkommen, und dann sollte der Ueberfall verabredet und Mine mit Gewalt fortgeschleppt werden. Der alte Herr wünschte nichts sehnlicher, als daß er die hundert fünfzig Thaler Albertus verdienen möchte. Bei diesen väterlichen Wünschen blieb es, bis auf den letzten Brief. Hier schreibt er: Ich thue jetzt auf alles Geld Verzicht, wenn Ew. Hochwohlgeboren Minen gutwillig bereden können. Ich habe sie ehegestern durchs Schlüsselloch beten gesehen und gehört. O! gnädiger Herr, ich würd' ein unglücklicher Mensch zeitlebens seyn, wenn diese Entführung übel für Minen ablaufen sollte. Um alles wünscht' ich, daß Mine nicht so kräftig, so mächtig, als ich sie durchs Schlüsselloch sah und hörte, wider mich beten möchte. Da muß Donner und Blitz wüthen, wowider sie betet. – O, gnädigster Herr, Sie werden sie wohl gutwillig an Ort und Stelle bringen!

Daß der Herr v. E. des Hermanns Vorschlag verworfen, ihm Denen zuvor zu geben, und sie auf die Entehrung Minchens in Eidespflicht zu nehmen, darf ich kaum bemerken. Herr v. E. müßte nicht in – – in – – und – – gewesen seyn, wenn er einem Eide hätte trauen sollen – und du, Bösewicht, kannst du so was auf einen Eid aussetzen? – Kannst du deine Tochter durchs Schlüsselloch behorchen, wenn sie mit Gott allein ist, wenn sie betet? – – Gerechter Gott!

Nach diesem allen, was konnte für ein anderer Entschluß gefaßt werden, als – zu fliehen? – Ohne Geld, ohne Beistand? Schrecklich! Was hilft's aber dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nehme Schaden an seiner Seele, oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse? – Mine war entschlossen und Benjamin war Alexander. – Mine, dieß war das Resultat, sollte zu Fuß nach – gehen. Da würde Benjamin[205] Wagen und Pferde besorgen, und sie käm' alsdann zu ihm, nicht zu seinem Meister, sondern – – und von da nach Mitau, zu einem Anverwandten ihrer seligen, seligen Mutter. Um alles desto geheimer zu machen, sollte Mine allein bis –. Bon – wollte Benjamin sie bis Mitau begleiten – von Mitau Mine wieder allein mit einem Fuhrmann nach Königsberg, nicht zu mir – – Ach, Mine! Mine! warum nicht zu mir? sondern nach L. – wieder zu einem Verwandten ihrer seligen Mutter. Von da aus einen Brief zu seiner Zeit an mich, daß ich käme und sie im Schooß ihrer Freunde spräche. – Dieser Plan ward bebetet und besungen. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke. Arme Mine! ich hätte wissen sollen! Arme –

Und wann? fragte Mine. – Dienstags, Schwester; Sonntags kannst du noch Gott in seinem Hause anflehen, daß er mit uns sey, und vor uns her eine Wolken-und Feuersäule ziehen lasse. – Gott! sagte Mine und rang ihre Hände, aus denen ein kalter Angstschweiß drang – Gott, du weißt! – Leite mich! führe mich! verlaß mich nicht! – Ich gehe deinen Weg, den Weg der Tugend! ich hoff' auf dich! – Vater und Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich an. Hier bin ich, mach' es mit mir, wie's dir wohl gefällt. Laß meine Seele, wenn sie schwach wird, empfinden, was geschrieben steht: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott, ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit! Amen.

Hermann war in Gedanken weggegangen und kam in Gedanken zurück. In Wahrheit, er hatte Ursache zu denken!

Mine war nachgebend gegen ihren Vater, ohne eine Lüge, auch nur mit dem Auge, zu begehen; dieß brachte ihn zu Ruhepunkten – zu Hoffnungen, hundert und fünfzig Thaler Albertus in der Lotterie zu gewinnen.[206]

Benjamin drang auf die Berechnung, weil er nicht Zeit hätte, sich länger aufzuhalten. Es war dieß Donnerstags Abends. – Morgen, sagte Hermann. – Sie berechneten sich Freitags, und diese Berechnung währte keine Stunde. Sein Erbtheil war auf den Fingern abzuzählen: es war nicht viel. Da Benjamin sehr bat, weil er der Gewerkslade Geld zu zahlen hätte, ihm den wenigen Muttertheil baar auszuzahlen, so zeigt' ihm Hermann die Unmöglichkeit. – Ich will, wenn du es durchaus und durchall nöthig hast, an den Herrn v. E. schreiben, mir dieses Anlehen auf Abschlag Denens zu geben. – Mine stieß ihren Bruder an, der es sogleich ausschlug. Mit solchem Gelde, sagten sie, da sie wieder allein waren, würden wir nicht weit kommen. – Benjamin hatte vor, dieses Geld seiner Schwester mitzugeben. Jetzt mußte der letzte Weg eingeschlagen und Minens Kleider und viel von ihren Sachen, welche ohne Aufsehen weggenommen werden konnten, verkauft werden. Benjamin besorgte dieß mit einer unbeschreiblichen Behutsamkeit. Er brachte zehn Thaler Albertus zusammen. Mine bat ihren Bruder herzlich zu bleiben und ihr noch Montags beim Termin zur Sühne beizustehen; allein er konnte nicht – sondern befahl sie dem Schutze Gottes – Dein Mann, sagte er, ist Gottes Liebling, und du bist es auch; ihr seyd beide fromm! Wie kann euch Gott verlassen? Euch, seine Kinder! – Sie weinten, da sie schieden. Zum letztenmal im väterlichen Hause, lieber Benjamin – wo ich die erste Thräne weinte, wo – sie konnte vor Thränen nicht mehr. – Auch Benjamin weinte. – – O Schwester, fing er an, du warst von jeher weit – weit besser als ich! Alexander und du haben mich zum Menschen gemacht. – Du warst nie böse, Benjamin, sagte Mine, jetzt bist du gut! gut! – Und dann wieder: Du warst nie böse! – O Gott! fing Benjamin an, wenn ich denke, wie du dich nicht bloß des Viehes, sondern der Pflanze, der Blumen auf dem Felde erbarmtest; wenn ich denke, wie du dich[207] nicht satt sehen konntest an dem grünen Grase und an den gelben Blümchen; wenn ich denke, wie du mich batest, die Rinnen zu öffnen, wenn sie verstopft waren, damit das arme Wasser, wie du sagtest, nicht aufgehalten würde; wenn ich bedenke, daß ich dir oft dergleichen Bitten abschlug und dir den Rücken kehrte, wenn du mir so was Uebermenschliches, so was Himmlischgütiges batest; wenn ich denke – Laß dieß, fiel ihm Mine ein; du warst nie böse, denke vielmehr, wo wir oft unschuldig saßen und Salat für unsere fromme selige Mutter lasen, und wo wir mit Alexandern herzlich froh waren, mit Alexandern! Denk, wo wir rothe und weiße Johannisbeeren pflückten, und ich euch den Saft mit Zucker zubereitete und wir uns einander sagten, wenn es uns herzlich schmeckte: zweierlei Wein, rother und weißer! Denk an meine Liebe zu Alexandern, und an seine zu mir! Du bleibst hier, Bruder. Laß mich jetzt Uebergabe halten, ich will alles in deine Hände geben.

Komm, da liegt unsere Mutter begraben! Ost habe ich hier gebetet, oft Gott gedankt; denn hier hat er mich manche seelenfrohe Stunde leben lassen! Sie knieten beide aufs Grab und weinten bitterlich.

Ich nehme Abschied von dir, o du mir liebes Grab! – Sie bog ihr Haupt auf selbiges, als ob sie's küßte. O möchte ich wie die Selige ruhen, die du bedeckest, liebe sanfte Erde! O möchte ich – sie konnten beide nicht mehr.

Bruder, ich beschwöre dich bei der heiligen Asche unserer Mutter, die auferstehen wird am jüngsten Tage, daß du dieß Grab ehrest. Pflege es, warte sein. – Gott erhöre dich, wenn du hier betest. – Gehe oft hin, und wenn der Vater Hochzeit hält, vergiß nicht, auf diesem Grabe zu weinen. – Wenn dich Gott aus Curland ruft, es ist möglich – gib dieß Grab in die Hände deines Vertrautesten, beschwöre ihn, wie ich dich beschworen habe, daß er[208] sein pflege und warte. O liebe, liebe Mutter! bald, bald werde ich dich wiedersehen! Ja, Benjamin, bald werde ich sie sehen und sie von dir herzlich grüßen. Du bist ihr gut, unserer Mutter. – Hier wieder eine Thränenscene.

Lebe wohl, liebes Grab, lebe wohl bis an den lieben jüngsten Tag!

Ich übergebe dir diesen heiligen Ort, wo ich mit Alexandern getraut bin, mit deinem Freunde! Gott gab uns zusammen, Menschen wollen uns scheiden; – allein sie sollen es nicht! – sie sollen es nicht! – Was meinst du, Benjamin? Benjamin schluchzte: »Sie sollen nicht!«

Hier ist der Ort, wo er mich zum erstenmal küßte! Sieh, wie die Natur ihn geschmückt hat. – Es sind mir heilige Oerter gewesen. Du weißt, wie mich Alexander liebte. – Ich weiß, sagte Benjamin. – So, so lag ich in seinem Arm, wenn er mich küßte. O seine Küsse! Wahrheit und Leben waren in ihnen! Ich sein, er mein! Wenn ich was Liebliches gegessen oder getrunken hatte, wovon der Nachgeschmack noch auf meinen Lippen war, fand er meinen Kuß nicht halb so. O der liebe, lieb Junge! Ich will dich, so natürlich, wie du bist, sagte er, und ich wollte ihn auch so natürlich, wie er war. Wir liebten beide die Natur, und wahrlich, die Natur liebte uns wieder. Sie hat viel an uns gethan! Der Bach spricht nicht, Benjamin, allein wenn wir zusammen gingen, hörten und verstanden wir ihn aufs genaueste. Die ganze liebe, gütige Natur sprach mit uns, und alles so zuthätig, so freundlich – O Benjamin, alle diese heiligen Orte befehle ich dir!

Hier, Benjamin, falte deine Hände, denn die Stätte ist heilig! Hier sah Alexander mein Gesicht, er sah mich im Mondenglanz, wie er mich nach der Auferstehung sehen wird in alle Ewigkeit. – Dort sah ich ein Gesicht, ich sah Alexandern im Sonnenglanz – ich sah uns beide im Himmel, ihn in Sonne, mich in Mond gekleidet[209] – und meine Mutter zog mir das Sterbehemde ab und kleidete mich ein zur ewigen Seligkeit. – Diese Stätte, Bruder, ist heilig und jene Stätte ist heilig! – Amen. Sie ist heilig, sie ist Gottes Haus, die Pforte des Himmels! Amen.

Die Orte, wo wir in unserer Jugend froh waren, da wir noch keinen v. E. und keine Dene kannten, laß sie dir empfohlen seyn, vergiß sie nicht! Wir haben hier den besten Theil gelebt, glaube mir, den besten Theil! – Komm! – Paulus war der jüngste unter den Aposteln, und doch ein auserwähltes Rüstzeug. – Sieh hier meinen Paulus! dieß ist der letzte Ort, den ich in deine Hände befehle, ich bin zuletzt mit ihm vertraut worden, der – (unser Bekannter) pflanzte diese Laube, seine Charlotte begoß sie. – Hier bejammerte er sie, da ihm seine Augen aufgingen, hieher wallfahrtete er täglich; du weißt seinen Lebenslauf – seinen stummen, seinen bohrenden Gram. – Gott hat seines Leidens ein Ende gemacht. – Diese Laube, Bruder, sey der Ort, wo du deine Schwester beweinen kannst. – O, hier sind schon viele, viele Thränen vergossen worden! – Gott laß es dir wohlgehen, lieber Benjamin, wenn du heirathest. Lehre hier in dieser Laube deinem Weib ihre Schwester kennen und sage ihr, daß sie unglücklich war. Lehre deine Kinder hier weinen. Es ist eine schwere Sache, Gott gefällig zu weinen. – Schreibe dir, Benjamin, alle diese Orte tief ins Herz, und Gott setz mit dir – mit meinem Alexander und mir!

So schieden Benjamin und Mine aus dem väterlichen Hause. – Er reiste Freitags gegen die Nacht.

Wörtlich von Minen:

»Sonnabends – den – –«

»Wie gerührt, lieber Mann meiner Seele, wie gerührt ich gestern war, weißt du besser, als ich es dir heute sagen könnte. O Gott, wie sehr anders bin ich heute! Felsenhart ist mein Herz,[210] gallenbitter meine Zunge! Weißt du, von wann an? Vom Abschied an, den mein Vater von Benjamin nahm. Nach einer so warm empfundenen Sonne, ein kaltes: Glückliche Reise! an Benjamin, und dann hinterher: Wenn du den Augenblick Geld zur Gewerkslade nöthig hast, will ich dem Herrn v. E. drüber schreiben. – Da fuhr all das unausstehliche Wesen, das Unwesen, was ich noch diesen Augenblick an mir habe, fuhr in mich.«

Liebe Mine, kalt und warm bekommt dem Herzen so wenig, als dem Magen. In den Worten: Glückliche Reise! sahst du deinen Vater ganz. Alle Briefe des v. E., alle Briefe deines Vaters – und nicht bloß die ersten wenigen Reihen, die du gelesen hast – bis auf die letzten, letzten Hefen, dachtest du diese Briefe, alle Briefe, den ganzen höllischen Plan, alles, alles dachtest du dir, und dir ekelte vor dieser losen Speise.

Mine befand sich den ganzen Sonnabend in einer schrecklichen Lage. Ihr Vater hätte ihr das sturmlaufende Herz ansehen müssen, wenn er ein Auge für seine Tochter gehabt hätte. Sie war mehr als unruhig; ein Aufruhr in jeder Aber, das Blut schien alle Aderdämme brechen zu wollen. Doch sie selbst:

»Gott sey gelobt und gebenedeit! ich habe überwunden! ich bin wieder ruhig und wieder gut! – O lieber Mann, man hat mir erzählt, daß, ehe die letzte Todesangst eintritt, jeder Sterbende entsetzlich unruhig sey; da er nichts weiter kann, soll er das Deckbett reißen – unsere Mutter riß es nicht. – So, lieber Mann, war ich gestern; ich riß das Deckbett und warf mich gräßlich, bald zur Rechten, bald zur Linken. – Allein nach dieser Unruhe folgt bei Sterbenden was – der Name des Herrn sey gelobt! Bei mir folgte – sanfte, sanfte Ergebung. – Ich ging noch mit einem aufgewiegelten Herzen, mit siedendem Blut. – Alle Adern schienen mir den Dienst aufzusagen und wollten springen – so ging ich in die Kirche – zum letztenmal, dachte ich! Gewiß ein rührender[211] Gedanke; mir war er's nicht. – Ich fing an zu beten, ich drückte die Augen dicht zum Gebet zu; allein konnte ich? – Die Augen rissen sich los; sie hielten nicht zusammen, und ich mußte das Kirchengestühl ansehen, wo der Verführer mich zur allgemeinen Störung buhlerisch angesehen! – Ich mußte, ich mochte wollen oder nicht, ich sah diesen Ort, und wenn Teufel drin gewesen wären, er hätte mir nicht fürchterlicher seyn können! Ich denke. Mein Liebster, ein Unschuldiger, den falsche Zeugen vom Leben zum Tode gebracht, sieht so den Richtplatz, wie ich diesen Ort – ich sah deiner Mutter Stuhl. Verzeihe, lieber Mann, zwar sah ich keinen Teufel drin; allein ich dachte doch Arges in meinem Herzen. Das eine fromme Frau! das eine heilige Sängerin! dachte ich – da kam deine Mutter. – Sie grüßte mich, allein so verstohlen, als ob sie diesen Gruß vor der Gemeinde bergen und ja nicht merken lassen wollte. Das konnte wohl freilich meine Hitze nicht niederschlagen! Gottlob, der Bösewicht blieb diesen Sonntag aus. Es verzeih mir der allbarmherzigste Gott mein steinernes Herz, das ich in sein Haus mitnahm, das sich noch mehr versteinerte, verfelsete!«

Schon beim Liede vor der Predigt:


Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt etc.


fing dieß Herz an fleischern zu werden; und die Predigt! o Gott, welch eine Arznei für mein Herz! Es war recht, als ob dein Vater von meinem Entschluß wußte, als wenn er mich, mich predigte. – Bis dahin war jede Nerve gespannt; kein Schlaf hatte die letzten zwei Nächte mein Auge gebrochen, kein Gebet brach es – es war starr. – Mein Blut schlug Wellen. O lieber Junge, diese Predigt bedrohte den Wind und das Meer, und es ward ganz stille – ich sah dich, da ich deinen Vater, den Boten Gottes, sah. Er kam herein, der Gesegnete des Herrn, er stand nicht draußen; der Name des Herrn sey gelobt! O Mein Einziger! ich wünschte[212] nicht, noch solch einen Abend, solch eine Nacht, solch einen Tag und solch eine Nacht, und noch solch einen Morgen zu leben, als vom Freitag Abend bis zur Predigt. – Eine Hitze, und keinen Tropfen Wasser in dieser Hitze, wo mir die Zunge an dem Gaumen klebte. Warum bat ich nicht Gott in dieser Dürre um Thau und Erquickung? Warum suchte ich nicht durch seine heilige Religion mich abzukühlen und in die selige Fassung zu setzen, in der ich jetzt bin, wo es, wie im Frühling, weder zu kalt noch zu warm ist? Gott ist nahe allen, die ihn anrufen, warum nannte ich ihn nicht, im Geist und in der Wahrheit. Vater, da der leibliche es ganz und gar aufgehört hatte zu seyn? Warum betete ich nicht um Thränen? Warum sang ich nicht mit Inbrunst:


Gott, gib einen milden Regen;

Denn mein Herz ist dürr, wie Sand!

Vater, gib vom Himmel Segen.

Tränke du dein durstig Land!


Warum? Ei, können! Ich mache mir jetzt Vorwürfe; allein es ist, als hörte ich eine Stimme zu meiner Lossprechung. Das Gebet ist auch eine Gabe Gottes, und Thränen sind ein unaussprechliches Geschenk! Habe denn Dank, Allgütiger, daß ich jetzt beten, daß ich jetzt weinen kann! Habe Dank für diese Gabe, für dieß Geschenk! Es ist das Schrecklichste, mein Lieber, das habe ich erfahren, wenn ein Vater zum Sohn: glückliche Reise! sagt, und wenn er seine Tochter verhandelt! Habe Mitleiden mit deiner Mine, wenn du dieß liesest, und Gott wird es mit dir haben, und dich nie solch eine Herzensdürre erleben lassen!

Gleich die erste Strophe:


Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt!

Er mach's mit mir, wie's ihm gefällt!


wie empfing sie mein Herz! Sie zogen sich ein, diese Trostworte, wie Thau auf einer welken Pflanze.[213]

Bei der dritten Strophe regnete es schon:


Es ist allhier ein Jammerthal,

Angst, Noth und Trübsal überall;

Des Bleibens ist eine kleine Zeit,

Voll Mühseligkeit!


Was ist der Mensch! Ein Erdenkloß,

Vom Mutterleibe nackt und bloß;

Bringt nichts mit sich auf diese Welt,

Kein Gut noch Geld,

Nimmt nichts mit sich, wenn er hinfällt.


Ich hab' hier wenig guter Tag',

Mein täglich Brod ist Müh' und Klag';

Wenn mein Gott will, so will ich mit

Hinfahren in Fried'!


O lieber Junge singe, wenn du dieses liesest! – Gott weiß, wenn du es lesen wirst – singe dieses schöne Regenlied!

Deines Vaters Predigt war Vollendung für mich, wie auf mich gemacht, Wort für Wort auf mich. O lieber Junge, wie glücklich ist man, wenn man todt ist – wie namenlos glücklich!

Er kam ohne Gebet mit den Worten auf die Kanzel:

»Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft, und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.«

Ich zeichnete mir diese Stelle, sie steht im ersten Buch Mosis, im zwölften Kapitel, im ersten Vers; ich zeichnete sie aber heimlich. Ein öffentliches Zeichen, dachte ich, würde mich verrathen – ich konnte in einigen Minuten nicht aufblicken. – Wahrlich, Gott redete mit mir durch deinen Vater! Wie er die Worte anfing: Gehe aus deinem Vaterlande, von deiner Freundschaft [214] und aus deines Vaters Hause, war's mir, als ob es die ganze Gemeinde nun wüßte, daß ich weggehen würde. Der erste Aufblick, den ich wagte, war nach dem Stuhle meines Vaters. Er war leer; kurz vor dem Geläute war ihm was vorgefallen. – Dieß stärkte mich; ich sah mich rund um. – O lieber Junge, laß mich noch mehr von der Predigt deines Vaters predigen, die mich so erquickt hat. Gott lindere dafür seine Todesangst, und so wie er mich gestärkt und getröstet hat, so stärke und tröste ihn der Herr, wenn er heimfährt aus diesem Elend; und so wie er die Bande lösete, die mein Herz und meine Augen hielten, so löse auch der Herr seine Bande und mache ihm alles leicht, wenn seine Stunde kommt! Die Glimme Gottes an Abraham war mir ein sicheres Geleit, ein Paß auf meiner Reise, ich war gefaßt, getrost – und so heiter, als wäre ich schon angelangt, und wo? Ich ging in meinen Gedanken nirgend anders, als in die selige Ewigkeit, aus meines Vaters Hause – aus meinem Vaterland und aus meiner Freundschaft! – Gern hätte ich communicirt, wenn es so angegangen wäre – ich war recht dazu vorbereitet, recht –

Der Text zur Predigt war Ebräer im dreizehnten Kapitel der vierzehnte Vers: Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir!

Alles auf mich! – Du kannst dir deinen Vater vorstellen, der auch nicht in Curland zu Hause ist. Er redete mitten durch's Herz. So hat er noch nie gepredigt. Es war Seelenspeise auf den Weg. – Er predigte, als wenn er auch schon den Abend von hinnen ziehen sollte.

Dein Vater führte in seiner Predigt die Geschichte vom Sohne der Wittwe zu Nain an, er erhob seine Stimme, und diese nahm sich so heraus, daß jedes aufmerkte. Als er aber nah' an das Stadtthor kam, siehe, da trug man einen [215] Todten heraus, der ein einziger Sohn war seiner Mutter. – Lukas im siebenten Kapitel, im eilften Vers.

So wenig diese Worte eine Deutung auf mich zu haben schienen, so fielen doch auch diese Worte schwer auf mich, und es war mir als sagte jemand: »Das bist du – du bist die Person des Todes!«

Wie kommt das, mein Lieber, wenn es einem so ist, als hörte man eine Stimme: Das bist du!

Nach der Predigt ward gesungen aus: Befiehl du deine Wege, die letzten Verse.

Der Anfang war:


Auf, auf, gib deinen Schmerzen

Und Sorgen gute Nacht!

Laß fahren, was im Herzen

Dir bangen Kummer macht!


Der letzte Vers ist schon längst mein Liebling gewesen, und nach dieser Leichenpredigt auf mich war er's noch weit mehr.


Mach' End', o Herr, mach' Ende

Mit aller meiner Noth –

Stärk' meine Füß' und Hände,

Und laß, bis in den Tod,

Mich allzeit deiner Pflege

Und Treu' befohlen seyn;

So gehen meine Wege

Gewiß zum Himmel ein!


O Lieber, das Amen, welches dein Vater sagte, war ein Amen für alle, allein für mich besonders – für mich! Es war ein Wink für mich, in diesem Gotteshause Abschied zu nehmen, wo wir unser Glaubensbekenntniß vor dem Altar ablegten, und[216] auch oft zu Gott in der Höhe schwuren: Wir werden uns lieben, bis vor deinen Thron! – O Gott, dieser Abschied war mir rührend, und wie rührend aus Nro. 5 zu gehen, wo ich so oft gesessen, wo ich so oft einen überzeugten Mann Gottes Wort reden gehört, wo ich so oft inbrünstig gesungen und gebetet und erhöret worden, wo ich dich predigen gehört, mein Lieber! – Gott sey für alles gelobet und gebenedeiet, Halleluia! er sey mit seinem Hause! Amen. Ich betete für dich und für mich – und riß mich endlich von Nro. 5 los. Sanft faßte ich diese Bank noch an, recht, als wenn ich ihr die Hand drückte, und nun raffte ich mich auf, um nach Hause zu gehen, da mir deine Mutter in's Auge kam. Was weiß ich, ob sie's mir ansehen können, daß ich geweint hatte, oder ob etwas anderes die Ursache war: sie grüßte mich liebreich. Zum letztenmal, dachte ich, und eine Thräne stürzte aus meinen Augen! – Deines Vaters Hand, oder die deinige, war auch das Letzte, was ich ansah, und hiermit fielen mir die Worte ein: Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!

Da ich zu Hause war und die Predigt deines Vaters, und den liebreichen letzten Gruß deiner Mutter mir wiederholte, überfiel mich der Gedanke, deinen Eltern lieber alles zu entdecken. Wer steht dir, dachte ich, für den Erfolg? Für deinen Vater war mir zwar seine Predigt Bürge geworden, seine Hand war mir Bürge, du warst mir Bürge; indessen schlug der Eifer deiner Mutter für den Stamm Levi diesen Gedanken nieder. Die feste Verabredung mit Benjamin, die Gewalt, die sich ein curischer Cavalier beilegt – und endlich das Wäldchen, waren Beiträge zur Entkräftung meines Muthes. – »Ich kämpfte lange, endlich siegte der Zweifel.« – –

Mine packte noch das Uebrige zusammen, berichtigte jeden Dreier, wo sie etwa für Milch oder für Früchte etwas schuldig[217] war, schenkte ihren Pathen im Dorfe viele Sächelchen, die ihr auf der Reise nichts helfen konnten.

Nichts, schreibt sie, Montags frühe, nichts ist, mein Einziger, von den gesegneten Sachen zurückgeblieben! Alles, alles, was ich von dir habe, alles, was dein Mund, deine Hand eingeweiht hat, geht mit mir Regine bat mich, da sie sah, daß ich im Austheilen begriffen war, um das Band, das dir so sehr gefallen hatte; du hattest es oft in deiner Hand. – Nein, Regine, das nicht. – Ich gab ihr ein anderes Band, und da ich kein schlechtes hatte, eins, das zehnmal höher im Weltwerth war.

Du packst ja, Mine, sagte Hermann, indem er sich Sonntags an den Tisch, der mit Schöpfenfleisch und weißem Kohl besetzt war, hinsetzte. – Mine muß es sehr merklich gemacht haben.

Ich räume auf, antwortete sie.

Schön, mein Kind; es ahnt dir vielleicht ein Besuch.

Ein Besuch?

Es könnte sich zutragen, daß Herr v. E. käme. Wenn es sich zutrüge, liebe Mine, wenn – Folge deinem Vater und sey gefällig.

Sie hatte kein Wort im Vermögen; allein sie war so ruhig, daß Hermann diese Ruhe fühlte und sie zu seinem Vortheil entgegennahm. Er klopfte ihr auf die Wange und sagte: Du bist doch ein hübsches, gutes Mädchen, und wirst eine Pastorin werden zum Küssen. Auch darüber entrüstete sich Mine nicht. – Sie blieb ruhig. Hermann zählte schon die hundert fünfzig Judasthaler in Gedanken.

Montag Nachmittag kam Herr v. E., alles, wie es geschrieben stand. Die Sühne ward eröffnet. Hermann entfernte sich, nachdem er, wie er glaubte, die Sache in Gang gebracht. Sobald die Hauptparteien allein waren, fing Herr v. E. ohne Glas[218] seine Rebe mit vielem Bitten um Verzeihung an, und machte sich als Bräutigam mit Fräulein S. bekannt. Mine gab darauf nichts als das Alltägliche. Es hatte wieder das Ansehen, daß Herr v. E. ein Geschenk in der Nähe hätte. Er wollte wagen es zum Vorschein zu bringen; allein es schien, als dürfte er's nicht. Nun nahm er einen andern Weg und bemerkte, daß er mich kenne. Zwar hätte er nur einen Abend in meiner Gesellschaft zugebracht; indessen wäre ein Abend hinreichend, wenn man Leute, wie mich, träfe. – Mine hatte sich so sehr in ihrer Gewalt, daß sie Fragen nach mir that, die Herr v. E. zu meinem Vortheil beantwortete. Mine ward dadurch aufgeräumt, und Herr v. E. ergriff diesen Zeitpunkt, im Namen seiner Mutter seine Anwerbung zu thun. So, setzte er hinzu, hätte diese Sache gleich gefaßt werden können und gefaßt werden sollen. Verzeihen Sie diesen, verzeihen Sie alle und jede Fehler – ich bin jung; allein merken Sie es nicht selbst, fügte er hinzu, bin ich nicht älter geworden, seitdem ich mich verlobt habe? Meine Mutter darf also hoffen?

Mine sagte ihm mit einem Anstande, der nicht seines Gleichen hatte, daß sie nie gewohnt gewesen, Hoffnungen zu geben, die sie zu erfüllen außer Stande wäre; sie müßte es abschlagen. – Und warum? fiel Herr v. E. hitzig ein.

Sie und mich zu schonen – und, wollen Sie noch mehr, Ihre künftige Gemahlin.

Er widerlegte sie Schritt vor Schritt mit vielem künstlichen Zubehör. Da Mine aber fest in ihrer Gottseligkeit blieb, und das segne Gott und stirb des Herrn v. E. mit englischer Geduld trug, lief Herr v. E. über und stand da, ganz wie er war. Mine erschrak, da sie die plötzliche Verwandlung der Schlange in einen Tiger sah; indessen kam sie nicht aus der Fassung.

Es scheint, Sie haben Ihrem Adonis zugeschworen, keine Mannsperson anzusehen, fing Herr v. E. nach einigen Erholungsblicken[219] spitzig und hohnlächelnd an Seine Zähne blieben unbedeckt.

Eben würde ich das Gegentheil bewiesen haben, wenn ich einen Adonis hätte, erwiederte Mine.

Du sollst nicht andere Götter haben neben mir, ist zwar, fuhr Herr v. E. fort, das erste Gebot im Katechismus; allein die Liebe hat keinen Katechismus.

Die meinige hat einen.

Herr v. E. war in Anordnung gekommen und hatte tief vergessen, was in seiner Rolle stand; er extemporirte, ward zudringlich grob, und Mine gab ihm auf eine Art seinen Abschied, daß er mitten im Wort blieb. – Ihre Hände riß er an seine Lippen, eine nach der andern, und brannt' ihnen Küsse auf. Mine fühlte in jedem Handkuß das Siegel, das er auf seinen teuflischen Plan drückte, und ein Schreckschauer ergriff sie über den andern. – Seine Handküsse brannten wie höllisch Feuer. Auf einmal faßte sich Mine zusammen und entriß ihm beide Hände. – Er zum Hermann, mit dem er heftig sprach. – Im Plane folgte, daß Hermann mitfahren sollte; allein dieß unterblieb – und Herr v. E. fuhr allein.

Hermann schien nicht zu wissen, wie er gegen Minen seyn sollte. – Er wollt' und konnte nicht. – Mine sank in eine entsetzliche Angst, denn es fiel ihr ein, daß v. E. vielleicht seinen Plan abgeändert, und der Ueberfall noch diesen Abend erfolgen könnte. – Zwar sagte ihr Hermann, daß er morgen nach – reisen würde. Er hätte mich heute schon mitgenommen, indessen sind zu viel Gäste. – Minchens Befürchtungen wurden hiedurch nicht im mindesten widerlegt. Die Art, wie Hermann sich gegen Minen betrug, bestätigte vielmehr ihre Furcht. – Masken über Masken! dachte sie und rang die Hände, betete und war in einem unaussprechlichen Zustande. Wende dich, Herr, zu mir nach deiner[220] großen Barmherzigkeit, und verbirg dein Angesicht nicht vor mir, denn mir ist angst; erhöre mich! Ich vergeh' in meinem Elende! – Wahrlich, sie verging.

Was konnte sie anfangen? Wahr oder nicht wahr, ein Entschluß mußte gefaßt werden. – Sie schloß kein Auge, blieb in Kleidern, und nach einem Gebet um Rettung, um Hülfe, frug sie bei dem Herrn ihres Lebens, bei Gott, um die Erlaubniß an (ich schaudere, da ich es schreibe), sich das Leben zu nehmen. – Sie las Todtenlieder, singen konnte sie nicht, und fand in dem Liede: Ich bin ja, Herr, in deiner Macht, Ruhe.


Ich bin ja, Herr, in deiner Macht,


(betete sie dreimal nach einander.)


Denn du hast mich an's Licht gebracht;

Du unterhältst mir Leib und Leben,

Du kennest meiner Monden Zahl

Und weißt, wann diesem Jammerthal

Ich wieder, gute Nacht soll geben

Wo, wie und wann ich sterben soll,

Das weißt du, Lebensvater, wohl!


Und nun war sie entschlossen.

O Gott, wohin kann die Tugend kommen! Mine war entschlossen, sich das Leben zu nehmen, wenn man Gewalt brauchen sollte. Freilich würd' ein Casuist feiner distinguirt und die Gränze richtiger abgemessen haben, wann und zu welcher Zeit – allein Gott, der Herr, läßt nicht durch Casuisten Recht sprechen und – sein Richter ist das Gewissen, sein Urtheil nicht: in Sachen – – entgegen erken nen und sprechen wir, sondern: kommt und geht! Ich will in Gottes Hände fallen; er ist gerecht, er ist barmherzig! Sie warf sich zur Erde und betete an, den, der gemacht hat Himmel und Erde; sie bat um Hoffnung der Seligkeit, wenn sie eine Selbstmörderin würde, um Verzeihung, wenn sie in[221] der Art fehle. Sie betete: So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer kann, wer wird bestehen? Bei dir ist die Vergebung! – Und nach einer Weile: Erforsche mich, Herr, und prüfe, wie ich's meine, wie ich's meine! Sieh, ob ich auf falschem Wege bin, und leite mich, führe mich zurecht auf den Weg zum Leben! Laß, wenn ich irre, Gnade für Recht ergehen, Gnade! Gnade! Wenn diese Hand Mörder an diesem Herzen wird und es durchbohrt – o Gott, Gnade! Gnade! – Allbarmherziger, nimm mich an zu Gnaden und laß mich selig sterben.

Denkt, empfindsame Leser, wie Minen zu Muthe gewesen! Sie suchte ein Messer, und mußte lange suchen. – Find ich es nicht, dachte sie, kann es Gottes Wille nicht seyn. Sie fand! sie fand! – schärfte das Messer, hielt es gen Himmel, flehte noch einmal zu Gott, versuchte wieder zu fingen, konnte nicht, legte das Messer, das zugeschlagen war, vor sich zur Erde und warf sich auf's Bett. Die Unruhe ihres Herzens war groß. Sie sprang schnell auf, nahm ihre Bibel, riß das Messer auf, und legte es auf die Spruchstelle im ersten Buch der Chronik, im zweiundzwanzigsten Kapitel, im dreizehnten Vers:

»Mir ist fast angst, doch ich will in die Hand des Herrn fallen, denn seine Barmherzigkeit ist sehr groß, und will nicht in Menschenhände fallen.«

Nach einem namenlosen Seelenschmerz, nach einer wahren Todesnoth, legte sich Mine wieder auf ihr Bett in Kleidern, wie sie war.


Soll diese Nacht die letzte seyn


betete sie


In diesem Jammerthal,

So führ' mich, Herr, im Himmel ein

Zur auserwählten Zahl![222]

Und also leb' und sterb' ich dir,

Du starker Zebaoth,

Im Tod und Leben hilfst du mir

Aus aller Angst und Noth!


Sie legt' es nicht an zu schlafen, denn daran war nicht zu denken – sie wollte nur ruhen – auch das konnte sie nicht. Alle Augenblicke sprang sie auf, dieß Isaaksopfer! je näher aber zum Morgen, desto ruhiger. Sie fing an einzusehen, daß sie sich vergebens gefürchtet hatte. – Sie war indessen so sehr an Furcht und Zittern gewöhnt, daß auch der helle, lichte Morgen sie nicht völlig beruhigen konnte.

Da kamen Pferde und Wagen nach ihrem Vater, und diese brachten ihr die verlorene Ruhe mit. Mine dankte Gott, der Großes an ihr gethan, der bisher geholfen und alles, alles wohl gemacht hatte. – Sie konnte weder die aufgeschlagene Bibel, noch das aufgeschlagene Messer ansehen. – Mit Entsetzen wandte sie ihr Gesicht weg und machte beides zu. Es kam ihr vor, als sähe sie Menschenblut auf dem Messer. Der Ort, wo sie dieß Messer gewetzt, machte sie schwindlig, da er ihr in's Auge fiel. – Das Messer warf sie unter Dank und Gebet fort. Gott, sagte sie, laß es nie Einen finden, der es brauchen will, als ich wollte. Sie glaubte hiedurch diesen schrecklichen Vorsatz aus ihren Gedanken geworfen zu haben; allein hierin fand sie sich getäuscht. – Durch Stilleseyn und Hoffen, heißt es, werdet ihr stark seyn! Wer kann aber, o Gott, wer kann immer stille seyn und hoffen?

Während der Zeit war Hermann reisefertig.

Hermann. Leb wohl, Mine.

Mine. Leben Sie wohl, mein Vater – leben Sie wohl, mein Vater, leben Sie wohl!

Hermann. Was fehlt dir? du weinst ja?

[223] Mine. Ach Gott!

Hermann. Mine, überdenk alles, überleg! du bist klug! Du jammerst mich! Mine überleg! – Leb wohl!

Mine. Leben Sie wohl!

Mörder, wo willst du hin? Fürchtest du dich denn nicht, daß die Erde ihren Mund öffne und dich verschlinge, und die Wolken sich trennen und Feuer und Schwefel auf dich regnen lassen? – Du kennst Minen, wie Judas seinen Meister. Der Abend, da du mir die Geschichte vom Judenknaben und von den Hühnereiern erzähltest, wird wider dich zeugen, Frevler! Kuppler! Bösewicht!

Mine nahm von ihrer Zelle Abschied, und konnte nicht umhin, noch einmal nach ihrer Mutter Grab zu blicken. Hierbei ließ sie es bewenden. Sie befahl Reginen das Haus und sagte ihr, sie dürfe nicht warten, sondern könne nur immerhin zeitig zu Bette gehen, womit Reginen sehr gedient war. Ich, fuhr Mine fort, werde diese Nacht nicht zu Hause kommen; und nun ging Mine mit dem Gesang:


So gehen meine Wege

Gewiß zum Himmel ein!


aus ihrem Vaterlande, und aus ihrer Freundschaft, und aus ihres Vaters Hause, in ein Land, das ihr der Herr, wie sie glaubte, zeigen würde. – Ihre Füße und Hände zitterten; indessen fand sie sich durch die Gedanken gestärkt, daß sie den Anschlägen der Bosheit entginge. Sie fand an dem bestimmten Orte ein Wägelchen und zwei Pferde. Ohne zu fragen, wie und wohin? setzte sie sich auf. Alles verstand sich einander. Der Fuhrmann hatte selbst nicht nöthig, die Pferde zu ihrer Schuldigkeit aufzuschreien. Es ging alles seinen Gang. Bis hierher hat der Herr geholfen, sagte sie, und fing an freier zu athmen. Sie hätte schlafen können, so ruhig war sie; allein die Dankempfindungen gegen Gott verwiesen[224] den Schlaf aus ihren Augen. Arme Mine! du weißt nicht, was auf dich wartet – arme Mine! Sie kam in den Flecken, wo Benjamin war. Vortrefflich! dachte sie, und noch ein Vortrefflich dachte sie hinzu, da der Wagen nicht bei der Thüre des Meisters ihres Bruders hielt. – Alles plangemäß – nur ihr Bruder Benjamin fehlte. Zwar fand sie eine willige Frau, die sie herzlich bewillkommte; allein ihren Bruder Benjamin fand sie nicht. Anfangs fing sie an zu zweifeln, ob sie Benjamin nach der Verabredung vorfinden sollte oder nicht? Ihr Kopf, das heißt ihr Gedächtniß, hatte sehr gelitten; sie fragte sich, ob Ja oder Nein? und da sie noch mit Ja und Nein kämpfte, fing die gute Frau an: Sie werden sich doch nicht erschrecken? – Die gewisseste Art, uns einen Schreck beizubringen. – Sie werden doch nicht? – Gott! rief Mine und glaubte, sie sey verrathen und verkauft.

Nach vielen unerträglichen: Sie werden doch nicht, erfuhr die Unglückliche erst, daß ihr Bruder in den letzten Zügen wäre. Noch ehe Benjamin sich legte, hatte er in diesem Hause von seiner Schwester geredet, allein bloß vorläufig. Ist es möglich! fing Mine an. Es ist erschrecklich zu lesen, was Mine hierbei ausgestanden. – – Sie zitterte zu ihm hin, ohne an die Gefahr zu denken, der sie sich bloß gab, und da sie an sein Bette trat und seine Hand nahm – schlug er mit Heftigkeit auf sie zu. – Was Gewalt? Dene – wie, Gewalt? Bluthund! ich werde dir Gewalt lehren! Gegen Minen Gewalt, du Aftermutter? Er sprang aus dem Bett, und da er sich weder im Guten noch im Bösen beruhigen ließ, so mußt' er gebunden werden und – Mine davon Augenzeuge seyn!

»Der Meister, der mich ohne Bedenken bei meinem Namen nannte, und sich einbildete, daß ich, bloß weil ich von Benjamins Krankheit gehört hätte, da wäre, erzählte mir, daß Benjamin gleich Freitags, als er zurückgekommen, über Kopfweh geklagt. – In[225] der Nacht hätt' er eine grausame Hitze bekommen, und diese hätte Sonntag Abend seinen Verstand völlig zerrüttet. – In seiner Phantasie hätt' er: Rett' sie! rett' sie, die arme Schwester! gerufen. Seht ihr nicht Räuber? Diebe? Rett' sie! rett' sie! und dann alle Augenblicke: Spannt an! spannt an! sie kommt! spannt an! – Und dann wieder hätt' er die Hausfrau bei der Hand genommen: – Ach liebe, liebe Frau, was ich auf meinem Gewissen habe. – Sind wir auch allein? Ihnen will ich's wohl entdecken! – Ich kann keine Vergebung der Sünden haben – ich bin ein Höllenbrand! Und wissen Sie, warum? Ich hab' meinen Vater nicht todt geschlagen, und das hätt' ich sollen! – Es sind lauter Flicken, liebe Jungfer, sagte der Meister, es kann kein Mensch ein Kleid daraus machen. Sie sehen doch, wie er, leider! ist. Er kennt seine eheleibliche Jungfer Schwester nicht.«

Mine, die wohl einsah, wie alles dieses zusammenhing, und die noch überdem sehr leicht herausbringen konnte, daß ihr unglückliches Schicksal ihren Bruder so sehr angegriffen, daß er in die entsetzliche Krankheit, die einen Menschen auf eine Zeit lang aus dem Buche der Menschen streicht, gefallen – machte sich bittere Vorwürfe. Ich bin schuld an seinem Tode! schrie sie mal auf mal. Ich legt' ihm mehr auf, als er tragen konnte! Mine war so von Mitleiden und Kummer durchdrungen, daß sie nichts mehr als ein: Erbarm dich, Gott! über das andere ausrufen konnte. – Sie fiel sich indessen selbst zur rechten Zeit ein. Stirbt er, sagte sie zu den bewegten Leuten, die ihren Lehrling mit Thränen in den Augen gebunden hatten, stirbt er, werd' ich ihn finden, wo man nicht: rett' sie! rett' sie, mehr rufen darf – in den Wohnungen der Gerechten! – Bald, bald werd' ich ihm folgen! – Hilft ihm wie ich hoff und bete, so bitt' ich ihm zu sagen, daß ein Frauenzimmer bei ihm gewesen, die ihre Hände zu Gott aufgehoben, da man die seinigen gebunden hätte, die Kyrie Eleison gerufen.[226] – – Sie konnte nicht ausreden – so bewegt war sie. – Sie ging und kam wieder, saßte ihn an und sagte: Benjamin! – Er sah sie mit starrem Blick an, wollte sich losreißen – konnte nicht, und sie ging, betrübt bis in den Tod!

Benjamin hatte die Reise nach Mitau nicht bestellt. Mine dacht' aus dem: Spannt an! spannt an! sie kommt! Ja, »allein sie fand Nein,« und sah sich genöthigt alles selbst zu berichtigen. – Wer beten kann, pflegte mein Vater selbst auf der Kanzel zu sagen, kann auch mit Vornehmen und Geringen umgehen – und dieß fiel ihr ein, wie sie schreibt. – Sie fand die Bestätigung zu derselben Stunde, traf Anordnungen, schloß Contract und reiste nach Mitau. – Kurz vor der Stadt hatte Mine einen neuen Schreck, gegen den alles, was sie am Krankenbett ihres Bruders erlitten, nach ihrem Ausdruck wie gar nichts war. Sie war abgestiegen, weil der üble Weg diese Wagenerleichterung nothwendig gemacht. Sie suchte sich grüne, schöne Stellen aus, wo sie ging und wo sie mit den Vögeln des Himmels den Schöpfer lobte, in dessen heilige Hände sie sich befahl. »Wenn auch hier und da schwere Stellen auf dem Wege des Lebens sind, es gibt doch, dacht' ich, links ober rechts grüne, blumenreiche Stellen, aus denen uns die schöne Natur willkommen heißt. Gott, segne meinen Mann, hilf meinem Bruder! – So dacht' ich, oder so betete, so dankt' ich Gott,« schreibt Mine, und schnell sprengte ein Reiter auf sie zu, der sie steif ansah, und wen sollte man wohl weniger vermuthen, als den Herrn v. E.? Er war es selbst! er selbst! – Kein Erdbeben kann so erschüttern, als dieser Anblick Minen. – »Ich verlor,« schreibt sie, »gleich auf der Stelle alle Kraft, Stärke und Macht. Gott, wie unergründlich sind deine Gerichte, wie unerforschlich deine Wege! Das Messer, das ich, auf den Fall mich Räuber, Bösewichter überfallen sollten, für meinen Busen geschärft hatte, war der Dankbarkeit gegen Gott, der Liebe[227] zum Leben und dem Zutrauen, daß der, welcher bisher geholfen, auch weiter helfen würde – geopfert. Da war ich also ohne Rettung in des Mörders Händen!«

Er war es! er, v. E. selbst!

»Schon wollt' ich niederknien und von dem Bösewicht den Tod als die einzige Gnade erbetteln; Mörder dieser Art sind aber so menschlich nicht, umzubringen. Sie morden Seelen, Gewissen! Mir fielen die Worte unseres Herrn und Meisters ein: Hebe dich weg, Satan! – Schon wollt' ich knien und Abgötterei begehen, als ein Wagen kam.«

In diesem Wagen saß seine Verlobte und Frauenzimmer ihrer Verwandtschaft. Herr v. E. halte also keine Zeit, Minen näher kennen zu lernen. Allerliebste Augen, sagte er in den Wagen! Ich kenne nur noch ein Paar der Art! Unfehlbar eignete sich die Braut dieses Compliment zu, das aber Minen gehörte. Alles lachte ohne End' und Ziel im Wagen über dieses Abenteuer, und Herr v. E. mußte Schande halber sich beim Wagen, der sich zur Linken wandte, halten; indessen sandt' er unvermerkt einen seiner Getreuen Minen nach, sie zu examiniren: wohin? und woher? Mine, welche zwar in diesem Vorfall, daß Herr v. E. mit Blindheit geschlagen war und sie verließ, aufs neue gesehen hatte, daß sie auf Gottes Wegen wäre, konnte sich doch von diesem Umstande nicht erholen. – Es kam alles Schlag auf Schlag. – Da sie den Abgesandten des Satans sah, that sie einen Schrei, der diesen Inquirenten mit erschreckte. Sie wußte nicht seinen Auftrag, und stellte sich nichts anderes vor, als daß er sie fortschleppen würde. Der Abgesandte hielt Minen für keinen Bissen, der einer Jagd werth wäre. Es war dieser Helfershelfer nie bei Hermann gewesen – noch in der Kirche zu – –, und wie konnte man alles Wild fangen, was Herr v. E. aufjagen ließ? Ermüdet von dergleichen Aufträgen, begnügte der Abgesandte sich, als er von[228] Minen: »Nach Mitau, zu meiner Muhme,« heraus hatte, kehrte zurück und log seinem Befehlshaber das übrige zu, um diesen Roman sein säuberlich zu endigen. Durch diesen Vorfall war Mine so außer Fassung gebracht, daß sie nicht einmal Gott danken konnte. – Es war ihr alles wie im Traum. Groß ist, Herr, deine Güte! fing sie zuweilen an, und dann rief sie wieder: Herr! hilf, ich verderbe! Wenn sie sich recht gesammelt hatte, erschrak sie vor sich selbst. – Fast kannte sie sich nicht, so sehr hatte sie sich verändert. – Kurz vor Mitau fand sie sich wieder und rang ihre Hände zu Gott. Der dich behütet, schläft und schlummert nicht, dachte sie; in Finsterniß ist er dein Licht! Die dir nachstellen, erschrecken sehr und werden zu Schanden plötzlich. – So dachte Mine und freute sich, daß Bibel und Gesangbuch seit einiger Zeit ihre Hauptbücher, ihre einzigen Bücher gewesen. Dein Wort, rief sie, ist meiner Füße Leuchte und Licht auf meinen Wegen!

Mine kam nach Mitau. Ihre Anverwandten, die sie bald ausfragte, waren in der traurigsten Verfassung. Sie hatten in der Nachbarschaft einem Cavalier ein Stück Land abgepachtet, und da an den Schaden nicht ausdrücklich im Contract gedacht war, so mußten sie von Heller zu Pfennig bezahlen und den Schaden ersetzen, obgleich er vom Himmel kam.

»Der liebe Gott hat's gethan,« sagten die armen Leute vor Gericht; allein die Richter behaupteten W.R.I.V.R.W. daß dieser Contract ohne den lieben Gott gemacht wäre. – Die Armen! In der Welt habt ihr Angst, sagt Christus zu seinen Jüngern, und das konnte man von diesen Armen mit Wahrheit behaupten. Alles, was sie an und um sich hatten, ward ihnen genommen. Sie behielten sich nur allein übrig und die Erinnerung an einen Contract, der ohne den lieben Gott gemacht war. W.R.I.V.R.W. Anstatt, daß Mine also von diesen Armen[229] Beistand erwartete, ließ sie ihnen etwas von ihren Sachen. Sie wollt' ihnen auch durchaus von ihrem wenigen Vorrath an Geld die Hälfte abgeben; allein diese Armen erklärten dieß für den größten Diebstahl. Mine mußt' ihnen den Sterbenslauf ihrer Mutter (die Verwandtschaft kam von Mutter Seite her) erzählen, und die guten Leute freuten sich über ihre Versorgung. Wer einmal oben ist, o! der ist wohl versorgt! sagten sie beide. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, setzten sie hinzu; auch Mine sagte: Wer weiß! und alle drei freuten sich.

Die unglücklichen Leute hatten einen Sohn, der Pastor an der Gränze war, wie sie sich ausdrückten. Wenn er lieber was anderes wäre, wünschten sie, dann würden wir eher Hülfe von ihm erwarten können. Mine befragte sie, ob sie denn schon Proben von seiner Härte hätten? Härte können wir es nicht nennen, erwiederten sie. Er hat sich das Beten statt des Gebens so angewöhnt, und freilich kommt man dabei am wohlfeilsten ab. Hol' doch, sagte er, liebe Mutter, hol' doch den Brief vom neuen Jahr, da ist ein Gebet drin, das ein Kirchengebet werden könnte!

Unser Nachbar, sagte die liebe Mutter, anstatt daß sie den Brief mit dem Gebet holte, welches ein Kirchengebet werden könnte, unser Nachbar hatte eben so ein Pachtunglück; aber wie weit glücklicher ist der! Er hat einen Schneider zum Sohne, der schon alles reichlich mit Zinsen ersetzt hat, was der Vater verloren. – Sag nicht, Mutter, beschloß der Alte – du weißt noch nicht, was unsrer thun wird! – Geben ist gut – Beten ist auch gut. – Nicht wahr, Jungfer Mühmchen? fragte der Alte.

Minchens ehrliche Anverwandten halfen die Sache mit einem preußischen Fuhrmann berichtigen, und da Mine ihren Freunden von ihrer Geschichte so viel, als ihnen zu wissen nöthig war, entdeckt hatte, blieb die Hauptsache eine geschwinde Abreise.

Minens Verwandte gab ihr einen Brief nach L. in Preußen,[230] neun Meilen hinter Königsberg, mit, wo eine leibliche Schwester des ehrlichen verunglückten Pächters wohnte, und wohin auch Minchen gleich anfangs hindachte. Es sind reiche Leute, sagte er; vielleicht thaten sie an uns etwas. – Gott wird es ihnen bezahlen, hier zeitlich und dort ewiglich.

Und Minens Vater? –

Er hatte einen harten Kampf mit dem Herrn v. E., daß er Minen nicht weichherziger, wie er sich auszudrücken beliebte, gemacht. – Dieser Kampf hatte schon, wie sich meine Leser erinnern werden, in Hermanns Hause angefangen, und ward noch hitziger fortgesetzt, da Hermann zum Herrn v. E. kam.

Was will die Närrin? schrie er. Nach einer Viertelstunde raunte er dieß: Was will sie? dem Hermann ins Ohr.

Um aus der Noth eine Tugend zu machen, war Hermann es ganz unterthänigst zufrieden, daß Gewalt für Recht gehen und Mine dem Herrn v. E. als ein Schlachtopfer gebunden zu Füßen gelegt würde. Ich hoffe doch, sagte Hermann, daß es alles ehrlich und ordentlich mit Minen zugehen werde? – denn wahrlich, hochwohlgeborner und gnädiger Herr Baron, es ist ein Mädchen, das sterben könnte, ehe man sich es versähe, und ei, dann Vater seyn! – Versteht sich, sagte Herr v. E., ehrlich und ordentlich – ich werde doch, Herr! zum Teufel! wissen, mit einem Mädel eine Comödie zu spielen! Hat der Herr schon gehört, daß die Personen im letzten Akt des Lustspiels sterben? Und ein Lustspiel, hört der Herr? ein Lustspiel soll es werden! Dieses Lustspiel wäre, Dienstags vollendet worden; allein Herr v. E. mußte nolens volens seine Braut zu einem ihrer Anverwandten, der bei Mitau wohnte, begleiten. Hermann blieb, auf Geheiß des Herrn v. E., so lange bei der Frau v. E. Gnaden und bei der Jungfer Dene Hochedelgeboren.

In zwei bis drei Tagen bin ich hier, schrie noch Herr v. E.[231] dem Hermann vom Pferde zu, und dann ohne Verzug! – Sie hatten sich in die Hände geschlagen: wenn alles gut ginge, soll es nicht bei vierzig Thaler Albertus bleiben. – Gott gebe, daß es gut geht, sagte Hermann; das übrige werden meine Leser an seinen Ort zu stellen und einzuschalten wissen. Würde Herr v. E. Minen nahe bei Mitau vermuthet haben, und hätte sein Abgesandter ihm hiervon auch nur die entferntesten Spuren zurückgebracht, das Gelächter im Wagen würde ihn eben so wenig von ihren Augen abgebracht haben, als Gottes Wort in der Kirche. Sein Herz hing an Minen, und eben weil es an ihr hing, verfolgte er das Mädchen nicht weiter, das nach seiner Einsicht bloß Minens Augen hätte, obgleich sie es, gottlob! selbst war.

Herr v. E. traf nach drei Tagen ein, fand den Hermann fröhlich und guter Dinge, und es ward der Mord ganz pünktlich verabredet. Hermann reiste nach Hause, um alles zu dieser Gewaltthätigkeit vorzubereiten. Regine halte von Minens Entfernung dem Hermann keine Nachricht ertheilet. Zwar hatte Mine ihr nur bloß gesagt, daß sie die Nacht nicht heimkommen würde; indessen dachte Regine: wer weiß, was für ein Zufall sie bindet! – Hermann kam betrübt nach Hause. – Ich glaube, es ist es jeder Nachrichter, wenn er den Streich vollführen soll, wenn er sich bewußt ist: unschuldig Menschenblut. Hermann fand die unbesorgte Regine und statt Minen fol gende Schrift:

Sie wissen selbst, mein Vater – Vater werde ich Sie nennen, es gehe wie es gehe – Sie wissen selbst, daß ich nicht aus Tücke des Herzens aus meinem Vaterlande, und aus meiner Freundschaft, und aus meines Vaters Hause gegangen, in ein Land, das Gott mir gezeigt hat! – Sie wissen alles! Ich bin Ihre Tochter! Mehr als dieß: Sie wissen alles, darf ich mich nicht unterstehen, zu schreiben, und sollten oder wollten Sie nicht alles wissen, so wäre es ein sehr unzeitiges Geschäft, mehr zu schreiben.[232] Gott verzeihe es mir, wenn ich jetzt oder jemals die Achtung aus dem Auge verloren, die ich Ihnen schuldig bin. – Mein Weg geht, wie ich fühle, zum Himmel ein. Ich habe zu viel Angst, zu viel Kummer erlitten, um hoffen zu können, eher als vor Gottes Thron bei meiner seligen, ja wohl seligen Mutter glücklich zu seyn! Dann, dann wird, o wie freue ich mich dessen! das Grab in Absicht meines hinfälligen Theils meine Behausung, Finsterniß mein Bette, die Verwesung mein Vater und die Würmer die Meinigen seyn – allein mein Geist! – dort, dort werden abgewischt werden die Thränen von meinen Augen! – Im Himmel ist mein Theil und Erbe! – Ich bitte Gott, daß ich Sie einst auch da finden möge, mein Vater, da, wo Ruhe ist! Sie haben mir auf volle acht Tage Ausgabegeld gegeben; die Rechnung vom Sonntag und Montag liegt auf Ihrem Schreibtische. Reginen habe ich Geld auf zwei bis drei Tage zurückgelassen, hier ist das übrige vom Wochengelde. – Ich habe nichts von dem Ihrigen mir zugeeignet, ich habe Ihnen nichts entwendet. Sie berechneten sich mit meinem Bruder Benjamin, und wie mir es vorkam, legten Sie auch mein Theil ab. Diesen schenke ich meinem Bruder. Ich wünschte wohl, daß Dene nichts trüge, was meine theure Mutter getragen hat, wenn es ihr, wie ich vermuthe, nicht schon an sich zu schlecht ist. – – Sollten Sie, mein Vater wider all mein Vermuthen, etwas missen, so muß Regine davon Anzeige thun können, die indessen, wie Sie wissen, die Ehrlichkeit selbst ist. Ich gehe, und das können Sie sich leicht vorstellen, mit schwerem Herzen, o Gott! mit schwerem Herzen von hier. An diesem Briefe habe ich drei Tage geschrieben. Thränen beziehen mir so die Augen, daß ich auch jetzt nicht sehe, was ich schreibe. – Gott sey mir gnädig! Ich bete auch für Sie! und werde es nie aufhören zu thun. Haben Sie tausend Dank für alles Gute, so Sie meiner Mutter, und so Sie mir gethan! Meine Mutter läßt sich noch durch mich bedanken. Gott vergelte es[233] Ihnen! – Ihr Grab war mein Labsal, sonst wäre ich vergangen in meinem Elende. Verzeihen Sie alle meine Fehler, wodurch ich Sie in meiner Jugend betrübt habe. Seit vielen Jahren, dünkt mich, habe ich Ihnen nicht Gelegenheit zur Unzufriedenheit gegeben. Man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen. – Meine Entfernung rechnen Sie nicht unter Fehler, die ich Ihnen abzubitten schuldig wäre – ich bitte sie Ihnen dennoch ab, weil ich weiß, daß sie Ihnen einigen Verdruß machen wird. Der Himmel gebe, daß er so klein sey, als nur möglich, nur möglich. – Wenn Sie nicht glauben wollen, daß mich Gott zu gehen geheißen hat, so lassen Sie sich von dem Herrn Pastor die Predigt vom vorigen Sonntag geben. Diese Predigt ließ Gott durch ihn an mich halten – das können Sie mir glauben, weil ich es empfunden habe, und wenn Sie die Predigt lesen, werden Sie es auch empfinden, und mir wenigstens eine glückliche Reise wünschen, wie Sie meinem Bruder wünschten. – Die Frau Pastorin haben Leute, das weiß ich, wider mich aufgebracht.

Ich bitte Sie, meine liebe Frau Pastorin, um Gottes willen, um Gottes willen, nicht zu denken, daß ich Ihren Sohn verführt habe, und noch verführe. Eben so wenig, als er mich verführt hat und verführen wird, eben so wenig ich ihn. – Sie sind eine gute, verehrungswürdige Frau, meine geistliche Mutter, die mich über die Taufe gehalten hat – ach! – – Gott, der Herr, segne Sie! Ich küsse Ihnen und dem Herrn Pastor, dem Boten Gottes, die Hand. Gott wird ihn so in seinem Letzten erquicken, als er mich vorigen Sonntag in meinem Letzten in – erquicket hat.

Lieber Vater, sagen Sie diese Stellen der Frau Pastorin vor, und danken Sie dem Herrn Pastor tausendmal, tausendmal! Lieber Herr Pastor! Engel Gottes! ich danke Ihnen tausendmal, tausendmal! –

Ich wünschte sehr, mein Vater, daß diese frommen Leute gut[234] von mir dächten, des Gebets dieser Frommen wegen, dem ich mich empfehle. Setzen Sie mich, mein Vater, in die Güte, in das fromme Andenken der Frau Pastorin zurück. Schlagen Sie mir, lieber Vater, diese letzte Bitte nicht ab, und dann noch eine nicht: – das Grab meiner Mutter in Ehren zu halten! Wenn die Erde nachläßt und das Grab sinkt, lassen Sie, lassen Sie doch Erde, gute schwarze Erde nachschütten, damit es nicht das Ansehen, das edle Ansehen eines Grabes, eines Hügels verliere. Meine Mutter ist ja die Handvoll schwarzer Erde werth! – Nun leben Sie wohl! – Wenn Sie Denen heirathen, lassen Sie sie nicht verächtlich von meiner Mutter reden; es ist eine selige Mutter. Verdoppeln Sie Ihre Liebe gegen meinen Bruder Benjamin. Er ist jetzt das einzige Kind, das von einer Mutter stammt, die im Himmel ist. – Grüßen Sie ihn von mir tausendmal; so oft er zu Ihnen kommt, grüßen Sie ihn tausendmal! – Grüßen Sie alle, die sich meiner zu erinnern die Güte haben. Verfolgen Sie mich nicht, denn ich gehe auf Gottes Wegen. Regine ist so unschuldig an meiner Entfernung, als die Sonne am Himmel. Grüßen Sie auch Reginen von mir. Ich bitte Reginen ab, daß ich Sie wegen meiner Flucht getäuscht habe. – Gott lasse es Ihnen allen, allen, allen wohl gehen zeitlich, geistlich und ewig wohl! wohl! Wenn Herr v. E. seine Gemahlin treu lieben wird, nur dann wird er glücklich seyn. Gott sieht das Herz an und alle guten Leute, die Gottes Bild an sich tragen, deßgleichen. Ich wünsche auch ihm alles, alles Gute! Hiermit leben Sie wohl, alle! alle! Leben Sie wohl!


* * *


Hermann war gerührt – weinen konnte er nicht. Schon wollte er den ganzen Handel mit Denen wieder aufgeben und zu meinem Vater gehen, und seine Sünde in den Schooß seines Beichtvaters bekennen. Er konnte sich nicht entbrechen, vor sich zu[235] sagen, als ob er sich auf das Compliment zu meinem Vater besönne: Vater, ich habe gesündiget im Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht werth, daß ich dein Beichtsohn heiße.

Diese Bußgedanken wurden aber bald zerstreut. Nimmt Herr v. E. Denen von mir, was hebe ich an? Graben mag ich nicht; doch schäme ich mich zu betteln. Dieß setzte er seinen Bußgedanken entgegen, und wenn sie gleich nicht völlig in Flucht geschlagen wurden, so waren sie doch wenigstens wankend ge macht. Je weiter er dem Vorfall nachdachte, desto mehr befestigte sich sein Entschluß, sich unter die gewaltige Hand des Herrn v. E. zu demüthigen. Sein letzter Vorsatz war, dem Herrn v. E, der, wenn er wollte, ihn ganz und gar an den Bettelstab bringen könnte, alles zu entdecken – und sich ihm auf Gnade und Ungnade, auf Tod und Leben zu ergeben. Er nahm den Brief mit (die Hand zitterte ihm, da er ihn angriff) und ritt nach – zum Herrn v. E.

Nun, Teufel! war der Willkommen.

Hochwohlgeborner, gnädiger Herr! hier!

Was? (Herr v. G. nahm und las.) Blitz! Donner! Zeter! Wetter! wo ist die Bestie?

Gnädiger Herr, verzeihen Sie –

Er ist toll!

Wie Ew. Hochwohlgeboren befehlen.

Die Bestie, wo ist sie?

Das ist Gott bekannt!

Nach einem langen Mißverständnis; kam es heraus, daß der Abgesandte Jakob die Bestie war. Ich bin ihr begegnet! – Gewiß und wahrhaftig, sie war es! schrie Herr v. E.

Ketten! – Jakob! wo ist die Bestie? Jakob kam, und nach den entsetzlichsten Flüchen wurde Jakob in Eisen geschmiedet. Dieser Kerl, mit dem ein kurzer Proceß gemacht ward, schien der Ableiter der Wuth des Herrn v. E. zu seyn. – v. E. erholte sich. –[236]

So lange als ich sie nicht habe, sollst du so liegen, Bestie! das war das Urtheil.

Es wurden Steckbriefe und Boten zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen ausgesandt – allein Mine kam glücklich nach – Königsberg. – Sie erschrak über diesen Ort. So groß! sagte sie zu den Fuhrleuten. Es war der nämliche Major und der nämliche Junker, die mich nach Königsberg gebracht hatten. – Mine schlief in Königsberg auf der nämlichen Stelle, wo ich geschlafen hatte, und es sey, daß Ahnung es ihr eingab, oder, was weiß ich, wie sie empfand, daß ich da gewesen. Bis dahin hatte sie hiervon keinen Gedanken gehabt. – Jetzt kam es ihr schnell ein, wie alles kommt, was gut ist. – Mine lenkte das Gespräch auf die hohe Schule, und immer weiter und weiter, bis die Majorin selbst von mir anfing. Der Major hatte mich längst vergessen. Ueberhaupt schwächt nichts so sehr das Gedächtniß, als Reisen. Die Majorin gab so viele Umstände an, daß Mine mich vor sich sah. Hätte Kummer und Elend, und vorzüglich der Ueberfall des Bösewichts, da Mine zu Fuß ging, und die peinlichen Fragen des Abgesandten, der jetzt in Eisen geschmiedet war, diese Arme nicht so sehr zurückgesetzt, ich glaube, die Liebe hätte ihre Gründe, mich nicht zu sehen, überwunden. Jetzt überwanden die Gründe. Wer sieht gern Leute, die man recht zärtlich liebt, wenn man so kümmerlich ist, wie Mine war? Ihre Gründe:

»Die Pastorin nennt mich eine Verführerin! Könnte ich es nicht werden? Und unter welchem Namen sollte ich? unter wessen Schutz? Was würden seine Bekannten von mir denken, von ihm sagen? Wie und wo soll er mich sehen?« Mine, die überall auf Gottes Wegen ging, hatte schon der Majorin gesagt, daß sie keinen Verwandten in Königsberg hätte, und daß sie nach L. wollte. Es war schon unterwegs abgemacht, daß man sie dorthin senden würde. Eine gewisse fräuliche Delikatesse, die, wenn sie Schwäche wäre,[237] selbst unserm Geschlecht angenehmer als Stärke ist, gab jedem Gedanken Nachdruck.

»Könnte man nicht denken, ich wäre seinetwegen? – Er kann und wird mich sehen, im Schooße meiner Verwandten – und sterbe ich – in der seligen Ewigkeit!«

Kurz, es ward beschlossen, nach L –. Der Herr Major sagte: Frau, solch ein Frauenzimmer hast du noch nicht gesehen, und die Frau Majorin that mir die Ehre, Notabene, nachdem mein Andenken bei ihr aufgefrischt war, bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß sie solch einen jungen Herrn, als mich, so leicht nicht gesehen hätte. Mitte schrieb: »Dieß kam mir so unerwartet, daß ich feuerroth wurde. – Ich freute mich, mein Lieber, so sehr sich Mine freuen konnte!« – Da Mine eine Lust bezeigte, die Stadt zu besehen, so ward den Morgen eine Kutsche angespannt. Die Majorin machte Umstände, mit Minen zusammenzusitzen. Sie wollte gerade über sitzen. Endlich – – Alle Augenblicke, wenn Mine einen jungen Menschen sah, fiel sie zurück. Sie glaubte mich –


Den nämlichen Tag nach Tische.

Herr v. G. Ich.


Er. Endlich.

Ich. Ich bin auch heut noch zu beklommen, ich habe noch kein empfängliches Herz für die Natur – keinen Hunger und Durst – nach ihrer Milch und Honig. Sie nimmt es übel, Bruder, wenn man zu ihr kommt und sauer sieht.

Er. Sie wird dich aufmuntern.

Ich. Das thut sie nicht.

Er. Ihren Lieblingen wohl, und du sitzest ihr im Schooß.

Ich. Wohin denn?

Er. Das laß mir über. Unser ehrlicher Major hat, das[238] weißt du, Ursache, es übel zu nehmen, daß wir nicht schon die Parole von ihm abgeholt. – Ein paar Pferde –

Ich. Meinetwegen! Wen senden wir?

Er. Uns selbst.

Ich. Desto besser.

Er. Zum Major!

Ich. Zum Major!

Wir gingen, nachdem wir uns umgezogen. Schon sahen wir sein roth abgeputztes Haus, freuten uns, unsere Kriegskameraden zu sehen, und fragten einander. – Da begegneten uns ein paar Landleute im Wagen, die uns hineinwinkten. – Wir nahmen diesen Wink entgegen – und fuhren ihren Weg nach Hollstein (einem Lustorte bei Königsberg). Warum konnten wir nicht zum Major, obschon wir das roth abgeputzte Haus sahen? Große Frage! warum? O Gott, warum? Eine kurze Freude für meine Leser!

Der Weg nach Hollstein ist einer der schönsten, den man fahren kann. Auf der einen Seite Wasser, wo Schiffe sich kreuzen, auf der andern die anmuthigsten Wiesen. – Man könnte, sagte einer in unserm Wagen, um den Wiesen ein Compliment zu machen, Billard darauf spielen!

Ich war blind und taub. Wie konnte es anders? Schon sechs Wochen über das Vierteljahr und kein Brief von Minen!

Mine reiste den andern Tag nach L – zu ihren Verwandten. – Wie sie zum Thor hinaus fuhr, fielen ihr wieder die Worte ein: Man trug einen Todten aus der Stadt, der war der einzige Sohn seiner Mutter. Sie konnte diese Worte nicht los werden.

Mine schreibt: »Mein Weg, mein Lieber, wie du schon weißt, wie ich dir schon tausendmal geschrieben habe, ging himmelan, überall himmelan.«

Sie fand ihren Verwandten auf dem Brette. Seine Frau war[239] schon längst gestorben. Müde und matt fiel Mine bei dem Anblick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nachdem sie sich erholt hatte und den Todten ansah, fand sie eine Aehnlichkeit von ihrer Mutter in allen seinen Zügen. Sie konnte ihr Auge nicht von ihm lassen. Sie selbst:

»Es sey, mein Lieber, daß alle Todten eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn sterben, ober der Selige hatte, der Verwandtschaft wegen, wirklich ähnliche Züge von meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug! – Lieber Gott, dachte ich, indem ich ihn starr ansah, nun habe ich auch einen Brief in den Himmel. Du weißt doch, mein Lieber, den Brief aus Mitau. – Gott, dein heiliger Wille geschehe! – Nur daß du mich nicht verlässest, wenn ich diesen seligen Weg gehe – und die letzte, letzte Reise thue.«


»Laß mich, wenn ich sterbe,

Mit der Schaar der Frommen

Aus Sturm und Wellen kommen

An den erwünschten Ort.«


»Wieder ein Wegweiser himmelan, himmelan, mein Lieber! Ich glaube nicht, daß ich noch weit zum Ziele habe. – Es kann, es kann nicht mehr weit seyn!«

»Ich wollte in Königsberg mich mit dem Fuhrmann und seiner Frau abfinden, die Leute hatten mir viel, sehr viel Gutes gethan; allein weder er, noch sie, waren zu einem Dreier zu bequemen. Ich schenkte der kleinen Tochter, die nicht von mir ließ, einen Kopfputz, und mehr war den Leuten nicht aufzubringen. – Sie hatten mir gar zu essen und zu trinken auf den Weg gegeben, ohne daß ichs wußte. – Mein Gott, was gibt es doch für gute Menschen in der Welt! Diese Güte bewegte mich bis zu Thränen, die, Gott sey gepriesen, sogleich da sind, und mir sehr treue und gute Dienste thun.«

Der Prediger in L –, wahrlich ein Mann, der nicht bloß[240] betete, sondern auch arbeitete, der nicht bloß lehrte, sondern auch gab, kam eben von der Erfüllung des letzten Willens des Seligen. Es hatte der Verstorbene verordnet, da er keine Erben hatte, daß sein ganzer Nachlaß an das Hospital und die Hausarmen gegeben werden sollte. Der gute Prediger hatte alle die frohen Züge der Armen in seinem Gesicht, die er veranlaßt hatte, und so kam er ins Trauerhaus. – Einen Tag eher, und Mine hätte für die bewußten Armen in Mitau Anspruch auf diesen letzten Willen machen können. Es war seit undenklichen Jahren keine Nachricht von ihnen in L – eingelaufen, und der Selige glaubte sie schon alle da zu finden, wo er hinging.

»Auch die Hospitalitin,« schrieb Mine, »hätt' ein Recht an dieser Austheilung gehabt. Ich prüfte mich vor Gott, ob ich es einem beneidete, auch der es weniger, wie ich, nöthig hätte; allein ich bestand in der Wahrheit. – Mein Lieber, ich bin verlassen; allein Gott weiß, dieser Gedanke kostet mir keinen bittern Augenblick. – Keinen einzigen ist der verlassen, der auf Gottes Wegen geht! Wenn mir einfällt: wo Brod in der Wüste? bild' ich mir ein: wenn ich kein Brod habe, werd' ich auch keinen Hunger haben, und das ist jetzt mein unaufhörliches Denken, solang ich bei der Leiche bin – und dann noch ein großer, über alle Maßen wichtiger Gedanke ist mein: bald wird mich gar nicht mehr hungern und dürsten – und nicht mehr auf mich fallen Fröste des Schrecks, und keine Flamme der Anfechtung mich mehr ergreifen. Ich fühl' es, Geliebter, innerlich, obgleich mir äußerlich nichts anzusehen ist, es werde bald Amen mit mir seyn. – Glaub mir, ich bin mehr dort, wie hier; ich sehne mich nach meiner rechten Behausung! denn kann ich nicht mit Wahrheit sagen: Ich habe hier keine bleibende Statt gefunden, sondern die zukünftige such' ich? – Bald, bald wird man einen Todten heraustragen! – Was sollt' ich mich also grämen und wider Gott murren, der den Himmel ausbreitete[241] und die Erde gründete, und so groß er ist, doch auch meinen Schmerz wog? Warum sollt' ich murren und über die klagen, die den Nachlaß meiner Verwandten in Empfang genommen? Da ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht. – Er ließ mein Angesicht nicht zu Schanden werden, da mich v. E. und sein Botschafter sahen. Ich Elende rief, und es hörte mich der Herr und half mir aus allen meinen Nöthen. Der Engel des Herrn lagerte sich um mich her und schlug mit Blindheit, die mich greifen wollten. – Du kannst nicht glauben, Geliebter, wie froh ich bin, froh bei einem Todten! – Er ist entgangen, ich werd' auch entgehen. – Von ganzer Seele empfind' ich die Worte: Der Mensch lebt nicht vom Brod allein. – Ich habe so wenig Hunger, daß ich noch drei Tage ohne Essen und Trinken bleiben könnte. Ich schmecke und sehe, wie freundlich der Herr ist; wohl dem, der auf ihn trauet!«

Der Pfarrer in L – fand Minen verehrungswürdig. Er sah ihr an, was sie war. Er war mit einem gestärkten Auge zu ihr gekommen. Mit einem Anstande, frei wie die Tugend, erzählte ihm dieß liebenswürdige, frische und muntere Mädchen einen Theil der Geschichte ihrer Reise. Sie blüht wie eine Rose; allein sie fiel auch so hin, wie diese. Indem sie mit dem Prediger sprach, sank sie zur Erde. – – Vielleicht daß sie der Theil der Geschichte, den sie zurückbehielt, so angriff, vielleicht daß die Krankheit, wie es öfters geschieht, den Ruhepunkt, den sie abgewartet hatte, eben jetzt erreicht, um auszubrechen.

Mine bemerkte zwar, daß die Erscheinung des Herrn v. E. und seines Gesandten ihr ganzes Wesen bebend gemacht, und daß dieser Schreck sie mehr angegriffen, als alles – indessen half sie sich wieder aus. Jetzt aber war ihr Stündlein vorhanden. – Sie konnte nicht mehr. Sie sank: – o Gott, sie sank! – Es ist, glaubt mir, lieben Freunde, mit Leben und Tod eine besondere[242] Sache. Der Mensch bringt zwar die Ursache seines Todes mit auf die Welt – er stirbt an seiner Geburt – allein man könnte behaupten, daß der Tod immer, wie ein Dieb in der Nacht, immer wie ein Blitz komme, und daß man in gewisser Art jederzeit, und auch alsdann noch plötzlich sterbe, wenn man gleich an einer Lungenkrankheit stirbt. Der Eintritt dieser Krankheit ist alsdann der plötzliche Tod, und sobald diese Sterbenskrankheit eingetreten, sagt, leben wir wohl noch? – Wir hoffen doch? – Wir zweifeln, willst du sagen, und das ist wahrlich kein so glücklicher Zustand! Ein Hektikus, der in der Lebenshoffnung, wie man sagt, am stärksten seyn soll, ist er nicht schon immer todt? wenn gleich er dem Arzt entgegen hustet: »Heut befind' ich mich so leidlich!« – Was er nicht weiß, ist der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt. – Eigentlich ist er schon verschieden. – Was dünkt dich, frischer Jüngling, dich, blühendes Mädchen, was dünkt euch, die ihr dieses leset? Wenn euch beim Wort: sie sank, ein Schauder durchs Herz fuhr, denkt daran: so wird auch euer Tod kommen, so wird er eintreten. – Darum wachet, wachet! Jeder, so dieses Blatt liest, alt und jung! Ich beschwör' euch alle bei dem Gott, der an den Tag bringen wird, was im Dunkeln geschah, und der den Rath der Herzen offenbaren kann; ich beschwöre jeden, so dieses Blatt liest, heute, heute – heute – eine gute Handlung im Stillen zu thun; diese Handlung, wenn es möglich ist, vor sich selbst zu verbergen – damit sie im Sterben euch Lust zuwehe. Heute, Freunde, heute! folget mir – heute noch!

Der Selige war ein großer Liebhaber vom Vögelsang. Da er nicht mehr ausgehen und ihn im Freien hören konnte, hatte er verschiedene von diesen Sängern im Zimmer. – Ihr Gesang soll mich auch im Sterben nicht stören, pflegte er zu sagen. Es ist der Ausbruch der Freude und der Unschuld, es sind glückliche Geschöpfchen. Seine letzte Verfügung war: seine Vögel nach seinem[243] Tode ins Freie zu lassen. Zuweilen wünscht' ich, hatte er hinzugefügt, daß ich ihnen etwas im Testament legiren könnte – allein was würd' ihnen ein Legat gegen die weite und breite Welt seyn, die ihnen eignet und gebührt. Mine war bei der Erfüllung dieses letzten Willens, den der gute Pfarrer mit sehr vieler Empfindung befolgte. Nach den ersten Begrüßungen an Minen war dieß sein Geschäft. Sie brauchen kein Legat, sagte der Prediger, diese Weltbürger. Auf jedem Aestchen ist ihr Bette gemacht. Gott sey mit euch, fügte er hinzu, und ließ die Vögel fliegen.

Mine sank – der gute Prediger ermunterte sie; allein er ah, daß ihr das Herz gebrochen war – sie war nicht mehr. – Sie haben mich sterben gesehen, sagte sie zum Pfarrer. – Das hab' ich, erwiederte er. Der Bote des Friedens ließ sie nicht von seiner Hand und bat sie, mit ihm zu kommen. – Dieses nahm sie als Gottes Einladung an und dankte ihm herzlich für das Aestchen, das er ihr anbot. Mine war so schwach, daß sie sich gleich ins Bette legen mußte, sobald sie zum Prediger kam.

Laßt mich kurz seyn, lieben Leser, ihr könnt fühlen, nicht wahr? Ihr könnt es – wie mir ist; wenigstens hier und dort und da. Laßt mich abbrechen, und leset mehr als da steht.

Die Dulderin konnte selbst ihren Verwandten nur durchs Fenster begraben sehen. Da man ihn einsenkte, sank sie ohnmächtig hin, und mußte ms Bett getragen werden. – Sie sagte, da sie wieder zu sich selber kam, es wär' ihr im sanften Schlummer so vorgekommen, als trüge man sie selbst ins Grab. – Sie war zuweilen sehr unruhig, und blieb es so lange, bis sie dem rechtschaffenen Geistlichen ihren ganzen Lebenslauf gebeichtet und ihr schwer beladenes Herz gelichtet hatte. – Der redliche Mann stärkte und tröstete sie. Er billigte diese so engelreine Liebe, die lilienkeusche Liebe, wie er sie zu nennen die Güte hatte – und was man Minen an ihren gebrochenen Augen ansehen konnte, war da.[244]

Die Absolution des guten Predigers machte Minen munter. Dieß kann man auch bei einer großen Krankheit seyn. Man sah, daß ihr Geist heiter war und nicht zu seyn aufhören würde, wenn gleich der Körper dahin fiel. – Er war so sehr dem Körper überlegen, daß der Prediger mich versicherte, hieß wäre sein Beweis von der Unsterblichkeit. Ost, sagte er, hab' ich dieß gefunden, und noch öfter hätt' ich's finden können, wenn nicht die meisten Seelen im Concurs stürben und von so vielen Schuldnern überlaufen würden, die sie nicht befriedigt, so lange sie mit ihnen aus dem Wege dieser Welt waren.

Mine wollte die Communion, und zwar in der Gemeinde, empfangen. – Ich werde, sagte sie, darin schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist, und wie wohl denen auch dort seyn wird, die auf ihn trauen, ich werd' einen Vorschmack drin von dem himmlischen Manna finden. – Der Prediger setzte hierzu einen Tag an, und sie empfing die Communion mit zwölf Personen in ihrem Zimmer. – Diese Zahl kam ganz von ungefähr; indessen fiel sie Minen sehr auf. – »Gott, laß doch keinen Verräther unter diesen Zwölfen seyn!« Mine gab jedem von ihrer geistlichen Tischgesellschaft die Hand. – Wir sehen uns wieder, sagte sie. Die Danksagung, welche der Prediger aus der Agende nach der Communion las, sprach Mine laut und mit Seelenwonne mit. Die Tochter des Predigers, ein Mädchen von neunzehn Jahren, wollte durchaus sterben, da sie Minen so sterben sah. – Sie war immer um und bei ihr. Mine bat den Prediger nicht, mit ihr zu beten. – Dazu hatte sie keinen Geistlichen nöthig, obgleich sie den Prediger sehr gern um sich hatte. Sie sprach beständig mit ihm von Sterbenden, die er zum Tode vorbereitet hatte, und freute sich, wenn sie von Leuten hörte, die freudig aus dieser Welt gegangen, und deren Seelen so stark gewesen, daß man ihnen die Vollendung angesehen. – So was, sagte der Prediger, überzeugt. Man sieht in gewisser[245] Art Geister – und so, wie sie sich aus dem Körper herausschlauben, so werden sie sich auch zu seiner Zeit beim Weltgericht aus dem Staube machen. – Wenn Minchen allein war, ging sie im besondern Sinne mit Gott um. – Von langen Gebeten hielt sie nichts – auch in gesunden Tagen nicht. – Sie war, das sah man, das hörte man, ihrer Sache gewiß. Sie war im Himmel bekannt. Ich habe dort eine Mutter, die mir gewiß entgegenkommen wird, pflegte sie zu sagen, und dann wieder: Ich behalte denselben Gott in Curland, in Preußen, im Himmel! Ich verändere nicht den Beherrscher, sondern nur den Ort. Ich zieh' aus einer Provinz Gottes in die andere. Hier wohn' ich zur Miethe und dort werd' ich Eigenthümer seyn. – Es war rührend, sie sterben zu hören, sie sterben zu sehen.

(»O Gott, lehre mich bedenken, daß ich sterben werde, daß mein Leben ein Ziel habe, daß ich davon müsse! Lehre es jeden, der dich liest!«)

Auf einmal fiel es Minchen ein, mich noch zu sehen. – Da sie gewiß zu sterben gedachte, sprach sie von unserer Verbindung mit so wenigem Rückhalt, daß sie mich gegen den Prediger ihren Mann hieß. Der Prediger sprach auch von uns wie von Verlobten. Gretchen, die Tochter des Predigers, wußte einen großen Theil von meiner Geschichte; nur gegen die Predigerin war man zurückhaltend. – Man ließ sie selbst selten zu Minen, obgleich sie sich recht nach ihr sehnte. Sie neigte sich sehr zur Schwermuth, und man mußte alles entfernen, was diesem Temperamente Nahrung gab. Bei ihren letzten Wochen war einer von den drei Lindenbäumen, die vor dem Pastorhause standen, ausgegangen; dieß hatte sie sich so zu Gemüthe gezogen, daß vorzüglich jeder Lindenbaum sie gleich zum Tiefsinn brachte. Wenn die Linden blühten, war sie immer in Thränen. Die gemeinen Leute nannten es eine Lindenkrankheit. – Sie fand indessen auch in andern Vorfällen[246] Anlässe zur Traurigkeit und Nahrung für ihre Schwermuth. Die gute Pastorin hatte sich eingebildet, daß der Lindenbaum vor dem Pastorat, da er in ihrem Geburtsjahre gepflanzt worden, jetzo ihren Tod ankündige und ihr Vorläufer, ihr Johannes, seyn würde. Gewiß hat dieser Baum ihr Leben mitgenommen. – Sie weinte oft am heitersten Tage. – Der arme Prediger, welcher anfangs alle Mittel angewendet hatte diese Krankheit zu heilen, sah wohl ein, daß sie nicht heilbar wäre.

Oft mußte er ihr sogar die Bibel wegnehmen. Sie war nicht aus den Klageliedern Jeremiä, den sieben Bußpsalmen und der Offenbarung Johannis herauszubringen – und im Gesangbuche waren die Todten-und die Abendlieder ihre Sache. »So komm' doch auf einen grünen Fleck!« sagte der kreuztragende Prediger; allein sie blieb wo sie war. – Sie sah in jedem Grün die Linde vor ihrem Hause. Es war diesem Baum sein Taufattest, sein Pflanzjahr eingeschnitten, und also wußte sie gewiß, daß sie eines Jahres Kinder waren. – Zuweilen kam die Schwermuth der Frau Predigerin bis zu Ausbrüchen. Dann waren ihre Begriffe alle durcheinander.

Was meinen Sie, lieber Pastor, sagte Mine, soll ich ihn noch sehen? Ihre Gründe hatte sie jetzt alle aufgegeben. Der Prediger war für, der Arzt wider. Es war betrübt anzusehen. Sie wollte mit ihrem Arzt darüber sprechen; allein das konnte sie nicht. Sie hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewechselt. Er war sehr harthörig – und eines der Hauptübel, die sich bei Minen äußerten, war kurzer Athem und Brustschwachheit. Da man dem Arzt Minens Wünsche ins Ohr schrie, widerrieth er. Nichts, setzte er hinzu, was sie angreift! Der erste Blick ihres Freundes würde ihr letzter seyn. – Die geringste Spannung würde ihre Nerven in Stücke reißen.

Mine war es zufrieden, oder mußte es zufrieden seyn, da der[247] Prediger dem Arzt beitrat. Sie erholte sich, allein nicht zum Leben, sondern zum Tode, wie sie selbst bemerkte; indessen danke sie ihrem Arzt mit einem Händedruck. Zuweilen stand sie auf, sah nach dem Grabe ihres letzten Verwandten, ließ sich von fern die Gräber der Frau dieses frisch Begrabenen und ihrer Kinder zeigen. Sie waren alle mit einer kleinen, in die Höhe stehenden Tafel bezeichnet, worauf ein Spruch stand. Die Tochter des Predigers mußte sie lesen gehen und sie Minen erzählen – das Auge reichte nicht so weit.

Auf seiner Tafel standen die Worte, Daniel 12. V. 13: Du aber, Daniel, gehe hin, bis das Ende kommt, und ruhe, daß du aufstehest in deinem Theil, am Ende der Tage. – Er hieß Daniel.

Auf der Tafel seiner Frau, Hiob 7. V. 2, 3: Wie der Knecht sich sehnet nach dem Schatten, und ein Tagelöhner, daß seine Arbeit aus sey, also sind mir elender Nächte viel worden.

Auf dem Grabe der Tochter, Buch der Weisheit 3. V. 1: Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an.

Auf dem Grabe des Sohnes, 2 Samuelis 12. V. 23: Ich werde wohl zu ihm fahren. Er kommt aber nicht zu mir.

Mine eignete sich diese Denksprüche zu. Es war ihr Stammbuch, und jedes Grab brachte sie auf das Grab ihrer Mutter. Ost machte sie die Augen dicht zu, um, wie sie sagte, mit ihrer Seele in nähere Bekanntschaft zu treten und zu versuchen, wie es ihr nach dem Tode seyn würde. Zuweilen saß ich schon, so fuhr sie fort, wie ich noch lebte, wenn ich mich sehen wollte; ich machte eine Schlafende, um desto besser über die Fragen: Wo kommst du her? Wo willst du hin? Auskunft zu finden. Ich kehrte mein[248] Auge in mich, und ab von der Welt und von dem, was in der Welt ist. Da ließ ich mich denn nicht aus den Augen; ich konnte mir selbst nicht entlaufen, und welche selige Stunden habe ich auf diese Art zugebracht! Jetzt übe ich mich, auf gleiche Weise zu sterben. – Sie pflegte zu Gretchen, des Pfarrers Tochter, zu sagen: Da war ich über drei Stunden zur Probe todt.

Es war den – –, ein Tag, da sie sehr munter war, und da sie zu Gretchen sich ausließ: Mich dünkt, liebe Freundin, es geht mir, wie dem Könige Hiskias. Ich hörte die Stimme: Beschicke dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben bleiben, und nun geht der Schatten hinter sich zurück, zehn Stufen am Zeiger Ahas, die er war niederwärts gegangen. – Mine wollte nicht für sich, sondern für mich leben. Mine und Grete waren diesen Morgen froh mit einander; allein wahrlich eine kurze Freude! denn Mine und das ganze Haus hatten einen Schreck, der Minen auch den letzten Herzensrest gab.

Um die Sache in ihrem Zusammenhange zu zeigen, müssen wir aus diesen Vorhöfen des Himmels in die arge, böse Welt zurück.

Alle Boten zu Wagen, zu Pferde und zu Fuß, die Herr v. E. ausgesandt hatte, kamen ohne Minen zurück; allein nicht ohne Spuren, welchen Weg sie genommen. Es war völlig klar und deutlich ausgemittelt, daß sie in L – bei ihren Verwandten sich aufhielt. Hermann, wie es sich von selbst versteht, hatte zu dieser Klarheit und Deutlichkeit einen Familienbeitrag geliefert. Er stand als ein Gefängnißwärter, der eine Staatsverbrecherin entfliehen lassen; indessen begegnete ihm Herr v. E., der zu seinen Absichten noch auf Hermann mehr als einen Anschlag in petto hatte, leidlich – das heißt, er schlug ihm nicht vor'n Hals, er spie ihm nicht in's Gesicht, hob seinen Fuß nicht auf wider ihn.

Was ist zu thun? frug Herr v. E. Das ganze Haus, und[249] niemand wußte, was zu thun wäre. Endlich fiel es ihm ein, ein Gutachten von ein Paar Rechtsgelehrten, die ihren Schnitt verstanden, für Geld und gute Worte einzuziehen. Diesen zweien ward noch einer zugesellt, um die Sache von allen Enden zu fassen. Herr v. E. dirigirte. Die preußischen Staaten hat uns der Teufel zur Nachbarschaft zugemessen, sagte Herr v. E. Aus der Hölle ist keine Erlösung, setzte einer von den dreien hinzu.

Das consilium juridicum eröffnete seine Session. Hermann war Beisitzer. – Die Sache mußte in höchster Eile getrieben werden. Einer der Rechtsgelehrten, der, wie er selbst zu bemerken die Ehre hatte, sich in allen Fällen am Kopf zu halten gewohnt sey, schlug vor, an den König selbst zu schreiben. Er ist das in Preußen, was Ew. Hochwohlgeboren auf Ihren Gütern sind, setzte Hermann hinzu. Herr v. E. war, für dieses Compliment in höchsten Gnaden dem Hermann wohl beigethan. Die andern zwei Rechtsgelehrten, die sich nicht so sehr am Kopf zu halten gewohnt waren, brachten ein Anschreiben an die Landesregierung in Königsberg in Vorschlag, mit welcher die curische Regierung in freundnachbarlichem Vernehmen, wie sie nach der Liebe hofften, stünde. Dieses Votum ging durch. Der Thron bleibt uns – sagten sie alle, bis auf den Kopfhalter. – Wenn Ew. Hochwohlgeboren, fing derselbe, oder Herr α (ich will die drei Rechtsgelehrten mit ihrer Erlaubniß α, β, γ nennen), nach einer Weile an, nur innerhalb vierundzwanzig Stunden von ihrer Flucht Nachricht eingezogen –

Wenn, sagte Herr β.

Und wenn, Herr γ.

Der Edelmann hat in Curland das Recht, wenn ihm sein Unterthan entlauft, ihn innerhalb vierundzwanzig Stunden zu nehmen, wo er ihn findet, und Hand an ihn zu legen auf jeglichem Boden. Nach der Zeit wird der Unterthan gerichtlich gefordert,[250] doch wird stehenden Fußes obtorto collo verfahren, und geht's hiebei eins, zwei, drei; wie denn das Recht der Wiederforderung, obschon der Menschen Leben siebzig und, wenn's hoch kommt, achtzig währt, allererst in hundert Jahren verjährt.

Das hochweise Consilium sah Minen als eine Unterthanin des Herrn v. E. an, und niemand fiel ein Wort zum Widerspruch ein. Der Literatus Hermann, pro tempore Assessor, wollte – allein konnt' er? Man disputirte in die Kreuz und die Quere. Herr α, der sich gewöhnlich am Kopfe hielt und der sich das Ansehen gab, als säße er unter einem Baldachin, und einer von seinen Kollegen ihm zur Rechten, und der andere ihm zur Linken, schüttete so viel Gelehrsamkeit über die Rückforderung der Unterthanin aus, daß die Städte bei dieser Gelegenheit übel wegkamen, wie gewöhnlich in Curland.

Herr β nahm sich der Städte an; indessen sah man nach vielen Streifereien in andere, wiewohl mit den gegenwärtigen verschwägerte Materien, wie Herr α sich ausdrückte, ein, daß die Städte in Curland gar nicht zum Gutachten gehörten, indem von Preußen die Rede sey.

Ich besitze eine Abschrift des bei diesem Blutgerichte geführten Protokolls. Herr α brachte, des Kopfes wegen, in Vorschlag, daß das Pro und Contra bei dieser Sache genau verzeichnet werden möchte, und eben dieser Vorschlag des Herrn α würde mich in Stand setzen, eben so ganz, als ich diese Verhandlung empfangen habe, sie meinen Lesern mitzutheilen, wenn das meiste in diesem Protokolle nicht Dinge wären, die ganz und gar keine Beziehung auf den gegenwärtigen Fall haben. Juristische Hobelspäne. – Wozu die kunsterfahrnen Einschaltungen: wie es mit dem Großherzogthum Litthauen und mit Liefland ehemals in dergleichen Angelegenheiten gehalten worden und jetzt gehalten werde? welches der Protokollist alles getreulich und sonder Gefährde mit einverzeichnet.[251] Der gelehrte α hatte ihm befohlen, nichts auf die Erde fallen zu lassen, was sie quirlen und nach Beschaffenheit kochen würden, und dieß war die Ursache, warum der Protokollist ganz fremden, zur Sache nicht zweckenden Materien das Gastrecht in seinem Protokoll angedeihen ließ. Herr – (so hieß der Protokollist) war damals ein junger Mensch, der durch diese Proben wie Gold geläutert und bewährt werden sollte, und ist jetzt – mein Rechtsfreund. – Außer den Protokollen hab' ich viel von ihm mündlich. – Aus allem nur ein Extract.

Es ward ein Gesuch beliebt, kraft dessen Mine als eine Unterthanin vindicirt werden sollte. Auf einmal fiel es dem ganzen Concilio, wie es sagte, zum Glück ein, daß die Sache, ob und in wie weit Mine wirklich Unterthanin sey, sehr leicht zur nähern Untersuchung in Preußen fortgesetzt werden könnte, wenn man sie (und was ist gewisser?) in Preußen über ihren Statum befragen würde. Ei dann, sagte Herr α, ei dann β, ei dann γ, und ei dann der Beisitzer dieses Conciliums, der sich herzlich freute, daß seine Tochter ohne sein Zuthun emancipirt war.

Herr α wünschte, seinen Gedanken, denen er ob periculum in mora Zaum und Gebiß anlegen mußte, freien Lauf lassen zu können. In obscuro libertas praevalet, l. 5. ff. de fideic. libert. und Favor libertatis saepe benigniores sententias exprimit, lib. 32. in f. ff. ad L. Falcid. Er war im Begriff, noch mehr für die Ehre der Freiheit anzuführen, wovon ein rechtskräftiges oder rechtsgestärktes Auge auch selbst im monarchischen und seinem Gränznachbar, im despotischen Staat schöne Ruinen finden würde; allein Herr v. E., als Präsident dieses Collegiums, bat, weil es ein agonisirender Fall wäre, um ein geschwindes Recept – welches Herr β und Herr γ, die dem gelehrten Herrn α nicht gleich thun konnten, auch sehr nothwendig fanden. Der völlige[252] Abschluß war folgendes Gesuch, das in pleno bis auf die letzten Kleinigkeiten ins Unreine und ins Reine gebracht ward:


Durchlauchtigster Herzog!

Gnädigster Fürst und Herr!


Das Ableben meines Vaters legte meiner Mutter, der – v. E., gebornen v. R., die Verbindlichkeit auf, die Sorge für seine beträchtlichen Güter eine geraume Zeit zu übernehmen, denn meine auswärtigen Verbindungen ließen mich nicht eher als jetzt den Wünschen meines Herzens genügen, um mein Vaterland wieder zu sehen, das ich auch selbst auf allen meinen Reisen nicht verlassen hatte. Wie glücklich dünkte ich mich zu erfahren, daß Curland als frei und gerecht weit und breit bekannt ist. Diese großen Eigenschaften meines Vaterlandes nehm' ich bei einem Vorfall in Anspruch, der, so klein er beim ersten Ueberblick erscheint, ins Große übergehen könnte. Meine Mutter, ich muß es ohne Rückhalt gestehen, hatte durch ihre Gelindigkeit die den Gütern Angehörigen von genauer Erfüllung ihrer Pflichten abgebracht, anstatt daß diese meiner Mutter eigene Denkungsart ihr die Herzen aller Unterthanen zuziehen sollte. Besonders gab eine gewisse Wilhelmine – – durch unerträglichen Stolz und Ungehorsam ein so schlechtes Beispiel, daß, da meine Ermahnungen nichts bewirkten, ich ihr drohen mußte. Diese wohlgemeinte Bedrohung, die in den Gränzen der Worte blieb, und gewiß nicht anders als im höchsten Nothfall weiter herausgerückt seyn würde, brachte die besagte Person so sehr aus allen Schranken des Gehorsams und der Verbindlichkeit, daß sie es für gut fand, flüchtigen Fuß zu setzen und ein höchst nachtheiliges Exempel zurückzulassen. Hierbei blieb es nicht, sondern es lehrt die Anlage, daß besagte Wilhelmine noch mehr Pflichten durch eben diesen Austritt verletzt, indem sie diebischer Weise verschiedene Sachen an sich gebracht, welche sie theils verkauft, theils leibhaftig oder in natura mitgenommen.[253]

Das Corpus delicti bei diesem Diebstahl ist wohl ganz unstreitig bewiesen, da wegen der geschehenen Entwendung und der dabei beabsichtigten Gewinnsucht alles entschieden ist; die künftige mit der Läuflingin zu haltende Untersuchung wird die Größe des Diebstahls noch genauer begränzen, indem vorderhand nur ohne alle Nebenrücksichten die Frage seyn kann, ob Wilhelmine – eine Diebin sey? Die Flucht der besagten Person würde dem angeschlossenen Protokoll noch einen Grad der Gewißheit ertheilen, wenn noch mehr Gewißheit erforderlich wäre und die Sache nicht schon an sich da und offen läge. Denn was ist auffallender, als daß Wilhelmine – –, welche wenige Tage, nachdem sie die Sachen verkauft, entsprungen, bloß aus Furcht vor der Strafe sich entfernt, zu diesem Behuf abgelegene Straßen gesucht und den Weg nach Preußen genommen? Der Umstand, daß ihr Begleiter sogar den Martin Jakob Kegler mörderischer Weise ums Leben bringen wollen, erschwert ihr Verbrechen so ungemein, daß man die Tücke des Herzens dieser Unglücklichen im ganzen häßlichen Umfang erblickt. Ein wohlgeführtes Leben ist für die Unschuld ein alles überredender Vertheidigungsgrund, und wenn selbst nach einem viele Jahre her geführten guten Lebenswandel jemand wegen eines Verbrechens in Anspruch genommen wird, ist und bleibt der vorige gute Lebenswandel ein unbezweifelter Linderungsgrund.

Ludovici de praesumt. bonitat.

Wenn aber der Lebenslauf des Bezichtigten wider ihn das Wort nimmt und eine Kette von schlechten Aeußerungen ist, kann da ein An- und Sachwalt eine Vertheidigung, ich will nicht sagen unternehmen, sondern auch selbst wagen? Wilhelmine – – ist eine so boshafte Person, daß sie mit der Besserungsaussicht präcludirt zu seyn scheint. Es sind selbst schwerlich, wenn ich mich hier dieses Ausdruckes bedienen darf, gute Stunden, heitere Abwechslungen, dilucida intervalla, von ihr zu erwarten. Damit[254] ich indessen Ew. Durchlaucht nicht zu beschwerlich werde, so sey es mir erlaubt, meinem eigentlichen Gesuch näher zu treten. Es ist die mehr besagte Wilhelmine – – nach Preußen geflüchtet und hält sich in L – im – schen bei ihren Anverwandten, Namens – –, auf. Ich ersuche also Ew. hochfürstliche Durchlaucht unterthänigst gehorsamst, die preußische Landesregierung zur Noth-und Rechtshülfe zu ersuchen: besagte Wilhelmine – – nach Sicht dieses nachbarlichen Requisitorialausschreibens dingfest zu machen und unter Bedeckung bis an die Gränzstadt Memel gefälligst auszuliefern, wo ich sie entgegenzunehmen und wegen des Gewahrsams die erforderlichen Einrichtungen zu treffen nicht ermangeln werde.

Dieses Gesuch bedarf keiner Unterstützung in Rücksicht der preußischen Regierung, denn obgleich, wie es die Archive nachweisen, in altern Zeiten Bauernforderungen zwischen Preußen und Curland vorgefallen, so ist doch nach der Zeit keine Nachfrage weiter deßhalb vorgefallen. Der curische Landtagsabschied von 1624 setzt im §. 23 fest: »Wir wollen auch alle fremden Bauern ausantworten, welches eine edle Ritter- und Landschaft ebenmäßig zu thun verbunden, ausgenommen welche über dreißig Jahre nicht abgefordert und verjähret worden,« und so wie ich Ew. Durchlaucht tiefunterthänigst anflehe, diese Stelle mit der Urschrift gegeneinanderhalten und als stimmig vergewissern und attestiren zu lassen, so werden Ew. Durchlaucht auch der königlichen Landesregierung in Königsberg die Versicherung, wenn sie erforderlich wäre, ertheilen, daß nach diesem Abschiede verfahren und vorzüglich die preußischen Läufer ohne Anstand ausgeliefert worden, wovon sowohl der Stadt Memel als dem königlichen Amte Althof-Memel Beispiele bekannt seyn werden. Die Seltenheit der Fälle entscheidet nichts zu meinem und zu Curlands Nachtheil, denn die preußischen Gränzen sind besetzt und so geschlossen, daß selten ein Läufling sich durchzudringen Gelegenheit findet.[255]

Wenn diese Auslieferung indessen schon bei Bauern von curischer Seite beobachtet wird, so werd' ich um so mehr bei einer Diebin, Störerin allgemeinen Ruhe, ja selbst einer Mordanführerin auf diese Rechtshülfe Anspruch machen können.

Es ist eine Sache der Menschheit, dergleichen Verbrechen zu strafen, und ohne mich in einen Streit einzulassen, was für ein forum das vorzüglichste sey, ob das des delicti, des domicilii oder deprehensionis, so ist wohl offenbar, daß Preußen keines von allen dreien ist, sondern allererst durch das Angesuch Ew. Durchlaucht bewogen wird, die Wilhelmine – – dingfest zu machen, so daß also diese Deprehension Namens Ew. Durchlaucht geschieht; und was ist wohl angemessener, als da das Verbrechen zu untersuchen, wo es vollbracht worden? Hier bieten alle Umstände dem Inquirenten die Hand, und würde man nicht selbst dem Endzweck der Strafe entgegenhandeln, wenn man an einem mit dem Verbrechen unbekannten Orte die Strafe vollziehen wollte? Bei diesen sehr auffallenden und in gesitteten Staaten allgemein beliebten Grundsätzen bin ich der Erhörung meines Gesuchs gewiß und könnte mit der vollkommensten Zuversicht schließen, wenn ich nicht noch unterthänigst gehorsamst bemerken müßte, wie außer den bezeichneten Lastern, die der Wilhelmine – – natürlich geworden, die Liebe zu Unrichtigkeiten mit gehört, welche ohnehin beständig, sowie mit allen Lastern, so vorzüglich mit der Dieberei in Gesellschaft zu treten pflegt. Wenn also ein Verhör mit ihr veranlaßt werden sollte, so würde ihre Verschlagenheit, die alle Gestalten sich zuzueignen versteht, der Sache ganz andere Wendungen beilegen. Dieses zwingt mich zu einer Beischrift meines unterthänigen Gesuchs: die königlich preußische Landesregierung zu requiriren, die Wilhelmine – – ohne alle Weitläufigkeiten einzuziehen und zu transportiren.

Der Einfluß, den dieser ins Publikum dringende Vorfall auf[256] meine Güter hat, ist unaussprechlich, und kann nur dadurch den Fremden, die unsere Landesart nicht kennen, begreiflich gemacht werden, daß die Letten, so wie alle begränzte, eingeschränkte Menschen, mehr nach Exempeln als nach Grundsätzen leben.

Damit allendlich wegen der Person der Wilhelmine – – keine Irrung entstehe, ist selbige in Absicht ihres Körpers das Gegentheil von dem, was man gewöhnlich nennt, ihr Wuchs selbst ist zwei Finger breit über das Gewöhnliche, den gang und gäben Weiberwuchs. Sie hat nichts Kleinigliches und nichts Kindisches, sondern gränzt aus Männliche, allein es ist demungeachtet nichts männlich an ihr. – Sie ist schlank, sehr gesund, roth und weiß, hat schwarzes Tint-, allein nicht Zigeunerhaar, große, stimmige, schwarze Augen, wo aber nichts Gutes wohnt. In der Mundgegend, die Zähne nicht ausgenommen, liegt Spott und Hohn. Ihre Sprache ist klingend, ihr Gang kräftig und entschieden. Sie sieht mehrentheils aus, als ob sie Kreuz trüge; allein sie ist eine Heuchlerin und Spitzbübin von Haus aus.

Die mir durch die Willfahrung meines auf Gleich und Recht sich gründenden Gesuchs zu erzeigende landesväterliche Huld, Gnade und Gerechtigkeit werd' ich lebenslang verehren, und niemals aufhören, mit so viel Ehrfurcht als Treue zu seyn

Ew. hochfürstlichen Durchlaucht

unterthänigst gehorsamster

v. E.


Actum – – den – –

Des Herrn v. E. auf – – Hochwohlgeboren erklären, wie sehr entfernt Sie wären, gleich bei dem Antritt der väterlichen Erbgüter auch nur durch eine anscheinende Härte sich die Zuneigung und Liebe Ihrer Unterthanen zu entziehen, und stellen den leiblichen Vater der entlaufenen Wilhelmine – – vor Gericht, um wegen ihrer strafbaren Aufführung gewissenhafte Anzeige zu thun.[257]

Es wird bemerkt, daß man den Vater, der Gewohnheit gemäß, zu seiner Anfrage rechtlich vorbereiten und mit einem Eide belegen wollen. Der Herr v. E. indessen bittet bei dieser Gelegenheit, den so betrübten Vater, insoweit es rechtlich bestehen könnte, zu schonen. Soviel fällt sehr auf, daß ein leiblicher Vater das Verbrechen der Tochter nicht vergrößern werde, und würde also nur bloß zu besorgen seyn, daß er aus väterlicher Neigung vielleicht zu wenig anbringen und der Sache einen Anstrich zuwenden dürfte. In dieser Rücksicht wird dem Publiko sein Recht bei der künftigen nähern, hier mit der Wilhelmine – – anzustellenden Untersuchung ausdrücklich vorbehalten und der höchst betrübte Vater vorgelassen.

Er heißt – – –, ist achtundfünfzig Jahre alt, lutherischer Religion. Der gegenwärtige Fall drückt ihn so schwer, daß er nicht aus noch ein weiß. Seine Tochter Wilhelmine – – hat von Jugend an einen Trieb zur Widerspenstigkeit geäußert, und sowohl ihm als seiner verstorbenen Ehegattin viele betrübte Tage zugezogen. Ihr Wortauffang, ihre Spitzfindigkeit, ihre Griffe und Hinterhalte konnten einem gutgesinnten Vater freilich keine Freude machen, wozu die Ungerathene es auch nie anlegte. Nach dem Tode seiner Ehegattin äußerte sie den Trieb zur Unregelmäßigkeit noch näher, vorzüglich empörte sie sich wider eine Heirath, die er zu unternehmen mit Hülfe Gottes entschlossen. Diese und andere Umstände hatten den Comparenten nothgedrungen sie im Hofe zu – – anzubringen, wo sie, anstatt sich die gnädige Zuneigung der hochwohlgeborenen Herrschaft zu erwerben, sich auf eine strafbare Art führte. Ich habe nicht verfehlt, sie väterlich zu ermahnen, so vielen unverdienten gnädigen Gesinnungen nicht entgegen zu seyn, bemerkte der Vater (um seine eigenen Worte beizubehalten), allein diese Zusprache wollte nicht Platz greifen. Güte wiegelte sie noch mehr auf, bis sie, dem zurechtbeständigen Contract zuwider, der mit[258] der hochwohlgeborenen Gutsherrschaft verabredet, getroffen und geschlossen ist, das Weite suchte, nachdem sie vorher ihre Hände nach unrechtem Gute ausgestreckt und verschiedene Sachen und Baarschaft, Geld und Geldeswerth diebischer Weise mitgenommen.

Comparent zeigt ein Verzeichniß vor und verbindet sich, solches bei der künftig wider seine Tochter zu eröffnenden Untersuchung zu den Akten zu legen.


* * *


Es wird dem Comparenten aufgegeben abzutreten, allein vo dem Abschluß des gegenwärtigen Verhörs sich nicht zu entfernen.

Das Verzeichniß der entwandten Sachen bleibt in richterlichen Händen, um davon bei diesem Verhör Gebrauch zu machen.


* * *


Ob es gleich aus dieser väterlichen Anzeige schon vollständig erhellt, daß mehr besagte Wilhelmine

a) als eine Dienstpflichtige, sich selbst zur wohlverdienten Strafe und andern zum schreckenden Beispiel, dingfest zu machen, nicht minder, daß Wilhelmine

b) unstreitig als eine Diebin zu nehmen, die nicht als eine ausgetretene Person etwa bloß der Dieberei bezichtigt worden, sondern deren Diebstahl völlig am Tage ist, so sind doch, um die Sache noch mehr zu ergründen, einige Zeugen wegen der Dienstflicht der Wilhelmine – – und ihrer Dieberei vernommen.

Des Herrn v. E. Hochwohlgeboren benahmen eine lange Reihe von dergleichen Zeugen, wovon aber nur einige zum Verhör vorgelassen werden. Der erste unter diesen Ausgewählten ist: Johann Peter Beifuß, von welchem, nachdem er wohl ermahnt worden, die reine Wahrheit zu sagen, folgendes vorschriftsmäßig zum voraus bemerkt wird: Er heißt Johann Peter Beifuß, ist ein Deutscher, und steht in Diensten Sr. Hochwohlgeboren des[259] Herrn v. E. Sein Alter ist siebenunddreißig Jahre und seine Religion die lutherische. Zur Sache.

Wilhelmine – – hat ihrer Geburt nach nichts Solideres erwarten können, als die Lage, in welche sie ihr Vater gebracht; indessen war ihr störrisches Betragen so unausstehlich, daß wohl sonst schwerlich jemand anders, als eine so gut denkende gnädige Herrschaft so nachgebend seyn könne. Man gab, so vieler Hintergehung unerachtet, nicht alle Hoffnung auf, sie auf den rechten Weg zurückzulenken, dem aber die Läuferin bei aller Gelegenheit auswich. Von ihren ersten Lebensjahren ist dem Zeugen zwar nichts Genaues bewußt, indessen war Wilhelmine – – als eine dem Stolz und Eigensinn ergebene Person jederzeit bekannt, die Flitterstaat und Frechheit liebte; wie denn bei dem unerwarteten Tode ihrer Mutter die Rede gefallen, daß sie selbige ins Grab geärgert. Comparent besinnt sich sehr genau, wie Wilhelmine – – bei dem Begräbniß ihrer Mutter so leichtsinnig gewesen, daß sie, anstatt ihre Augen auf den Sarg zu heften, mit selbigen herumgeschweift und flankirt, auch solche zum allgemeinen Aergerniß einem jungen Menschen zugebracht, mit dem sie einen unanständigen Verkehr getrieben. Comparent steht an, diesen jungen Menschen zu nennen, obgleich die Sache an sich jedermann, Jung und Alt bekannt seyn soll. Die Steine würden schreien, fügte er hinzu, wenn nicht jedermann, Jung und Alt, in – –, wo die Läuflingin zu Hause gehört, reden sollte. Ich selbst, fährt er fort, bin ein Augen-und Ohrenzeuge gewesen, wie Wilhelmine – – den gnädigen Ermahnungen des Herrn v. E. Hochwohlgeboren widerstand, die doch nichts als ihr wahres Heil bezweckten.

Mit ihrem leiblichen Vater lebte diese heillose Wilhelmine – – in einer ärgerlichen Feindschaft. Der ehrliche Mann, der auch am besten weiß, wo ihn der Schuh drückt, wollte zur zweiten Heirath schreiten, allein Mine vertrat ihm den Weg; das machte[260] in der ganzen Gemeinde gwaltiges Aufsehen, indessen ging es ihr vor genossen aus, und sie kam jetzt und immer ungeschlagen davon.

So viel weiß Zeuge gewiß, daß die Ermahnungen des Herrn v. E. Hochwohlgeboren an die Entwichene von keiner Härte begleitet gewesen, und daß der Zwang sie vielleicht weit eher in das Verhältniß gebracht haben würde. Sie hätt' einem jeden als eine solche geschienen, die fühlen müßte, weil sie nicht hören wollte. Ihr Beispiel hat sogar viele von ihrem Gelichter zu einem gleichen Aufruhr gegen die Wohlmeinung des Herrn v. E. Hochwohlgeboren gelenkt, der nur eben die Güter angetreten und die Liebe selbst wäre.

Sonst sey die Flüchtlingin nicht uneben, wende aber sowohl Geistes- als Leibesgaben nicht zum Nutzen des Nächsten an, wie aus dem Obigen sich ergeben würde.

Nichts sey zuverlässiger, als der Diebstahl, oder die Diebstähle, denn schwerlich könnte die Läuflingin aus einmal so viel entwendet haben. Wer weiß es nicht, fährt Comparent fort, daß sie im Dorfe viele gestohlene Sachen versilbert und daß sie eine Menge Sachen in Päcken mitgenommen? Den eigentlichen Werth des Diebstahls kann Comparent zwar nicht abwiegen, indessen glaubt er, daß, ohne viele Stücke nach dem Lieblingswerth zu würdigen, der Diebstahl wohl einhundert Reichsthaler Albertus wiegen und betragen könnte. Comparent bedient sich des Ausdrucks, da er die Verschlagenheit der Wilhelmine – – und ihre Verkleisterungs- und Verflechtungskunst beschreiben will, sie sey verstandflink und versichert, daß sie sich in einen Engel des Lichts lügen und ausstaffiren könnte, welches zur Steuer der Wahrheit mit verzeichnet wird. Auf die Frage: ob und in wie weit Comparent Leute namhaft zu machen wüßte, denen Wilhelmine – – Sachen verkauft? erwiederte er: Ich kann viele nennen.

Die Amtmännin – – und die Schwester dieser Amtmännin,[261] ein noch unverheirathetes Mädchen, fallen ihm urplötzlich ein. Es ist so gewiß, als irgend etwas seyn kann und als meine Aussage ist, sagt Comparent, daß Wilhelmine – – längstens Handel und Wandel getrieben; wo war' auch ihr Prunk hergekommen, wenn es nicht unrichtig zugegangen wäre? Es wird dem Comparenten wörtlich seine Aussage vorgehalten, welche er in allen Punkten sich zueignet. Von den Umständen der Flucht weiß Beifuß nichts Zuverlässiges; indessen gibt er an, wie Kegler hiervon vollständig unterrichtet sey, indem er ihr auf Hochwohlgebornen Befehl nachgesetzt, und überläßt es der Erkenntniß, ob und in wie weit dieser Martin Jakob Kegler noch zum Verhör zu ziehen seyn werde?

Martin Jakob Kegler wird vorgefordert, wohl ermahnt, die reine, klare Wahrheit auszusagen und solche nicht zu lassen, um Liebe ober Leid, um Freundschaft oder Feindschaft, um Geschenk oder Gabe und um keinerlei Ursache willen. Vorläufig wird bemerkt, daß Comparent Martin Jakob Kegler heiße, im Hofe wird er Jakob genannt. Er ist im Dienste Gr. Hochwohlgeboren des Herrn v. E. Seine Religion ist die lutherische. Alt ist er fünfundzwanzig Jahre. In Rücksicht der Sache selbst stimmt er in seinen Aussagen mit dem Beifuß pünktlich, außer daß er wegen der Flucht der Wilhelmine – – noch folgende Umstände nachträgt:

Es ward ihm aufgegeben, die Flüchtlingin einzuholen, nachdem ihre Flucht und ihr großer Diebstahl zu jedermanns Wissenschaft drang. Nach einigen fruchtlosen Bemühungen war er wirklich so glücklich, sie auf der Flucht zu erspüren und zu bezirken, da indessen sein Auftrag sich nicht weiter erstreckte, als die Läuflingin gütlich zur Rückkehr zu bequemen, blieb er bei der Verfolgung dieser Läuflingin unbewaffnet. Sobald er sie traf, machte sie einen Schrei, welcher ihm zwar sehr auffiel, indessen hätt' er sich eher den Tod, wie er bemerkt, als die Folge vorgestellt, welche dieser Schrei wirklich gehabt; denn es war ein Hülfs-und Nothzeichen, und sogleich[262] stürzte eine starke Mannsperson auf ihn zu, mit einem Messer, mit welchem er den Comparenten nicht etwa bedrohte, sondern er stürmte los auf ihn, und würd' ihm auch wirklich auf der Stelle das Leben genommen haben, wenn er sich nicht zu retten gesucht hätte. Wilhelmine – – forderte diesen Mörder mit Geberden und Worten auf, setzte Comparent hinzu, mich zu verfolgen, indessen war mein Pferd aller dieser Bemühung überlegen. Dieser unglückliche Vorfall brachte den Comparenten nicht ab, der Flüchtlingin nachzusetzen, vielmehr sprengte er ins nächste Dorf, um sich zu verstärken. Er hatte Mühe, wegen der Feldarbeit, ein paar Männer für Geld und gute Worte zu Stande zu bringen. Er ritt mit zwei herzhaften Begleitern – wir alle drei, wie die Bären, sagte er, allein Wilhelmine und der Mörder (anders kann ich ihn nicht nennen) waren nicht aufzufinden – ihre Stätte war nicht mehr. – Wir ritten in die Kreuz und Quere, bis in die sinkende Nacht hinein. Auf die Frage: in welchem Verhältniß Comparent den Mörder gegen Wilhelminen gefunden, und was sich eins gegen das andere angemaßt? erwiederte er, um seine eigenen Worte beizubehalten: Ich halte diesen Kerl für nichts weniger als ihren Liebhaber, wohl aber für einen, den der Liebhaber gedungen haben könne, ihr sicher Geleit zu geben. Unfehlbar schlief Mine, da ich sie entdeckte, und schon die Entfernung des Mörders bei dieser Gelegenheit beweist meine Meinung.

Ob Wilhelmine zu Wagen, zu Pferde oder zu Fuße gewesen, weiß Comparent nicht anzugeben, der sehr bedauert, daß Se. Hochwohlgeboren ihm, dieses Vorfalls wegen, einen großen Theil des vorigen gnädigen Zutrauens entzogen, so daß ihm, wenn selbst er ein Schuldgenosse, Mitgehülfe und Theilhaber von dieser Läuflingin gewesen, nicht ungnädiger begegnet werden könnte, indem Güte und Wohlwollen die Hauptzüge an Sr. Hochwohlgeboren waren. Seine, des Comparenten, Wünsche, die er mit gefalteten[263] Händen thut, gehen dahin, daß Wilhelmine – – als eine Landstreicherin, Diebin und Mordbefehlshaberin dingfest gemacht und zur Bestrafung eingeliefert werden möchte, und daß alsdann nicht Gnade für Recht ginge, wie er aber, nach der Milde Gr. Hochwohlgeboren, nach vielen belebten Datis, befürchten müßte.

Nachdem dem Comparenten seine Aussage wörtlich vorgelesen worden und er ihr in alle Wege beigestimmt, ward er abgelassen.

Bei der kleinsten Nachfrage findet sich vor, daß Wilhelmine – – weit und breit gestohlene Sachen verkauft. Um die Akten nicht ohne Noch zu häufen, schränkt man sich auf die laudirte Amtmännin und ihre Schwester ein, welche bei allen Anstrichen und Bemäntelungen, die sie der Sache zuwenden, jedoch so viel unverdreht eingestehen, daß sie Wäsche und Kleider wenige Tage vorher, da Wilhelmine entsprungen, gekauft. Sie versichern, daß sie auf keinen bösen Gedanken verfallen, da Wilhelmine – – schon sonst Kopfputz und andere Stücke ihnen käuflich überlassen. Dießmal, sagt die Amtmännin, war das erstemal, daß sie nicht unmittelbar mit uns handelte, sonst geschah es nie durch die dritte Hand, sondern vor aller Welt, Augen und Ohren und allen andern Sinnen. – Dießmal war das erstemal, daß die Sachen unter der Vorspiegelung zu uns gebracht wurden, die Person, welcher diese Stücke als Eigenthümerin zustünden, sey in Geldverlegenheit und nothgedrungen, hieß und das auszustoßen. Beide, sowohl die Amtmännin als ihre Schwester, bekennen, aus vielen Umständen bemerkt zu haben, daß Wilhelmine – – bei diesem Verkauf unter der Decke spiele, gewiß aber, fügen sie hinzu, wußten wir's nicht. Sie bitten inständigst es zu vergünstigen, daß sie diese Sachen, da sie solche nicht unter dem Werth berichtigt, behalten und nicht auszuantworten mögen angewiesen werden.

Nebenumstände findet man nicht nöthig diesem Protokoll einzuverleiben,[264] welche diese beiden letzten Personen, nämlich die Amtmännin und ihre Schwester, eingestreut.

Alle Brödlinge des Herrn v. E. Hochwohlgeboren treten den Aussagen des leiblichen Vaters der Läuflingin bei und bekunden, daß diese Wilhelmine – – ein verhärtetes, verdorbenes Herz besitze, und sich durch die gnädigsten Verheißungen der hochwohlgebornen Gutsherrschaft, sie auszustatten und den Kranz zu bezahlen, nicht auf andere Wege lenken lassen; wie sie denn geflissentlich, vorsätzlich und arglistig Zwistigkeiten, Irrungen und Verschiedenheiten erregt, die klarsten Dinge verflochten und verdreht. Mit diesen Gesinnungen vereinbarte sie auch obenein die verteufelte Schadenfreude, so daß um die Sache kurz zu fassen, diese Person, welche schnöde zu handeln sich zur Gewohnheit gemacht und, ihres Blendwerks von Gesicht unerachtet, den Satan im Herzen gehabt, Untersuchung und Bestrafung verdient Es strahlt aus vielen Umständen hervor, wenn es gleich nicht durch äußere Kundgebung an den Tag gelegt worden, daß Wilhelmine – –, falls sie nicht anders ihre Absichten erreichen können, sich aus einem Mordmesser kein Gewissen gemacht haben würde.

Der Vater der Unglücklichen ward noch vor dem Abschluß dieses Protokolls vorgelassen, welcher vor Wehmuth sich nicht zu bergen weiß. Da ihm indessen von Sr. Hochwohlgeboren, seinem gnädigen Gönner, ein Wort des Trostes verehrt wird, so beruhigt er sich in der Hoffnung, daß, da er sehr leicht selbst in seinem guten Ruf durch diesen Vorfall leiden könnte, allererst die künftige auszuübende Strafe an seiner entlaufenen Wilhelmine Vater und Tochter unterscheiden, und ihn in die Achtung des hochwohlgebornen Publikums zurücksetzen würde, die von jeher der Gesichtspunkt seiner Handlungen gewesen. Um diesen bedrängten Vater nicht noch mehr in die Enge zu bringen, hat man ihm viele Stellen aus diesem Verhör verschwiegen, und dieses Protokoll, in so weit es seine Aussage[265] enthält, von ihm in fidem unterzeichnen lassen. Actum ut supra.


Namen des Justizbeamten –

Namen des Herrn v. E.

Namen des Hermann –

Ist's möglich! – Mehr als diesen Ausruf kann ich nicht. Ist's möglich!

Nichts ist mir von jeher herzzerschneidender gewesen, als wenn die Bosheit ihre Lügen mit ein wenig Wahrheit salzt und würzt und sie dann auftischt, und wie war euch zu Muthe, ihr edlen Leserinnen, da Johann Peter Beifuß Minen einen Muttermord, eine Grabesschänderei anrügt? – Und wie, da er unsere engelreine Liebe schändet und lästert, wie, edle Seelen? Eine Lüge ist schändlich, allein sie ist es um die Hälfte weniger, wenn nichts von Wahrheit eingemischt ist. – Das ist ein ehrlicher Lügner, der so lügt! Und fast wollt' ich behaupten, daß solch ein rechtschaffener Lügner nicht vom Vater, dem Teufel, in gerader Linie abstamme! Allein der Teufel selbst, der ein Schild der Wahrheit aushängt, um desto besser Mord und Todtschlag im Hinterhalt zu verstecken – solch ein Giftmischer, solch ein Hostienverfälscher von Lügner, welch ein Scheusal!

Verzeiht, Leser, ich bin ein Mensch und Mine ist ein Engel! – Die Regierung in Mitau fand nichts unbilliges in dem Gesuch des Herrn v. E., das von den Herren α, β, γ mit einem gerichtlichen Verhör ausgestattet ward, und das Requisitorialschreiben an die preußische Landesregierung ward ohne Anstand bewilligt. Ich könnt' es wörtlich mittheilen, allein warum? Hier ist die treffende Stelle:

Ew. Ew. Excellenzen werden sich aus diesen Umständen überzeugen, aus was für Gründen wir das unterthänigst gehorsamste Gesuch des hochwohlgebornen v. E. verstattet, und da der ausführliche[266] Vortrag der Sache, welcher durch gerichtliche Verhöre bestärkt worden, uns der Pflicht überhebt, noch nähere Aufschlüsse beizufügen, so begnügen wir uns, die ausdrückliche Versicherung zu ertheilen, daß von Seiten dieser Herzogtümer in gleichen Fällen eine gleiche Gerechtigkeit bewiesen werden soll. Der Verlust dieser an sich unbedeutenden Person kann den hochwohlgebornen v. E. freilich nicht bestimmen, die nach Preußen verlaufene Wilhelmine – – wieder zurückzusuchen, allein die Folgen sind zu bedeutend, die dieser Vorfall, wenn er nicht eingelenkt würde, dem hochwohlgebornen v. E. und der ganzen Gegend zuziehen dürfte. So wie aus dem gleichmäßig in der Anlage bis zur Vollständigkeit gebrachten Gründen sich ergeben wird, warum der hochwohlgeborne v. E. alle Untersuchung in Preußen verbeten, so treten wir des Endes, so wie in allem, so auch in Rücksicht dieses Theils seines Gesuchs, ihm bei, und sehen überhaupt der geneigtesten Erfüllung dieser unserer Wünsche um so zuversichtlicher entgegen, als Ew. Ew. Excellenzen uns jederzeit von einer so großen Gerechtigkeitsliebe, als nachbarlichen Gefälligkeit, beweisende Proben gegeben. Wir verharren mit vollkommener Hochachtung

Ew. Ew. Excellenzen

ergebenste Diener

Mitau, den – – ergebenste Oberburggraf.

17 – ergebenste Canzler.

ergebenste Landhofmeister.

ergebenste Landmarschall.


Die Antwort der preußischen Regierung:


Hochwohlgeborne,

insonders hochgeehrte Herren!


E. Hochfürstl. Herzogl. Curländischen Regierung erwiedern wir auf das gefällige Anschreiben vom – – 17 –, wie wir sogleich den erforderlichen Auftrag an die Behörde erlassen, die aus Curland[267] entlaufene Wilhelmine – – über die im Angesuch des Curischen von Adel v. E. enthaltene Umstände, durch welche ein gerichtliches Protokoll bekräftigt worden, vorschriftsmäßig zu vernehmen und nach diesem Verhör wegen ihres Arrestes die nöthigen Verfügungen, die wir ihm auf alle Fälle zugemessen, werkthätig zu machen, weil wir, ohne ein mit dieser Person gehaltenes Verhör, uns in der Sache entscheidend zu erklären außer Stand sind. Wir haben die Ehre mit vollkommener Hochachtung zu seyn

E. Löblichen Herzogl. Curländischen Regierung

freund- und dienstwillige

N.N.N.


Zu gleicher Zeit ein Auftrag an das – – Collegium, Minen durch einen Deputatus zu vernehmen und, wenn sich die Umstände protokollgemäß und nach dem curischen Anschreiben verhielten, sie sogleich dingfest zu machen, und zu dem Ende dem zu ernennenden Commissarius zugleich ein Gesuch an die nächste Garnison mitzugeben, um davon, wenn die Läuflingin gefänglich eingezogen werden sollte, einen augenblicklichen Gebrauch machen zu können. Sollt' indessen Mine Milderungs- oder gar Aufhebungsumstände für sich anführen, oder auch nur die wider sie angebrachte Klage zu entkräften vermögend seyn, so könnte sie zwar nicht in feste Hand genommen und in engere Verwahrung gebracht werden, indessen schienen so viel Umstände wider sie einzutreten, daß, wenn gleich dieser Kummer nicht nachgeblich wäre, dennoch eine genaue Aufsicht ihrer Person, oder wenigstens eine hinreichende Kaution anzuordnen seyn würde. Von allen diesen Vorgängen sollt' ein so schleuniger als genauer Bericht erstattet werden.

Das Rückschreiben der preußischen Regierung fand in Mitau keinen, am wenigsten den vollwichtigen Beifall, und da es dem Hochwohlgebornen v. E. in Abschrift zugefertigt ward, ließ er sogleich, wie Pharao, da er von den sieben fetten und sieben[268] magern Jahren geträumt, den hohen Rath der Träume-und Zeichendeuter α, β, γ, zu sich kommen, und anstatt der ersten Frage:

Was ist zu thun?

fragten Se. Hochwohlgeboren:

Was nun?

und schienen nicht undeutlich zu verstehen zu geben, daß bei allen bewiesenen Merkzeichen der Einsicht und Geschicklichkeit die Herren α, β, γ kein Glück hätten. Jeder der Herren α, β, γ behauptete, daß er von Glück sagen könnte, und schrieb alles flugs auf die Rechnung der preußischen Staaten, die der Teufel ihnen zur Nachbarschaft zugewiesen hätte. Hab' ich nicht gesagt, fing Herr β an: aus der Hölle ist keine Erlösung! Mit Ihrer Erlaubniß, Herr College, erwiederte Herr α, aus der Hölle nicht, wohl aber aus dem Fegfeuer. Wenn man, fuhr dieser Kopfhalter fort, auf meine unvorgreifliche Meinung, an den König selbst zu gehen, stimmige Rücksicht genommen, die Sache wär' in einer andern Lage. Ich lasse meinen Kopf in einer andern – vielleicht in einer gefährlicheren, bemerkte Herr v. E. und jeder, selbst Herr α, trat ihm bei mit einem Vielleicht!

Wenn ein Bollwerk erklettert werden soll, muß eins da seyn, und dieß suchten die Herren α, β, γ, in der größten Geschwindigkeit zu schütten und zu häufen.

Man that, ohne auf die gegebene Frage! Was nun? das Auge zu richten, wie gewöhnlich verschiedene Ausfälle, und hatte dagegen Einfälle, bis der Herr v. E. die in der Irre gehenden Rechtsgelehrten zusammenrief und festhielt. Was nun? fragte jeder. Herr v. E. wollt' an der Abschrift des königsbergischen Rückschreibens ein Exempel statuiren und sich daran vergreifen; indessen ließ er sich bedeuten und sah zu rechter Zeit ein, daß es nur Papier und, was noch mehr war, eine curische Abschrift sey. – Endlich und endlich war noch ein erneuertes und geschärftes[269] Anschreiben nach Königsberg verabredet, geschlossen und getroffen. Hier und da bitter und hier und da wieder süß. Ländlich, sittlich, sagte Herr β. Es ist nicht so ganz ohne, daß man Wilhelmine – zuvor verhört. Audiatur et altera pars, und wenn, setzte er hinzu, und wenn Preußen alle seine Unterthanen reklamiren sollte, was meinen Sie, meine Gönner und meine Herren, wer würde mehr verlieren, Curland an Wilhelminen, oder wir an so vielen würdigen Präpositis, Pastoren, Aerzten und Rechtsgelehrten? Bei dem letzten Worte ließ er die Stimme fallen, und man besann sich, daß Herr Collega β aus Preußen wäre – welches so ganz dreist heraus zu behaupten, er unfehlbar außerhalb der Jahreszeit hielt, da Herr v. E. so sehr gerüstet schien, sich an allem, was preußisch war, zu vergreifen und ein Exempel zu statuiren. Herr α nannte diese Zurückhaltung, um zu zeigen, daß er durch das preußische Rückschreiben nicht kopfscheu geworden wäre: wie eine Katze um den heißen Brei gehen. Er sah den Herrn β steif und fest an, und man merkte, daß er seinen Einwand aus dem Grunde widerlegen wollte. Schon recht, sagte Herr α, allein Preußen hat noch keinen Präpositus, Pastor, Arzt und Rechtsgelehrten, unter denen ich einen guten Freund habe, den wir alle kennen, gefordert; wir aber fordern Wilhelminen. – Was das Fordern anbetrifft, wollte Herr β fortfahren, indessen schlug Herr α vor, das Wiederholungsschreiben noch einmal vorzulesen und punktatim zu beprüfen. Es ward also eine Zugabe festgesetzt, daß es nach drei Wochen allererst abgelassen und, falls in dieser Zeit eine Definitivantwort aus Preußen käme, nach Bewandtniß derselben mit diesem Entwurf verfahren werden sollte.

Diese Erzählung ist wieder ein Auszug aus genau geführten Protokollen und den mündlichen Zusätzen des Herrn – –, der eben jetzo bei mir ist, und nie, wie er sagt, an diese Erstlinge seiner rechtlichen Arbeiten zurückdenken kann, ohne daß ihn ein[270] Herzensfieber, Kälte und Hitze ergreift; es ist ein guter Mann und kein α, β und γ, obgleich er beim α das Handwerk erlernt hat.

Eine Einschaltung, die freilich zu diesem Rechtskram wunderlich abstechen wird. – Eine Eule unter den Krähen.

Herr v. E., das zeigt freilich sein Krieg und Kriegsgeschrei – fand für gut, Minen zu lieben, und alles, was ich thue, wie er es dem Vater Hermann (bald hätt' ich: dem Vater, dem Teufel geschrieben) sagte, geschieht aus lichterloher Liebe. Dieser Bösewicht sprach das Wort Liebe, so wie die Teufel den lieben Gott aus, und fand für gut, Minen zu lieben – ein Teufel einen Engel!

Sie, nur sie! Alles, was ich bisher geliebt habe, ist Staub, Erde und Asche! schrie er. Ich vergaß alles, was ich je von Mutterleib an geliebt habe, seitdem ich sie sah, sie hörte und ihre Hand drückte; so sehr liebt' ich sie, so rein! – Sie schwebt mir vor Seel' und Sinn! Sie, nur sie! nur sie! rief er einmal über das andere und küßte den Hermann, der nicht wußte, wie geschwind er die hochwohlgeborne Hand erhaschen sollte, um ihr diesen Kuß ganz warm wieder abzuge ben – bald jagte er den Hermann zu allen Teufeln und sah ihn als den Räuber dieses Kleinods an.

Dann wieder wie in Gedanken, wie vor sich. Wenn ich denke: sie in Preußen, im Soldatenlande! o dann ist mir, als wenn ich Gift eingenommen hätte, und hab' ich's nicht? Es wüthet in meinem Eingeweide, es schneidet in mir! Ist denn kein Gegengift? Da lieg' ich, ein abgerissener Ast, der von seinem Baum getrennt ist und welkt; wahrlich, ich welke! Herr, schrie er auf zu Herrmann, nicht wahr, ich welke?

Hermann, jubelfroh, daß er auf keine kategorische Antwort bestand, bückte sich bis auf die Erde.

Sie hätte was aus mir gemacht! Sie hätte gemacht, daß ich den Testamentsnickel geliebt hätte. Minen zu Gefallen hätt' ich[271] es, und was hätt' ich nicht alles, ihr zu Gefallen – ihrer Liebe zu Gefallen! Hin ist sie – hin! hin! und Satanas weiß, welch ein Glücklicher auf mein Fundament baut. (Ich fiel dem Herrn v. E. ein.) Ich bin eifersüchtig, schrie er wieder, zum Rasendwerden! Die blaue Farbe, wo ich sie sehe, martert mich, denn – – war blau gekleidet. – Auf die Art, Hut und Haarlocken und Stiefel zu tragen, und auf alles, was sein war, bin ich gallenbitterböse!

Was ich geschrieben habe, das hab' ich geschrieben, was ich habe schreiben lassen, das hab' ich schreiben lassen. – Bin ich nicht mehr, viel mehr gefangen, wie sie? Ich, ich sitz' im Käfig! – laßt mir die Freude, in die Stangen des Käfigs zu beißen. – Wenn jedwede ein und einzige Liebe, Adam- und Evasliebe, solche Leiden macht, so sind es Einfälle von Milzsüchtigen, eine einzige Liebe. Wer kann so lieben und leben?

Sonst war mein Stolz, in der Liebe wetterwendisch zu seyn. Diese Grundsätze haben sich verlaufen, und das erschreckliche Gericht der Beständigkeit ist über mich eröffnet. Weh' mir, daß ich beständig bin! weh', weh' mir, daß ich es bin! – Vergib mir diese Weh's, liebe Mine, vergib sie mir; wohl mir, daß ich beständig bin, wohl! – Wahrlich, eine ganz nagelneue Empfindung für mich! – Hätt' ich ihr nur einen Kuß gegeben, so wüßt' ich doch wie's wäre wenn man einen Engel küßt. – Ihren Odem hab' ich von fern geschmeckt und wie Veilchen und Rosenduft eingesogen. – Meint ihr denn, lieben Freunde, daß ich sie hasse, ihr aus Wuth mit Rüge und Bezichtigung nachsetze, meint ihr? Ich kann nicht Oh's und Ach's rufen, allein hier liegen sie fingerdick im Herzen. Ich liebe sie. – Ich hasse sie, weil ich sie liebe; ich liebe sie unendlich. – Ein Schwanenbett soll ihr Gefängniß seyn, Liebe, die liebste Liebe, ihre Ketten, sobald die Nachricht eingeht: Mine ist eingeschlossen. – Entzückt will ich schon über diese unbetagte Schuld[272] seyn, entzückt, noch ehe der Verfalltag kommt – all ihr Leiden sey wie abgeschnitten! Bis Memel soll sie zwar zum Schein leiden – der Teufel trau' den preußischen Staaten – aber dann im Triumph. – Mine, du bist mein, meine Gemahlin bist du; dir gehört mein Herz! Mit deinem Auge will ich getraut werden, mit dir Hochzeit halten, dir will ich das Ja zusagen und es halten so lange ein Stück von mir ist. – Wenn gleich nicht vor der großen Welt, so doch im Stillen. – Im Stillen, wo sich's am besten liebt. – Mine, Liebe gehört in die Stille zu Hause. – Mine, die verbotene Frucht schmeckt am süßesten. Wär' alles Gebot und kein Verbot, so möchte der Teufel ein Mensch seyn! – Nur einen Versuch, Mine. Komm, Mine! komm – komm! komm doch! Wird sie kommen?

Was meinen Sie, rechtsgelehrter lieber Achselträger? (zum Protokollisten, den Herr v. E. nicht von sich ließ, um ohne Aufhören zu fragen:) Wird sie? wird sie?

Dieser junge Mann, der den Herrn v. E. von Universitäten her kannte, war über dieß und jenes bei der Sache im Irrgarten, aus dem er sich endlich herausgefunden haben würde (obschon v. E. auf die Art noch nie geliebt hatte, oder eigentlicher, verliebt gewesen war), wenn nicht Minens leiblicher Vater eine Rolle in diesem Stücke gehabt.

Herr v. E. litt wirklich, allein so wie jeder Sünder leidet. – Kann man so etwas leiden nennen? Zuweilen war er stummtoll. – Man hatte Ursache, seinetwegen zu fürchten. – Der Protokollist hatte wirklich Mitleiden mit ihm; so nahe wußt' er's ihm zu legen. Könnt' ich doch weinen, sagte er eines Abends zu ihm, Herzensfreund, weinen! Wer kann es aber in der Hölle? Hätt' es der reiche Mann gekonnt, würd' er nicht nöthig gehabt haben, einen Tropfen Wasser zu betteln. – Und dann wieder: »Freund, wenn die Hölle ärger seyn kann, ist kein Gott im Himmel!«[273] – Würde Mine auch nur in Mitteldingen (wenn es dergleichen gibt) ergiebiger gewesen seyn, Herr v. E. würde sie geliebt haben, wie er sonst zu lieben gewohnt war. – Ihr edler Rückhalt, ihre heroische Flucht bracht' ihn mit zu diesem, ihm sonst wildfremden Schwung.

Der Justizrath – – (wir sind wieder in Preußen) ward vom Direktor, als das A und O im Collegio, zu diesem Geschäft ausersehen, und eben weil er ausersehen war, wollt' er ein Meisterstück liefern. Er lernte fast das Gesuch des Herrn v. E. an die curische Regierung und das Protokoll auswendig, um ja keine Sylbe ungetroffen zu lassen. Folgender Entwurf zu den Fragen an die engelreine, unschuldige Mine kann von seinem Diensteifer ein Pröbchen abgeben. Es konnte sich der Deputatus nichts Gewisseres denken, als daß Mine alles und jedes wäre, wozu sie das seine curische Protokoll und dessen Ueberrock, das verkleisterte, gekünstelte Gesuch des Herrn v. E., machen woll te. Dieses blinde Zutrauen zu einem gerichtlichen Protokoll bestimmte ihn, den Requisitorialbrief an die Garnison noch eher abzusenden, als er Minen gesehen und gehört hatte. Eine Meile vor L– sandte er, nachdem er nochmals alles überlesen und das Vollwort des Protokolls ihn überschienen hatte, den Requisitorialbrief ab. Den Erfolg dieser Absendung wollt' er eben hier und eine Meile vor L– abwarten. Es kann seyn, daß auch etwas Furcht vor dem starken Kerl, der dem Martin Jakob Kegler so schwer gefallen, zu den Ingredienzen dieser Eilfertigkeit und dieses Vorlauts gehört. – Zwar erfolgte keine schriftliche Antwort; allein es erfolgten ein Unterofficier und zwei Mann, die sich Verhaltungsanordnungen ausbaten. Einen Augenblick, sagte unser Scharfrichter, denn er übersah noch seine Fragstücke, und fand sie hie und da nicht bandfest. Einen einzigen Augenblick, sagte unser Justizrath; allein es währte eine Stunde.

Ein Pröbchen von unserm Justizrath.


[274] Promemoria


in Untersuchungssachen wider die aus Curland entlaufene Dienstbotin und Diebin, Wilhelmine – –, ihre vorläufige Abhörung und Haft betreffend.

Nach den gewöhnlichen Fragen:

Namen?

Geburtsort?

Vaterland?

Eltern?

Wer ihr Vater sey? (Es ergibt sich nicht aus den Akten unterthänig ist sie nicht.)

Bei der Mutter ein Wort zu seiner Zeit.

Wie alt?

Religion?

Wozu noch außerhalb der Linie kommen könnte: ob sie vom vierten Gebot unterrichtet und mit den Pflichten bekannt sey, die sie allen denen, die Gottes Bild an sich tragen, welches im gegenwärtigen Fall Herr v. E. wäre, schuldig?

Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser.

Stoff zur dreifachen Ermahnung. –

Bleib im Lande und nähre dich redlich.

Ob sie das siebente Gebot Gottes wisse?

Geschärfte Ermahnung.

Ob das fünfte Gebot Gottes?

Wer lügt, stiehlt auch, und wer stiehlt, mordet. –

Eine Erschütterung!!!!

Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.

Ob sie nicht alle zehn Gebote Gottes übertreten und ob, wenn noch mehr als zehn wären, sie nicht auch die mehreren mit Füßen gestoßen?[275]

Es gibt nur ein Laster, nur eine Tugend. Einmal eins ist eins.

Das gegebene böse Exempel ist wie eine Brandstiftung; wenn man auch gern die Flamme hemmen wollte, kann man?

Donner und Blitz! –

Vogel friß oder stirb!

Nach diesen Vorbereitungsfragen:

Ihr stehet vor Gott und der Obrigkeit, die von ihm geordnet ist, prüft Euch, ob Ihr mit dem Vorsatz hergekommen, Gott die Ehre zu geben und die reine, ungeschminkte Wahrheit zu bekennen? Ist es nicht Euer Vorsatz gewesen, sondern habt Ihr geflissentlich Sünden mit Sünden häufen wollen, so verstockt wenigstens auf dieß Wort Euer Felsenherz nicht.

Das Wenigste, was Ihr thun könnt, ist Bekenntniß und eine geduldige Unterwerfung in Rücksicht der zeitlichen Strafe, die gegen die ewige leicht ist. Antwortet ohne Gleißnerei und Kunststück, aus dem Innersten Eures Herzens und so, wie Ihr es einst vor dem letzten strengen Richterstuhl Gottes zu verantworten gedenkt, wohin, so jung Ihr seyd, Ihr über ein Kleines citirt werden könnt. Wollt Ihr? –

Ehe noch Mund und Hand ans Werk gelegt wird, die Recognition der Person, nach denen, wiewohl im besondern Styl, übersandten Angaben:

Wuchs.

Sie gränzt ans Männliche.

Schlank.

Gesund.

Roth und weiß.

Wann? (Ungewißheit.)

Wen sie bestohlen? (Finsterniß.)[276]

Ob sie noch von den gestohlnen Sachen etwas bei sich hätte? Wo sie die andern Sachen angebracht?

Das Geld?

Wider die Amtmännin und ihre Schwester ist aller Verdacht der Mitwissenschaft. Das Verhör mit ihnen ist voller Mängel. Da Inculpatin erst geraden Weges mit diesen beiden feinen Zeisigen gehandelt, hätte der Nebenweg, den Inculpatin jetzt einschlug, sie zum Nachdenken bringen sollen, wenn sie anders nachdenken können.

Es frägt sich:

Ob Inculpatin der Amtmännin und ihrer Schwester angezeigt, daß es gestohlene Sachen?

Ob der Kopfputz, den Inculpatin der Amtmännin und ihrer Schwester verkauft, auch gestohlen Gut?

Was es für andere Stücke gewesen, welche Inculpatin der Amtmännin und ihrer Schwester verhandelt?

(Andere Stücke, wie unbestimmt!)

Sie hat flüchtigen Fuß gesetzt.

Wer ihr behülflich gewesen?

Wer der junge Mensch sey, mit dem sie im unregelmäßigen Verkehr gestanden?

(Ein tiefes Schweigen im Protokoll.)

Wie sie geflohen, ob zu Fuß oder wie sonst?

Sie hat zum Morde aufgefordert.

Gott sey ihrer Seele gnädig!

(Beim ersten Ueberblick nahm ich schon die Sache der Inculpatin; allein, alles genau genommen, ist sie nicht zu retten, um alles nicht.)

Die starke Mannsperson.

Schwarzes Haar.

Große Augen von der nämlichen Farbe.[277]

Spott und Hohn.

Kräftiger Gang.

Heuchlerin und Spitzbübin von Hause aus.


Hauptpunkte:


Sie hat ihre Mutter ins Grab gebracht.

Ungehorsam, verstockt gegen ihren Vater.

Sie hat sich wider seine Heirath empört.

Warum?

Kinder müssen auch wunderlichen Eltern gehorchen; ihr Vater hat zu ihrem wahren Heil an eine zweite Heirath gedacht. Vielleicht weniger um eine Frau für sich, als eine Mutter für sie zu haben. Er ist achtundfünfzig Jahre. Ein schönes Alter!

Der Vater hat sie im Hofe angebracht; sie ist aus dem Contrakt gelaufen.

In welcher Qualität und Gestalt sie im Hofe angebracht worden.


(Es ist hiervon in der Schrift mit keinem Jota gedacht, und sollte doch. Ohne Zweifel als Kammerjungfer, Ausgeberin oder so etwas.)


Warum sie diese guten Absichten vereitelt und dem Herrn v. E. in seiner Wohlmeinung widerstanden, der doch die Liebe selbst sey und der, wenn sie ausgedient, sie gewiß zu seiner Zeit unter die Haube gebracht haben würde?

Sie hat andere aufgewiegelt? (Dunkelheit.)

Sie hat Verschiedenheiten und Zwist im Hause erregt. (Auch dunkel. Die Brödlinge sagen es zwar aus, Gott weiß aber, wer und warum?)

Sie hat gestohlen?

Was sie gestohlen? (Unzulänglichkeit.)

Der Schrei, als ein Nothzeichen.

Warum Inculpatin sogar diesen Bösewicht, obgleich Martin[278] Jakob Kegler sie bleiben lassen mußte, welches sie sah, aufgefordert, diesen Kegler (im Hofe Jakob genannt) zu verfolgen?

Ob dieser starke Kerl allein sie begleitet?

Ob noch sonst jemand?

Wer ihn zu diesem Mordgeschäft gedungen?

Noch vor dem Verhör das Haus besetzen.

Den Wirth des Hauses an seinen des Königs Majestät geleisteten theueren Eid erinnern.

Alles im Hause zu erinnern, ohne Erlaubniß mit der Inculpatin keine Gemeinschaft zu haben.

Die Inculpatin mit einer kurzen Anrede der Wache zu überliefern:

Da seht Ihr nun die traurigen Folgen Eures Ungehorsams! Diese königlichen Soldaten, nicht wie die Engel bereit, zum Dienst derer, die ererben sollen die Seligkeit, sondern fertig, Bosheit zu bestrafen und Frevler zu bewachen, sollen Euch vorerst an Händen und Füßen geschlossen in feste Hand nehmen und in engere Verwahrung bringen, damit Ihr, nach eingezogenen nähern Verhaltungsbefehlen, nach Memel gebracht und von dort aus den Abgeschickten Eures so gnädigen Brodherrn, des v. E., überreicht werden könnet. Wollte der Himmel, daß Euch Eure so groben Verbrechen das Herz durchbohren und Ihr, noch ehe Ihr dort, dort Eure Mutter vor Gottes Richterstuhl erblickt, Euch mit ihrem Schatten aussöhnen möchtet! Wollte der Himmel, daß Eure verfälschte, unlautere Seele noch gerettet und Ihr wenigstens die Hoffnungen auf die andere Welt nicht aufgeben dürftet, da in dieser für Euch kein Ort abzusehen, wo Ihr vor Vorwürfen Eures Gewissens und anderer ehrlichen Leute werdet sicher seyn können. Eure Flucht nach Preußen ist Euch geglückt; allein Euch selbst und den Augen der Rechtschaffenen könnet Ihr nicht entfliehen! –[279] Geht hin zu Eurem gnädigen Herrn, werfet Euch vor ihm auf die Knie. Ein gutes Wort findet ein gutes Herz! Vielleicht, daß er Euch seine gnädige, alles verzeihende Hand zureicht und Eure Strafe nicht ganz genau mit Eurem Frevel abmißt. Geht zu Eurem leiblichen Vater. Ob verlorner Sohn oder verlorne Tochter, gleich viel! Wenn Ihr von ganzem Herzen sagt: Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Kind und des Herrn v. E. Magd heiße! so wird er vielleicht so sehr durch Reue, durch Eure ganze Buß- und Beichtandacht erweicht, als ihn testantibus actis Eure Bosheit und Gottesvergessenheit erweicht hat. Sein Fürwort wird den Herrn v. E., der die Liebe selbst seyn soll, völlig aussöhnen. Eure Jugend redet Euch das Wort, und wenn Euch Gott, nach ausgestandener Strafe, noch Leben und Gesundheit fristet, habt Ihr noch Zeit und Raum, Gutes zu thun, die Leute, die ihr bestohlen habt, zu entschädigen und da Friede und Ruhe zu stiften, wo Ihr Zank und Zwist verbreitet habt. Seht, wie nahe liegt der Mord, das letzte schrecklichste Cainsverbrechen in dieser Welt, dem ersten Schritt vom rechten Wege! wie nahe! – Wir werden uns schwerlich in dieser Welt mehr sehen, wie sehr aber würde ich mich freuen, wenn wir uns da zusammenfinden würden, wo wir beide Parteien sind und wo ich auch mein Richteramt dem, der mich damit belehnt hat, abzugeben verbunden bin. Thut eure Pflicht, brave, tapfere Soldaten! nehmt diese Frevlerin hin. – Vorderhand kann sie nach – – ins Gefängniß abgeliefert werden, bis ihres weitern Transports wegen von höherem Ort Verhaltungsbefehl erfolgt.


Gott bekehre die Frevlerin!

Salvis omnibus.


Dieses Promemoria's wegen mußten der Unterofficier und die zwei Mann eine Meile vor L– einen sogenannten Augenblick, der[280] aber eine Stunde war, verziehen, indem der Deputatus noch hier und da ein Wort nahm und gab; und nun nach L–.

Das erste, was Deputatus vornahm, war die Belagerung des – – Hauses des verstorbenen – –, und da er damit fertig war, ging er geradezu ins Haus und redete den Wirth, ohne ihn zu sehen, an:

»Er möchte wohl bedenken, was er nächst Gott Sr. Majestät schuldig wäre, nämlich treu, hold und gewärtig zu seyn, das Beste Sr. Majestät überall zu befördern, Schaden und Nachtheil aber zu verhindern,« und nachdem er ziemlich weit in dieser Anrede gediehen, ward er erst gewahr, daß niemand als ein altes Weib vor ihm gestanden. Sie war, außer einer Katze, welche ihr selbst zugehörte, die einzige lebendige Seele im ganzen Hause. Er war also, nachdem er sich mit diesem Phänomen bekannter gemacht, verbunden, sein Protokoll wie folgt anzuheben:

Actum L– 17–.

Dem höchsten Befehl der königlichen Regierung von – – zur unterthänigsten Folge, begibt sich Endesunterschriebener, nachdem er die ihm zugefertigten Akten genau gelesen, beprüft und sich den erforderlichen Plan entworfen, nach L– in die Behausung des – –, wo der Angabe nach Inculpatin, Wilhelmine – –, sich aufhalten soll. Das Haus ist indessen völlig wüst und bis auf eine alte Person leer, welche sogleich vernommen wird.

Sie heißt Catharina – – ist achtundsiebzig Jahr alt, lutherischer Religion, nährt sich von Kinder- und Krankenwartungen, und ist nicht eher, als nach dem seligen Ableben des – – in dieses Haus gekommen. Der Pfarrer des Orts hat sie dazu berufen, damit, so lange das Haus nicht verkauft sey, welches nicht anders als nach öffentlicher Feilbietung und mittelst gewöhnlichen Anschlages geschehen könnte, es nicht ledig stehen und am Werth einbüßen möchte. Der selige Mann ist seit fünf Wochen, wie es[281] ihr dünkt, begraben, und zwar kinder- und erbenlos. Sein Hab und Gut ist, nach seinem letzten Willen, den Ortsarmen zu Theil geworden. Die Comparentin sagt: Ich selbst hatte Ursache, seine kalte Hand zu küssen. Der Prediger ist Testamentswärter und Vollstrecker gewesen, und, um ihren eigenen Ausdruck beizubehalten, »es ist viel davon zu sagen.« Zur Sache führt sie an, daß ein Frauenzimmer, wohlgebildet wie Milch und Blut, gleich nach dem Ableben des – – angelangt. Sie kam ohne alle Begleitung und ganz allein an, sagt Comparentin, und wie ich nicht anders weiß, in einem gemeinen Wagen mit vier Pferden bespannt. Ihr Besuch, der auf diese Art zu spät gekommen, hat, wie's der Comparentin dünkt, keine andere Absicht gehabt, als ihren Verwandten zu besuchen und ihn vielleicht, wenn es Gottes heiliger Wille so genehmigt, zu beerben.

Auf die Frage: ob sich keine starke Mannsperson zu dieser Zeit, oder vor und hernach, blicken lassen? erwiederte sie: ja, es hätte einige Tage vorher sich jemand blicken lassen. Nachdem aber diesem Umstande genauer nachgespürt wird, so kommt endlich heraus, daß dieses ein Luftspringer sey, der sich im Dorfe zur Schau gestellt. In wie weit dieser Luftspringer mit der Inculpatin in Verbindung gewesen sey, noch sey und seyn werde? ist der Catharine – – ganz und gar unbekannt.

Damit alle Gerechtigkeit erfüllt und bei dieser Gelegenheit der Umstand eingetrieben und eingemahnt werde:

ob dieser Gaukler die starke Mannsperson mit dem gezogenen Messer sey? und

in wie weit dieser Gaukler ein allerhöchst privilegirter sey, wird dem Amtswachtmeister aufgegeben, diesen Luftspringer vorzubescheiden. Dieser stellt sich mit seiner Bestallung, die allerhöchst eigenhändig vollzogen ist, dar und will durch einige Proben dem Deputatus ad oculum seine Geschicklichkeit demonstriren,[282] welches verbeten wird. Außer dieser Nothdurft bringt er bei, wie der Prediger die Kirchspielskinder von ihm abgepredigt und ganz offenbar zu verstehen gegeben, daß sie besser thäten, wenn sie was anderes machten, als einen allerhöchst privilegirten Gaukler sähen, und daß ein Gaukler ein Gaukler bleibe, wenn er auch ein königliches Patent hätte, und daß dergleichen Gaukler mit königlichen Patenten viel wären, obgleich sie nicht alle sprängen – und daß – Deputatus kann und mag diese Sache nicht angreifen und begnügt sich zu bemerken, daß der Gaukler auch nicht den mindesten Verdacht abschatte, daß er die starke Mannsperson sey, daher er abgelassen wird. Es ist aller Mühe unerachtet nichts, rein nichts von der starken Mannsperson mit dem gezogenen Messer herauszubringen, und behält Deputatus wider ihn dem preußischen, curischen und dem Weltpublico seine Rechte vor. Ob (um wieder auf Inculpatin einzulenken) die fehlgeschlagene Hoffnung, ihren Verwandten zu beerben, oder der Umstand, daß der verstorbene Verwandte ihren Besuch nicht mehr annehmen können, oder sonst was anderes Schuld daran gewesen, weiß Comparentin nicht anzugeben, wohl aber, daß Inculpatin, nachdem sie frisch und gesund angekommen, in Gegenwart des Pfarrers, der als Testamentsvollstrecker (wie der Selige es angeordnet) einige Vögel ins Freie gelassen, in Ohnmacht gesunken. Der Pfarrer erschrak nicht wenig, sie erholte sich aber wieder und der Pfarrer nahm sie zu sich. Nach der Zeit hörte und sah man nichts von ihr. Es hieß: »sie ist krank, sie ist immer krank,« aber zuweilen sieht man sie am Fenster, nach der Kirche zu, stehen oder sitzen. Wer sie zurück haben will, darf nur stehen bleiben, weg ist sie. Es kommt zwar ein Doktor zum Pfarrer, aber man weiß nicht, ob zu ihr oder zu jemand anders? Seitdem sie ins Haus gekommen, ist alles beim Prediger wie umgekehrt. Man sagt sogar, es sey eine Verlobung zwischen dieser Unbekannten und Gottbekannten und noch jemandem[283] vorgefallen – wenigstens sind zwölf Personen beim Pfarrer eingeschlossen gewesen, und heißt es, Gott verzeih mir meine Sünden, sie hätten alle communicirt! Auf die Frage: ob der Pfarrer verheiratet sey? erfolgte die Antwort: er ist verheirathet, er ist auch nicht verheirathet – seine Frau ist melancholisch, Gott weiß, wovon; er lebt nicht so recht zusammen mit ihr. Jetzt soll alles über und über seyn. Es ist viel zu sagen. Melancholisch ist die Pfarrerin zwar schon zum Theil vorher gewesen, aber, aber –

Deputatus trägt Bedenken, aus diesen, dem exemplarischen Lebenswandel des Pfarrers sehr entgegen arbeitenden Umständen Schlüsse zu ziehen und der Comparentin ihren Seelsorger durch einige nähere Fragstücke über die Aufnahme der Inculpatin Wilhelmine – –, deren Verlobung und die Schwermuth der Pfarrerin verdächtig zu machen, oder falls Comparentin schon von selbst, wie es fast das Ansehen hat, auf diesen Verdacht gefallen, ihn nicht zu bestärken und diesen Funken anzufachen. In der Hauptsache ist kein anderer Weg, als Inculpatin beim Pfarrer aufzusuchen, dieß Protokoll dort fortzusetzen und vorschriftsmäßig überall zu verfahren v.s.

N.N.


Während der Zeit, daß Deputatus sein Verhör schloß und seinen Muthmaßungen freien Lauf ließ, ging Catharine – – spornstreichs zum Pfarrer, drängte sich bei Minen vor und sagte der Aufgestandenen geradezu unter die Augen, daß ein Herr mit Soldaten da wäre, um sie zur Haft zu ziehen.

Wie wußte dieß Catharine?

Und wie wußte der Deputatus, daß die Pfarrerin, die doch die Lindenkrankheit hatte, Minchens wegen noch tiefer in Schwermuth gesunken? Sorget nicht für den andern Morgen, ein jeder Tag wird für das Seine[284] sorgen, und es ist genug, daß ein jeglicher seine eigene Plage habe, findet auf den Verdacht und das Mißtrauen Anwendung, zu dem die Rechtsgelehrten oft aus Amtspflicht verbunden sind, obgleich sie den Grundsatz debitiren: Jeder ist gut, bis das Gegentheil erprobt und W.R.J. erwiesen ist. Es ist kein mißtrauischer Volk, als das rechtsgelehrte. – Tausendmal hab' ich gefunden, daß sich die Menschen überhaupt hierdurch geflissentlich ihr Leben trüben und sich vor dem Teufel und seinen Engeln fürchten, wenn gleich keine da sind.

Ob Catharine die Gabe der Feinheit gehabt, weiß ich nicht; allein das weiß ich, daß Mine nur einen Hauch nöthig hatte, um, o Gott! wieder – zu sinken. Eine geknickte Lilie kann ein Zephyr niederwerfen. Ein Hauch ist Sieger über sie. – Catharinens Zudringlichkeit und der Vorfall, daß Mine eben am Fenster stand, da die Soldaten anrückten, schlug sie ganz und gar nieder, und nie hat sie sich weiter aufgerichtet – nie! – – Für sie war keine Quelle mehr, die den müden, abgetragenen Wanderer am schwülen Tag ergötzt. Kein Trunk mehr kühlte sie! – Sie hatte ausgelebt! Den letzten Lebenstropfen kostete ihr dieser Vorfall. Gott, rief sie, in deine Hände, in deine Hände! nicht, Herr, in die Hände meiner, deiner Feinde! – Dir, dir, Herr! leb' ich, dir, dir sterb' ich! – Der Pfarrer hatte genug mit dem Justizrath – zu thun und konnte nach der kränklichen Pflanze nicht sehen, die er bisher mit so vieler Sorgfalt jedem Sturm, jedem sengenden Sonnenstrahl entzogen, die er gepflegt, wie ein Vater eine kranke Tochter pflegt, die seinem seligen Weibe ähnlich ist.

Das Pastorat, oder, wie man in Preußen spricht, die Widdem, war von Soldaten umzingelt. – Mine war ohne Trost, ohne Leben. Das ganze Haus war in Aufruhr und die arme Predigerin über diesen Vorfall so weg, daß sie völlig aus ihrem Geleise trat und Zeter rief, Zeter! rettet – und Hülfe! [285] Hülfe! Der Wachtmeister, dessen Stimme ins Haus einschlug, hatte sie völlig erschüttert. – Ihre Nerven waren sein, das Gewebe einer Spinne, würd' ich sagen, wenn Spinnen gut wären. Kein Wunder, daß sie aller Fassung und Besinnung entwich. – Erbarmung! Erbarmung!Weh! weh! kreischte sie und flog wie Espenlaub. Jedes Glied war in Bewegung. – Sie hauen die Linden! schrie sie, die letzten!Meine Kinder geraubt –! meine Tochter! Bete doch, bete doch, Gretchen! – Ha! wie er sie entführt, der Bösewicht! Mein Mann in Ketten und Banden! was hat er gethan? – Die arme Tochter, wenn sie nur gewußt hätte, wonach sie greifen wollte, wäre sie glücklich gewesen. Es lag ihr hart an, ob sie Mutter oder Minen trösten, stärken und in die Arme schließen sollte. – Catharine, wenn sie zu ihrem Beichtvater gegangen wäre, würd' all diesem Jammer vorgebeugt haben; allein jetzt alles, alles aus! Der gute Prediger war der letzte, der dieses Erdbeben merkte, und da sah er auch schon den Schlund weit, weit offen. Herr, hilf! schrie er, es lag zu viel auf ihm, wir verderben! Er wollte sich dagegen bäumen, allein konnt' er? Ueberall Jammer. – Der Justizrath hielt alles dieß für Gewissensaufgährung und wollt' eben thun, was seines Amtes war, da ihn der Prediger bat, so viel Menschlichkeit zu haben und ihm nur eine Viertelstunde Fassungszeit zu bewilligen, und ehe diese abgelaufen, keine Gewaltthätigkeit in einem Kirchenhause zu beginnen. Der Justizrath fand Bedenklichkeiten. – Gott, sagte der Prediger, wird Ihnen die Viertelstunde in Ihrem Letzten, in Ihrem Letzten vergelten – ich bin ein geschlagener, ein unglückseliger Mann!

Der Justizrath gab ihm dieses Sterbviertelstündchen mit dem Beding nach, daß der Wachtmeister vor Minens Thür sich lagern könnte. Es war ein erschrecklicher Kerl. Wenn er nur nicht donnert, sagte der Prediger. Das soll er nicht, erwiederte der[286] Deputatus; allein er bedachte nicht, daß ein Segen in dem Munde dieses Menschen Fluch wäre. Es konnte dieser Henkerhandlanger nichts als Zeter rufen und Stäbe brechen, und Mörder schließen und Leitern zum Galgen ansetzen.

Ein Märtyrer würde hier die Standhaftigkeit verloren haben. Seine Geduld würd' ausgerissen seyn. – Da stand der Wachtmeister, wie eine Katze vor'm Käficht, und die Soldaten, als wenn hungrige Tiger vor der Thüre witterten. Des Justizraths Augen glänzten vor Wonne, als hätt' er Gott einen Dienst gethan. Er ging auf und nieder, in Erwartung der Dinge, die kommen sollten.

Der Prediger blieb eine kleine Weile im Lehnstuhl, schlug die Hände in einander, sprang auf und wandte sich zu seiner Frau. Gretchen, seine Tochter, hatte ihm diese Sorge anheimgestellt. Fasse dich, Seele! beruhige dich, willst du mit Gott rechten? sagte der arme Prediger. Harr' auf den Herrn. Die Linden sollen bleiben und deine Tochter soll grünen, wie die Weiden am Kirchengraben. Ich bin nicht in Ketten und Banden. Gretchen ist nicht entführt, sie soll nicht einen Bösewicht, sondern, wenn Zeit und Rath kommt, ihren Hansen haben. Hör' auf mit Zeter und Weh. – Man sucht hier jemanden, der nicht hier ist.

Diese herzlichen Trostworte hätten den Justizrath freilich auf andere Gedanken bringen können und sollen; allein er ließ nicht von Catharinens Hand, die ihn leitete und führte auf unebener Bahn, und von der er jedes Wort als baar annahm. Die Sprache des Herzens ist nicht jedermanns Ding. Sie findet sich nicht, wie das Griechische, nach einem bewährten Sprichwort, und wenn ich mich recht besinne, kann ich nur diese Herzlichkeit den Verliebten zugestehen – wie käme sie an einen königlich preußischen Justizrath, der gemeinhin ein rechtlicher Dominikaner von Haus aus ist? Der gute Mann hatte Mühe, die verstattete Frist unverletzt und unbefleckt zu halten. Welche Frechheit, dacht' er, [287] man sucht hier jemanden, der nicht hier ist! Er dacht' es, bei allem treufleißigen Rückhalt, doch so laut, so laut, eben so überlaut, als es sein marktschreiender Wachtmeister gesagt haben würde. Wie konnt' er bei diesem Gedanken sitzen bleiben? Diese Worte: Man sucht jemanden, der nicht hier ist – brachten ihn auf die Füße, nachdem er bis dahin Platz genommen. »Armes, armes Weib, du sollst glauben! Solch einen Glauben hab' ich in Israel nicht funden. Glauben, was sie anders mit ihren sichtlichen Augen gesehen hat! – Ein feiner Glaube!« Die Ungeduld des Justizraths war unbeschreiblich, sie hatte nicht in der Widdem Raum, er ging in Gottes weite Welt mit den Vorstellungen: Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt's gemacht zu einer Mördergrube! Es war das Beste, daß er ging – indessen ließ er die Widdem nicht aus den Augen, um zu bemerken, wer zu ihrer Thür aus- oder einging. – Der plötzliche Aufbruch des Justizraths beruhigte die arme Predigerin mehr, als der Zuspruch ihres Mannes. Sinnlichkeit gegen Sinnlichkeit. – Sie ward still, das war ein gutes Zeichen; der Prediger benutzte diese Stille und ließ seine Tochter rufen, die das Werk vollenden mußte. Er löste sie bei Minen ab, die er stärker fand, als er glaubte. O Mann Gottes, fing sie an, ich soll? oder soll ich nicht in die Hände der Menschen? Nein, Sie sollen nicht! antwortete der Prediger; allein sie blieb bei ihrem entsetzlichen: ich soll, und konnte sich davon nicht abgewöhnen. – Es ging dem Prediger durch die Seele, sie so leiden, ohne Hoffnung, ohne Zutrauen leiden zu sehen. Er kniete nieder und betete kurz, stark, himmelstürmend. Und nun auf dieß Gebet versprech' ich Ihnen, sagte er zu Minen, Sie sollen nicht. – Sie blieb still. – Nach der Zeit gestand sie, daß es ihr wieder eingefallen sey, sich selbst das Leben zu nehmen, um nicht ein schreckliches Schauspiel der Bosheit zu werden. – Ihre starke Einbildungskraft hatte ihr den v. E. in der[288] Nähe gezeigt, frohlockend über seine geglückte Rache – alle seine Helfer und Helfershelfer, die ihr nach der Seele standen, waren ihr erschienen, und diese Erscheinungen waren ihr schwer zu ertragen. – Mine litt gewaltig; indessen ließ Gott sie nicht versucht werden über Vermögen. Er, der sie aus sechs Trübsalen erlöst, ließ sie auch jetzt nicht verzweifeln. Sie unterdrückte die aufsteigenden Selbstmordgedanken beim ersten Anfang. – Das weggeworfene Messer und auf ihm die Tropfen Menschenblut fielen ihr ein. – (Sie sah alles, was ihr einfiel.) Das Gebet des Predigers hatte eine Nachwirkung – sie fand sich – sie schmeckte Trost in dem Kelche der Leiden, und diese Prüfungsstunde kühlte sie etwas ab; indessen blieb sie noch ängstlich wegen der Dinge, die kommen sollten.

Der Prediger ging zum Justizrath.

Eben recht, fing dieser an.

Der Prediger. Und wenn ich jetzt fragen darf?

Deputatus. An mir ist zu fragen.

Prediger. So erbitte ich mir die Erlaubnis zu antworten.

Deput. Schrecklich, wenn ein Prediger selbst –

Pred. Unglückliche aufnimmt?

Deput. Und eben dadurch Unglückliche macht. Herr Prediger – ich wünschte, ich wäre zu diesem Auftrage nicht –

Pred. Und dieser Auftrag?

Deput. Nicht mehr und nicht weniger, als die Diebin, die Läuferin, ja, ich kann Mörderin hinzusetzen, das kann ich, der Sie in Ihrem Hause Obdach gegeben, zur gefänglichen Haft zu bringen, damit sie an Ort und Stelle leide, was ihre Thaten werth sind.

Pred. Ach Gott, vor dir ist kein Lebendiger gerecht! Du weißt es –

Deput. Er weiß, allein, leider! auch Menschen wissen –

Pred. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten[289] und die Seele nicht tödten mögen, spricht mein Herr und Meister, der mit Zöllnern und Sündern umging.

Deput. Aber es nicht selbst ward.

Pred. Das hoffe ich auch nicht –

Deput. Er war Herr und Meister, und Sie Prediger in L–. Von ihm, dem Heiligen, konnte es nicht heißen: gleich und gleich –

Pred. Wenn Sie selbst wüßten –

Deput. Ich weiß alles.

Pred. Desto besser!

Deput. Und vorzüglich, daß Sie den Namen der Communion entweihen, daß Sie den Ihren Herrn und Meister nennen –

Pred. Der es in seinem Leben, Leiden und Sterben ist.

Deput. Das können Sie sagen?

Pred. Das kann ich!

Deput. Mir?

Pred. Und dem ganzen Justizcollegio.

Deput. Und Ihrer Frau: man sucht hier jemanden, der nicht hier ist?

Pred. Sie ist zuweilen nicht bei Troste.

Deput. Und wer hat sie trostlos gemacht? wer ihr den Kopf verdreht? wer?

Pred. Der Lindenbaum, der so alt wie sie war und in ihren letzten Wochen ausging.

Deput. Herr, meinen Kopf sollen Sie nicht verdrehen. Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten, und ich auch nicht. Meine Geduld ist wie die viertelstündige Frist zum Ende. – Kurz und gut, der königliche allerhöchste Auftrag ans Collegium:

»Wir Friedrich von Gottes Gnaden, König in Preußen, Markgraf zu Brandenburg, des heiligen römischen Reichs Erzkämmerer[290] und Kurfürst etc. Unsern gnädigen Gruß zuvor. Edle, hochgelahrte Räthe –«

Pred. Daß sich Gott erbarme!

Deput. »Liebe Getreue, aus der Anlage werdet Ihr ersehen, was die curländische Regierung wegen einer aus dem Dienst entlaufenen Diebin, Wilhelmine – –, bei Uns angesucht und zu verfügen gebeten.«

Pred. Und ich bitte um Gotteswillen –

Deput. »Ob nun gleich so viel Umstände wider sie aus dem gerichtlich abgehaltenen Protokoll und der, in Curland von dem v. E. –«

Pred. Gott, erbarme dich und bekehre, was zu bekehren ist!

Deput. – »eingereichten Vorstellung hervorgehen, daß die besagte Person nicht allen Rügen zu entwachsen im Stande ist, so befehlen Wir Euch jedoch, diese Wilhelmine – – zuerst durch einen zu ernennenden Deputatum abhören zu lassen. Finden sich bei diesem Verhör Umstände, welche die curischen Angaben entkräften, und als Milderungs- oder wohl gar Aufhebungsumstände in den Rechten geltend zu machen wären, so ist es des Deputati Pflicht, die ihm hiermit auferlegt wird, wegen ihrer Person eine leidliche, doch genaue Aufsicht anzuordnen, oder die etwa einzulegende rechtsgültige Caution anzunehmen und in Rechtsform einzulenken.«

Pred. Ich cavire mit Leib und Seele, mit Leib und Leben!

Deput. Das glaube ich. »Im Fall sich aber alles den eingesandten Schriften gemäß verhält und angerügte Wilhelmine – – nicht das mindeste von sich abzulehnen in den Umständen ist, was als Rechtfertigung, Entschuldigung, Vertheidigung vor den Ding-und Rechtsstühlen zu gebrauchen wäre, so muß Wilhelmine – – sogleich dingfest gemacht werden. Zu dem Ende habt Ihr die nächste Garnison von L– zu ersuchen, Euch hinlängliche Mannschaft zu bewilligen, und dieses Requisitorialschreiben Eurem Deputato[291] anzuvertrauen, um davon beim Befinden der Sache, ohne aufhaltende Rückschrift an Euch, augenblicklichen Gebrauch machen zu können. In allen Fällen liegt dem von Euch zu bestimmenden Deputato ob, so genau als schleunig an Uns Bericht zu erstatten, damit in dieser Sache, entweder den Wünschen der curländischen Regierung gemäß, oder anders wie, in alle Wege aber rechtlich, die Verfahrungsart eröffnet werden könne. Das ist unser eigentlicher Wille. Sind Euch mit Gnaden gewogen. Gegeben Königsberg, den – – 17–.«

Pred. Tausend Dank für diese Eröffnung! Und nun?

Deput. Und nun werde ich Wilhelminen verhören, sie dingfest machen und nach – – ins Gefängniß bringen lassen.

Pred. Wenn sie aber unschuldig ist? wenn ich Caution einlege? wenn –

Deput. Kein Wenn weiter – Sie verdienen nicht, daß man ein einziges von Ihnen hört, damit ich Ihnen gerade aus mein Herz ausschütte und alle Wenns auf einmal benehme.

Pred. Wenn Sie aber erlauben wollen –

Deput. Wieder Wenn?

Pred. Die königliche Landesregierung (um geradezu und ohne Wenn meinem Herzen Luft zu machen) hat nur bedingungsweise die gefängliche Haft verfügt, und dem Collegio nicht überhaupt nachgelassen, die Garnison um Beihülfe anzutreten. Ich weiß also nicht, warum mein Haus belagert ist und ich, wie Jerusalem, an allen Orten geängstiget werde, ehe noch Minchen verhört worden. Sie ist die Ehre ihres Geschlechts.

Deput. Und Sie, Herr Prediger, nicht wahr, die Ehre Ihres Standes?

Hier lösten sich die Räthsel, denn der gute Prediger konnte die wohlgemeinten Grobheiten des Deputatus länger nicht tragen. Er duldete, da ihm die Grenzen des Auftrages dieses feuerspeienden[292] Rechtsgelehrten und seiner Spießgesellen unbekannt waren. Jetzt sah er keine Verbindlichkeit ein, den Deputatus im verkehrten Sinn reden zu lassen, was nicht taugt; und da ihm der Justizrath seine Zweifel entdeckt und der redliche Prediger ihm den Unsinn von diesem Vorurtheil gewiesen hatte, ging Deputatus in sich und hatte nichts weiter in petto. – – Wenn man sich eine geraume Zeit im Cirkel herumgedreht, scheinen die äußern Gegenstände eben dergleichen Bewegung zu bekommen; auch wenn man aufgehört hat, sich herum zu drehen, bleiben die Objecte noch immer in einer cirkelrunden Bewegung in unserm Auge. – So ging es dem Justizrath, bis ihm das Verständniß ganz geöffnet war; und nun? Heftige Leute, Leute über Hals und Kopf, kennen nicht die Mittelstraße, und unser Deputatus war nun wieder so auf das Haupt geschlagen, daß er nicht aus noch ein wußte. Der Prediger gab seiner Gewissensregung, Minen mit eigenen Augen zu sehen, nach. Sie sollen, sagte der Prediger, wie Thomas, alles handgreiflich haben, und ging hin, Minen zu diesem Besuch vorzubereiten. Da der Deputatus sie sah, fiel er zurück. – So hatte er sie sich nicht vorgestellt.

Gott sey mir Sünder gnädig! fing er aus dem Innersten an, sah die abgezehrten Hände, die eingefallenen Augen und die langsam und selig Sterbende. – Mit einem Blick hatte er alles. Er konnte nach diesem Blick seine Augen nicht mehr aufthun. Das erste war, daß er die Soldaten abgehen hieß, die nicht sehr mit dieser Commission zufrieden waren; auch der Amtswachtmeister mußte mit Schanden unten an sitzen und im Wirthshause seine Diäten verzehren. Dieß geschah gleichfalls nicht ohne Kopfschütteln. Man sah es dem Peiniger an, daß er gern Ketten und Bande angelegt hätte.

Da stand der Justizrath, wie von Gott verlassen.

Mine wünschte, nachdem er lange vor ihr als Inculpatus gestanden,[293] allein zu seyn; er schwur, er könne nicht von dannen, bis sie ihm verziehen hätte. Mein Gott, was ist der Mensch? Ein trotzig und verzagt Ding. Wer kann ihn ergründen?

Der Deputatus weinte bitterlich.

Mine hob ihre halb abgestorbenen Hände auf und blickte den Bußfertigen sanft lächelnd an. Ihr Blick sagte: Sie wußten nicht, was Sie thaten.

Er hatte sich vorgenommen, ihr einige Fragen, wiewohl außerhalb der Grenzen seines Promemoria's, zu thun, allein er konnte nicht.

Kommen Sie, sagte der Prediger, damit wir uns nach langem Mißverständniß mit Herz und Seele verstehen. Der Prediger erzählte ihm den letzten Theil von Minens Lebenslauf, um dem Deputatus die curischen Papiere in einem andern Lichte und überall verborgene Schlangen zu zeigen. Der gute Rechtsgelehrte konnte sich nicht beruhigen, und wenn der Prediger ihm nicht großmüthigst die Folgen verschwiegen hätte, welche dieser Vorfall auf Minens Gesundheitsverfassung gehabt, er wäre nicht gesund aus dem Kirchenhause gekommen, welches schon ohnehin in aller Form ein Lazareth war. Er aß den Mittag beim Prediger. Gretchen wollte nicht mitessen; der Prediger mußte es verlangen. Sie kam, allein sie konnte den Deputatus nicht ansehen. – Die Predigerin hatte sich über alle Erwartung ziemlich erholt. Der arme Rechtsgelehrte konnte nicht essen, nicht trinken. Er war unlängst an das Collegium wegen seines bekannten Diensteifers, der ein anderes Ding als Dienstverstand ist, gekommen, um die Schwachen und Kranken und zum Theil entschlafenen Mitglieder dieses Collegiums wieder herzustellen. – Seine Unbekanntschaft mit seinem Kreise trug viel zu dieser Uebereilung bei. Bei Tische überfiel den Bußfertigen und Zerschlagenen der Gedanke, sein Amt in die Hände der Obern zu[294] legen. Er hatte zu leben. Aus Noth durfte er nicht ein Zelote seyn und sich vom Diensteifer fressen lassen.

Nachdem ich so übel gerichtet, kann ich, frug er, kann ich wohl hinfort mehr Haushalter seyn? Bei dem Blicke der Unschuld: Sie wußten nicht, was Sie thaten, wie ward mir, Gott, kalt unter den Füßen.

Der Prediger suchte ihn von diesem Gedanken zu entfernen, allein er blieb. Wie kann ein Mensch, fing er an, seines Bruders Richter seyn? – Bin ich darum gerecht, wenn ich nicht über Dinge strauchle und falle, über die andere straucheln und fallen? Jeder Mensch hat seine besondere Welt, seine besondere Klippe, sein ihm eigenes Fleisch und Blut. – Ja und Nein sey mir genug. Ich will nicht richten, damit ich nicht auch gerichtet werde!

Gott, schrie er, stand auf und brach die Hände, der du aller Welt Richter bist, dir stehen wir, dir fallen wir! – Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, vor dir ist kein Lebendiger gerecht! Wer kann vor dir bestehen? wer?

Der Prediger versicherte ihn, nachdem er ihn ganz um und um kennen gelernt, daß, wenn je ein Mann den Namen Nathanael verdiente, er es wäre. Der heutige Fall sey in gewisser Art Nathanaels Geschichte. Er sagte in Beziehung auf meinen Herrn und Meister, fügte der Prediger hinzu, wie kann aus Nazareth etwas Gutes kommen? Allein Christus nennt ihn demunerachtet einen Israeliten, in dem kein Falsch ist.

Dieß richtete den armen Rechtsgelehrten ziemlich auf, wozu der Umstand einen beträchtlichen Beitrag lieferte, daß Nathanael einer seiner Vornamen war.

Seine Heiterkeit war indessen nicht dauerhaft. Er konnte nicht aufhören, sich Zweifel vorzuwerfen. Wenn ich schwiege, fuhr er fort, würden die Steine schreien. Mine's Geschichte gieng ihm gerade durch die Seele, und doch bat er ohne End' und Ziel, sie[295] ihm zu erzählen und das Erzählte zu wiederholen. Mein tägliches Gebet soll seyn, sagte der Bußfertige: Schaff' in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist.

Er ersuchte den Prediger so oft und viel, sein Freund zu bleiben, daß der gute Prediger herzlich bewegt war. Wahrlich, wer immer mit schand- und lasterhaften Menschen im Gemenge ist, bekommt am Ende ein Inquirentengesicht. Er findet überall arme Sünder und Sünderinnen, Diebe, Räuber und Mörder. – So unser Nathanael, der den Menschenblick eingebüßt und nur bloß diesen Blick übrig behalten hatte, den man den Richterblick nennen kann. Dieser Fahnenschwung ist eine defensio ex officio, die ich dem Nathanael schuldig bin. – Der Prediger (von dem ich dieses alles haarklein habe) und Nathanael sprachen viel von Menschenkenntniß. Ihr Endurtheil war, der Mensch soll offen seyn; allein er ist unzugangbar. Wer die Menschen leicht findet, hat nicht sie, sondern sich gesucht und gefunden; wer andere richtet, bestraft seine Unart in andern, und glaubt sich eben dadurch weißgebrannt zu haben, wie die liebe Unschuld. – Wer hinter dem Fenster in seinem einsamen Zimmer steht, kann alles ganz deutlich wahrnehmen, was auf der Straße vorgeht, unerachtet er von den Leuten auf der Straße entweder gar nicht, oder doch nicht deutlich gesehen wird. Es kommt mehr Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus dem Zimmer in die Straße.

Alle diese Vorstellungen lösten sich jetzt beim Nathanael auf (und damit ich mit der Erlaubniß meiner Leser vorgreife), er legte wirklich sein Amt über ein Kleines nieder und ist nicht mehr Richter im Volke. Dieß Geschäft war sein letztes. – Ich muß eine Stelle aus dem Briefe des Nathanael an den Prediger in L-, in dem er ihm seinen Erlaß eröffnete, pränumerationsweise hersetzen, ich mag wollen oder nicht.

»Ich lege mein Amt nieder, um dem Herrn zu dienen und[296] auf ebner Bahn zu wandeln. Es muß eine Zeit der Heiligung seyn, eine Reinigungsperiode – ein Fegfeuer – ein Selbstgericht, ehe wir vor Gottes Richterstuhl treten. Diese meine Stunde ist gekommen – ich will mich selbst richten und den Krieg Rechtens mit mir selbst anstellen. Ein schön Stück Arbeit! – Nur bloß auf diese Weise sollen fortan meine Vermuthungen, wenn sie nicht zu Gunsten meines Herzens ausfallen, zu Tagefahrten und Protokollen Gelegenheit geben.«

»In diesem einzigen Fall kann niemand zu streng seyn; allein um andere zu richten wahrlich niemand gelind genug. – Ich besitze nicht Richterkälte, nicht Entscheidungsfähigkeit.«

Wenn ihn der Prediger nicht an den Bericht und an den Amtswachtmeister erinnert hätte, er hätte weder Bericht erstattet, noch den Amtswachtmeister mitgenommen, der schon über seine Diäten getrunken hatte und den Nathanael ins Geheim, doch wegen seiner durchfahrenden Stimme so, daß es jedermann hören konnte, um Lösegeld ansprach. – Nathanael ließ dem Prediger alle Acten, und bat, zur Probe seiner Vergebung und zum Siegel der ihm zugestandenen Freundschaft, diesen Bericht aufzusetzen. Das Promemoria konnt' er so wenig ansehen als Gretchen ihn. Die Predigerin lief noch vor ihm.

Hier ist der Bericht oder vielmehr sein Inhalt, denn meine Leser haben, wie ich selbst zu befürchten anfange, schon zu viel Curialien gelesen.

Es wird die schlechte Denkungsart des Herrn v. E. und Hermanns aufgedeckt und der Gesichtspunkt eröffnet, aus dem dieser ganze Vorgang zu nehmen ist.

»Die letzten Worte der Sterbenden entfernen schon den Begriff des unterlaufenden Betrugs und der Falschheit, und was sollte diese Sterbende, die vielleicht nur noch sehr wenige Stunden in dieser jammervollen Welt zu leben und keinen Transport nach[297] Curland oder sonst eine üble Begegnung zu befürchten hat, was sollte diese Sterbende, welche der Tod gegen alles in Schutz genommen, was sollte sie wohl bewegen, mit Gewissensbissen sich auf der Reise zur Ewigkeit zu beladen und sich eben dadurch ihre Sterbestunde zu erschweren? Dagegen decken die angegebenen Mängel des Protokolls und der Vorstellung, die v. E. eingebracht, überall und besonders an den unterthänigst bezeichneten Stellen eine schlechte Absicht auf. Ew. Königliche Majestät kann ich auf meinen Amtseid und bei meinem Seelenheil versichern, daß ich den Eindruck, den der Anblick dieser Sterben den auf mich gemacht, nie verlieren werde, und wie kann eine Person, die mit so erhabener Fassung und der Seelenruhe einer Märtyrerin diese Welt verläßt, sich solcher Laster, als ihr angedichtet worden, schuldig wissen? Der Prediger – hat sich verbindlich gemacht, sogleich, wenn diese Unschuldige im Herrn entschläft, ihren Tod Ew. Königlichen Majestät einzuberichten.«


»Ich ersterbe in tiefster Treue

Ew. Königlichen Majestät

allerunterthänigster Knecht

Nathanael –.«


Meine Leser wissen schon, daß Mine diesen Vorfall zu überleben außer Stande war. Vielleicht wäre sie mit der Zeit so stark geworden, mich noch in dieser Welt zu sehen; o wäre sie's doch! Gott, wäre sie's doch! Jetzt war hierzu keine Aussicht. – Sie selbst sagte zum Prediger, ehe dieser Vorfall sie vollends zu Grunde richtete: Was meinen Sie, werd' ich nicht bald stark genug seyn, Alexander zu sehen, nur ihn zu sehen – in dieser Welt – und dann, dann laß mich in Frieden fahren, ich habe genug! Nimm, Herr, meine Seele! – Der Prediger trug Bedenken, ihr die ganze Anlage des Herrn v. E. zu entdecken, und besonders war er bemüht, einen Vorhang über den Antheil, den Mine's Vater an[298] dieser Mordgeschichte genommen, zu ziehen. – Sie drang nicht weiter – sie war zu schwach, um ihre Bitte zu wiederholen. Wiederholungen derselben Sache kosten allen schwächlichen Personen unglaublich viel. Sie sah des Predigers Bedenklichkeit und that ihren Mund nicht auf. – Ihr ganzes, ganzes Leben war Duldung. Sie war nur ein Zögling für eine andere Welt. Dieß empfand sie, wie mir der Prediger auf das heiligste versichert hat, so sehr, daß sie diese Welt nur wie die erste Erde ansah, aus der sie versetzt würde. »Sie war froh in Gott« – des Predigers eigene Worte – »und sich selbst bis auf Fälle von der Art, wie der Tod ihres letzten Verwandten und die Veranstaltung zur Haft, immer gleich – das heißt, Gott ergeben. Solche außerordentliche Fälle schienen ihren Geist in der Hoffnung der Künftigkeit zu verstärken, allein ihren schwachen Körper führten sie im Triumph. Ihr Geist war willig, das Fleisch schwach. Die Gottesfreude ist von Dauer, sie ist sich gleich, sie jauchzt, sie lärmt und kreischt nicht, wie die Weltfreude, die mit aller ihrer Lust oft nach vierundzwanzig Stunden vergeht. Wer den Willen Gottes thut, bleibt in Ewigkeit. – Fast möcht' ich sagen, daß die Gottesfreude niemals im Gesicht läge, sie liegt tiefer und im Herzen. Zuweilen erhebt sie sich bis zum Auge, und das sieht dann erst gen Himmel, eh' es um sich herumsieht. So eine Gottesfrohe war Ihre Mine. Sie dankte dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich. – Freuen und fröhlich müssen seyn in Gott, die nach ihm fragen, und die sein Heil lieben, immer sagen: Hochgelobt sey Gott!«

Der Prediger setzte zu diesem allem etwas hinzu, worauf ihn Mine gebracht hatte: »Die viel beten, sind nicht froh, sie verklagen den lieben Gott bei ihm selbst. Sie sind schwach. Allein Freude am Herrn ist unsere Stärke. Nehemia im achten Kapitel, im zehnten Vers[299]

»Mine betete wenig, ihr ganzes Herz war Gottes.«

Nach einiger Erholung, die Minen sogar erlaubte wieder aufzustehen, erschlich sie den Ort, welcher der Catharine mit zum Verdacht Gelegenheit gegeben, um nach den Gebeinen ihrer Verwandten zu sehen. Es war ihr eine Aussicht zum Himmel. Eben kam der Prediger, da sie so voll guter Zuversicht, so voll Seelenwonne hinsah, und freute sich über ihren heitern Blick. – Sollt' ich nicht? sagte Mine und erzählte dem Prediger das, was er ihr verschweigen wollte und die ganze Absicht des Nathanaels – mit sammt dem Einfluß, den ihr Vater dabei gehabt – fast wörtlich wie er da stand.

Sterbende, sagt der Pastor, indem er mir dieses erzählte, haben den Geist der Weissagung. Ich habe in meiner lieben Gemeinde Vorfälle gehabt. – Mine schien schon lange die Gabe der Ahnungen zu besitzen, fuhr der Prediger fort, und sie hatte wirklich diese Salbung, die nicht jedermanns Ding ist.

Hier ein Auszug eines weitläufigen Gesprächs, das zwischen dem Prediger und mir bei dieser Gelegenheit vorfiel. Valeat, in quantum valere potest.

Ein großer Bösewicht ist allemal ein tüchtiger, starker, gesunder Mensch – ein Himmels- und Höllenstürmer. – Es gibt auch schwächliche, feige, hinterlistige Buben; allein diese erreichen nie den Grad der Bosheitsstärke, zu dem jene fähig sind. Diese morden von hinten, jene von vorn. Den Beelzebub würde ich so fest benervt, bruststark, als den Herkules malen, nur –

Wenn aber tüchtige, starke, gesunde Leute Menschen Gottes werden, welch ein Vergnügen, diese starken Geister, diese Engel (die auch stark sind) zu sehen! Die Tugend und ihre Tochter, die Religion, braucht auch in ihrem Dienste Leute für den Riß und Feldherrn. Einen Petrus mit dem Schwert, einen Luther mit dem Dintenfaß – solchen Leuten ahnt wenig oder gar nichts; und[300] wenn die Welt voll Teufel wäre und wollten sie verschlingen, wenn tausend zu ihrer Rechten fallen und zehntausend zu ihrer Linken, sind sie gefaßt; sie gehen auf Löwen und Ottern und treten auf junge Löwen und Drachen. Sie glauben nicht an Träume und fühlen kein Ungewitter, wenn es gleich schwer in der Luft liegt. Wer das Ungewitter vorempfindet, kommt schon in die Klasse dieser frommen Riesen nicht. – Diese Unbesorgte sind stark genug, allem, was ihnen entgegen will, auf der Stelle stattlichen Widerstand zu thun und überall das Feld zu behaupten. Den frommen, guten Seelen aber, welche ein plötzlicher Ueberfall gleich zu Boden reißen würde, ist eine Warnung vor einem kommenden Unglück nothwendig. Die Ahnungen sind ihnen Wecker zur Fassung, zur Geduld, zur Gottergebung; sie sind Sturmglöckchen, die sie zum Oelkruge bringen, ihr verlöschendes Lämpchen aufzufrischen. – Diese Seelen sind fast zu schwächlich für diese Welt, wo so viel Streit, Jammer und Elend ist. – Ich bin schon in dergleichen Fällen gewiegt, sagte der Prediger, der selbst die Ahnungsgabe zu besitzen glaubte; ich konnte mich, fuhr er fort, in diese pünktlich treffende Erzählung Minchens finden; da sie alles wußte, warum sollte ich länger zurückhalten? Dergleichen Ahnungsbegabte pflegen sich die Sachen nicht leichter zu machen, und selbst der Zweifel, der sie, sie mögen noch so weit in der Selbstweissagung, in der Ahnung gediehen seyn, bekämpft, ist ein Kampf, und Kämpfen macht Mühe.


Kurz, der Prediger las Minen alles und jedes und auch das vor, was ich meinen Lesern verkürzt habe. – Gott Lob und Dank, sagte Mine, daß ich sterbe! Bei der Aussage des Kegler, daß sie zum Mord angeführt, und den Worten: daß sie sich aus einem Mordmesser kein Gewissen gemacht haben würde, sagte sie:
[301]

Soll's ja so seyn,

Daß Straf' und Pein

Auf Sünden folgen müssen,

Herr, fahr' hier fort,

Nur schone dort!


Ich muß Ihnen gestehen, lieber Beichtvater, fuhr sie zum Prediger fort, daß der Vorsatz, mir selbst das Leben zu nehmen, der wieder, wie ich die Gewaffneten sah und Catharinen hörte, in mir Feuer faßte – daß dieser Vorsatz mir oft, oft als etwas vorgekommen, das mir meine letzte Stunde erschweren könnte. – Nun sind diese Stiche hin – ich habe nichts, nichts mehr, was mich drückt, und ich fühle es: ich werde selig und ruhig sterben und, wie Alexanders Mutter singt, wenn mir die Gedanken, wie ein Licht, das hin und her wankt, bis ihm die Flamme gebricht, vergehen, werde ich sanft und still einschlafen – ich werde ausgehen wie ein Licht. Sagt man nicht: Er ist ausgegangen wie ein Licht?

Gott, so war ihr Ende auch wirklich! Ihre Ahnung ließ sie nicht zu Schanden werden, pünktlich traf sie ein. – Allein Mine blieb nicht fest bei diesen beruhigenden Vermuthungen. Zuweilen schien es ihr schrecklich – zu sterben; sie nannte dieß Leben einen hellen Tag zwischen zwei dunkeln Nächten. Nur des Leibes wegen, setzte sie hinzu, nenne ich es so, meines Lebens besserer Theil, mein eigentliches Leben, geht nicht aus, stirbt nicht. – Wenn diese Anfechtungen Minen überfielen, wie es der Prediger nannte, kam es Minen vor, daß ihr letztes, letztes Ende vielleicht schreckhaft werden könnte, vielleicht ein Märtyrertod, so wie ihr Leben ein Märtyrerleben war.


Herr, fahr' hier fort,

Nur schone dort!
[302]

rief sie dann zu Gott empor, und ihr Busen hob die Decke, so schlug ihr das Herz.

Geschieht das am grünen Holz, was will am dürren werden? sagte der Prediger bei dieser Erzählung und bemerkte, daß er Minen auf diese Strophe aus dem Liebe gebracht, die er in einer Unterredung mit ihr verloren, im eigentlichen Verstande, fügte er hinzu, verloren; denn sie, das weiß Gott, hatte nur mein Trostamt nöthig. Ich durfte nicht zu ihr sagen: wache auf, die du schläfst, und stehe auf, um noch so viel in dieser Welt gut zu machen, als du kannst. – – Sie war die Unschuld selbst.

Minens Trost bei dem Gedanken, daß ihr Ende nicht sanft seyn und daß sie nicht wie ein Licht ausgehen würde, war, daß auch dieß sein Gutes haben könnte. Das Sterbebette ist weit mehr, als das Grab, die Schule der Weisheit, bemerkte der Prediger. Man erlangt ein anschauendes Erkenntniß, wenn man den Todten da sieht. Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch.

Sie nahm ein feierliches Versprechen vom Prediger, mir ihren Tod auf das aller-, aller genaueste zu erzählen. Ist er schrecklich, ist er sanft, wie er war. Alles, alles ihm! Er braucht Lebenslehren; wenn ich sie ihm zurücklasse, so werden sie ihm, das weiß ich, desto werther seyn.

Eines Morgens – die Sonne ging unbewölkt auf – war Mine schwächer als je. Alle Fäserchen verloren ihre zusammenziehende Kraft. Mine empfand diese Schwäche, und dieß bewog sie, Gretchen sehr zeitig zu sich bitten zu lassen. Sie bat sie um Licht, damit sie ihre Briefe zusiegeln könnte. Es war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott und seiner Huld und Gnade und bat, mich tausendmal zu grüßen – tausendmal, und mir dieses Pack (sie gab es ihr) und noch andere Sachen zu behändigen. In seine eigenen Hände! sagte sie, und eine Zähre floß sanft ihre Wangen herab. – Minens Auge und Herz brach zu gleicher Zeit.[303] Grete konnte nie an diesen Herz-, an diesen Augenbruch denken, ohne bitterlich zu weinen. – Mine erholte sich indessen mit dem Tage, der sich auch er holte. Was sie nach der Zeit schrieb, konnte sie nicht mehr versiegeln. Sie nahm die Verabredung mit Gretchen, diese Postscripte gleich nach ihrem letzten Hauch an sich zu nehmen und sie mir zu geben.

Von ihrem Begräbnisse sprach sie wenig oder nichts. Zuweilen äußerte sie den Wunsch, und auch dieß nur beiläufig, unter ihren Verwandten begraben zu werden. Mitten unter ihnen – da hat man doch gleich Bekannte bei der Auferstehung um sich herum, sagte sie.

Ich, das bat sie sehr, und es ward ihr heilig versprochen, sollte bei ihrem Begräbniß seyn. Vielleicht wünschte er mich noch zu sehen. Der Arme! trösten Sie ihn; ich sterbe dem Herrn, unserm Gott, ich sterbe als Alexanders Freundin. Er hat mir geschrieben, daß er gern eine Haarlocke von mir hätte. Wenn er nicht vor dem Haar einer Todten zurückbebt, kann er sie nehmen. Gott sey ihm gnädig!

Der Tod grub jede Stunde näher, um Minen ans Herz zu kommen. Sie lebte zwar nach dem dunkeln Morgen noch einige Tage, allein es waren nur noch wenige Tropfen im Kelch. – Sie klagte wenig über Schmerzen: Was ich dulde, dulde ich Gott. Kopfweh, Brustschmerz und ein schleichendes Fieber waren die Zerstörer ihres Lebens.

An einem sehr schönen Morgen kam der Prediger zu ihr. Gretchen war schon da. Sie nahm den Prediger und Gretchen bei der Hand. Dank, Dank für alles Gute! Gott lohne Sie, sprach sie sehr leise – für alles, für alles! – Sie sprach noch schwächer, stammelte, schwieg, blickte sehr schnell auf, sah Gretchen,[304] sah den Prediger an, hob ihr Haupt, fiel zurück, schloß ihre Augen und (Gott, mein Ende sey wie ihr Ende!) starb. – –


* * *


So war die Ahnung der Seligen erfüllt, daß sie des Morgens sterben würde. Der Tag, der letzte Tag für Minen unter der Sonne ging schön auf, und blieb wie er anfing. Gretchen war außer sich, sie war nicht von der Seligen zu bringen. O, der letzte Tropfen Todesschweiß, schrie sie, wie er da starr steht! Und der Prediger: Gott hat abgewaschen die Thränen von ihren Augen; sie ist eingegangen zu ihres Herrn Freude! – Mir fielen, sagte er, da er mir diesen Sterbenslauf und den Umstand, daß sie ihr Haupt gehoben, erzählte, die Worte ein:

Wenn dieses anfäht zu geschehen, so seht auf und hebt eure Häupter auf, darum, daß sich eure Erlösung naht. Die Predigerin, als ob es ihr jemand gesagt hätte, empfand, daß ein Todter in ihrem Hause wäre, und ward so unruhig, daß der gute Prediger Mühe hatte, ihr alles auf eine für sie erträgliche Art beizubringen. Er und seine Tochter konnten nicht von der Leiche kommen.

Gretchen nahm, um den letzten Willen der Seligen zu erfüllen, ihre Briefe an sich, die sie neben ihr fand. Sie küßte sie und bat ihren Vater, sie zu versiegeln. – Sie lasen beide keine Sylbe.

Der Prediger schrieb an seinen Bruder in Königsberg, mich zu erfragen und mich zu allem vorzubereiten. Er bat ihn, Sorge zu tragen, daß ich wohlbehalten nach L– käme. Wagen, Pferde und Vorlegpferde, alles war von dem Testamentsvollstrecker besorgt. Den Bruder bat er nur halb, mitzukommen; denn er wußte nicht, daß ich ihn kannte und daß er in Königsberg mein Beichtvater wäre, so wie er es in L– von Minen gewesen.[305]

Ich darf, nach diesem Umstande, es meinen Lesern nicht näher legen, daß dieser Bruder eben der königliche Rath, der Menschenleser, war, mit einer offenen, weit offenen Stirn, schwarzem Haar und einem Auge, in dem man ihn zwar im Kleinen, allein doch ganz sah, und dessen Abendgesellschaften aus einem Officier, einem Collegen, einem Prediger, einem Professor und mir bestanden.

Der königliche Rath hat nicht nöthig, mich zu erfragen. Er ließ mir sagen, daß er gern den Abend mit mir theilen möchte. Ich kam und fand nicht den Collegen, den Prediger und Professor, sondern bloß ihn. – Mit einer Klugheit, die ihres Gleichen nicht hat, bracht' er mich auf meine Liebe, wovon sein Bruder ihm wiewohl nur gerade so viel, als ihm höchst nöthig zu seinem Auftrage war, entdeckt hatte. Ich wußte, wo ich war. – Deutlich vermuthete ich aus einigen Stellen unseres Gesprächs, daß der königliche Rath von meiner Geschichte unterrichtet war. Das Vierteljahr, und noch viele Wochen darüber, waren längst überschritten, ohne daß ich das Tagebuch erhalten. Da ich auf alle meine Erinnerungen und Briefe keine Sylbe erhielt, schlug die Ahnung wie ein Blitz bei mir ein, ohne daß ich mir diese Ahnungsgabe je zugeeignet habe, noch jetzt zueignen darf: »Mine ist – – – hier!« Wo ist sie, theuerster Herr Rath, fragte ich, wo? Das Feuer, womit ich sprach und womit ich ihm mein Herz völlig aufschloß, erlaubte diesem feinen, sehr feinen Menschenkenner und eben so großen Menschenfreunde nicht, mir alles zu entdecken. Ich erfuhr nur, daß Mine in L– bei seinem Bruder wäre, daß sie krank gewesen, und daß sie sehr krank gewesen. Ich würde mit – obgleich mein Bruder mich nur so, als wollt' er mich nicht, gebeten – sagte der Rath – allein der königliche Dienst –

Wie mir war, kann ich nicht schreiben, ich hab' es selbst nie aussprechen können. – Gleich so, wie ich stand und ging, wollt' ich in den Wagen. – Er versicherte mich, daß ich nicht nöthig[306] hätte, mich zu übereilen, und daß es schon besser mit ihr wäre. Tausendmal wollt' es mir einfallen sie ist todt; allein es wollte nur, ich ließ es nicht dazu. Ich stieß diesen Einfall mit allen Kräften fort und bäumte mich so dagegen, daß ich auch wirklich nur kurz vor L– mich davon überzeugte. Wenn ich auf die Gegenstände Acht gehabt, welche mein Lehrer abhandelte, würd' ich freilich nicht bis kurz vor L– ungewiß geblieben seyn – ich hatte, die Wahrheit zu sagen, nicht das Herz, auf diese Gegenstände Acht zu haben. Es waren alles Trostgründe unter fremden Namen; unter ihrem eigenen taugen Trostgründe ohnedem nichts, sie müssen alle incognito kommen. – Ich hatte nicht das Herz, den Fuhrmann eher als kurz vor L– nach Minen zu fragen. Hundertmal wollt' ich und hundertmal konnt' ich nicht. Da griff ich Herz, und der gute Fuhrmann, dem freilich verboten war mit der Thür ins Haus zu stürzen, sagte mir eben alles, da er mir nichts sagte, oder nichts sagen wollte.

Gott! mehr konnt' ich nicht. Der Fuhrmann bot mir ein Glas Wasser an, um die Sache gut zu machen, allein ich hatt' es nicht nöthig. – Ist's Betäubung, oder was ist eine solche Stärke?

Auf dem Kirchhofe, kurz vor dem Pastorat, ergriffen mich Schauer auf Schauer, und ich fing an zu zittern und zu zagen.

Der Pfarrer und seine Tochter kamen mir entgegen. Ich hatte kein Wort, ich glaub', auch keinen Ausdruck im Vermögen, wenn es mir das Leben gekostet hätte. Der Pfarrer, der, wie er mich versicherte, selten einen so an Seel' und Leib gesunden Jüngling gesehen hatte, sah mir alles, alles an. – Gretchen wußte nicht, was sie denken sollte. Todt! fing ich nach einer schrecklichen, stummen Scene an, und todt! war alles, was ich konnte. – Der Pfarrer wußte auch nicht, nachdem er mich sah, womit er anfangen sollte. Alles, worauf er sich vorbereitet hatte,[307] war nicht anwendbar. Er hatte sich ein anderes Bild, wie er mir nachher entdeckte, von mir gemacht.

Todt, alles todt! sagte ich und hielt mir den Kopf mit der rechten Hand. Der Pfarrer ergriff meine linke. Fassung! sagte er so furchtsam, als wenn er zu fehlen glaubte, als wenn er selbst nicht wüßte, was er sagen sollte, als wenn er selbst nicht gefaßt wäre. Er war es wirklich nicht, der gute Mann, Gott, der dieser Zeit Leiden so einrichtet, daß wir's können ertragen, ließ mich nicht lange in dieser schrecklichen, erschrecklichen Lage, in diesem: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Sie ließ Sie tausendmal grüßen, sagte Gretchen, und dieß Wort wirkte auf meine Empfindung, die Spannung ließ nach. – Mein Auge bezog sich. – O Mine! sagt' ich mit einem Ton, der Gretchen durch Mark und Bein ging; auch den Prediger traf er. Sie weinten beide – auch ich fing an zu weinen, allein heftig. Das Donnerwetter hatte sich noch nicht völlig verzogen; es donnerte und blitzte während dem heftigen Regen.

Oft hab' ich darüber gedacht, wie es zugegangen, daß ich nicht sogleich gerungen, sie zu sehen. – Nun fiel es mir auf einmal ein: Wo ist sie? wo? fing ich an, und da war sie auch schon in meinen Armen, an meinen Lippen.

Gott, welche Scene! – – O Mine! Mine! Mine! Mine! Mehr konnt' ich nicht, ich fiel zurück – eine Seelenohnmacht ergriff mich. – Der gute Prediger und seine Tochter sagten abwechselnd: Sie ist bei Gott! mehr konnten sie auch nicht. Wir waren alle drei so lebensmüde und satt, daß wir gern, gern all' zusammen da gestorben wären: gern, um in Minens Gesellschaft zu seyn. Gott, ist sie denn nicht werth, daß man ihretwegen stirbt? Sie war mir alles, fing ich an und weinte; Welt, Leben, alles! sagt' ich und weinte bitterlich.[308]

Geliebten Leser und Leserinnen, habt Mitleiden mit mir; auch jetzt, da ich dieses schreibe, weint' ich und weine bitterlich.

Nach einer langen Weile, da ich mit starrem Blick sie angesehen, sprang ich auf und schrie: Sie lebt! Noch diese Minute weiß ich nicht, wie ich zu diesem: Sie lebt! kam. – Ich drückte sie fest an mich, und stehe da – – ich fühlt einen warmen Odem. – Der Prediger kam, Gretchen kam, alles mir nach: Sie lebt! – Minchen, rief ich, du lebst! du lebst! Steh auf von den Todten! Erwach! erwach! du schläfst nur! Mine, Weib meiner Seele! sieh auf! sieh nur noch einmal auf! Nur noch ein Wort, Mine, nur ein einziges! Der Prediger machte Proben mit dem Odem, wie es schien, und das nicht ohne die Fassung, die eine jede Probe erfordert. – Sie lebt! schrie er mit einer erprüften Gewißheit, daß ich vor Freude außer mir war. Es ging so weit, daß wir lebendiges Blut in ihrem Gesicht bemerkten und froh und fröhlich waren. Wir haben einen Gott, sagte der Prediger, der da hilft, und einen Herrn, der vom Tode errettet.


* * *


Sie lebt nicht! hin ist hin! – Wir haben einen Gott, der da hilft, und einen Herrn, der vom Tode errettet. Dort lebt sie, dort wird sie leben, dort! Ich werde sie eher nicht wiederfinden, als unter den Vollendeten Gottes, die zu seinem Reiche gekommen sind. – Heil denen, die gekommen sind aus großem Trübsal und die dort rühmen können, daß der Zeit Leiden nicht werth sind der Herrlichkeit, die an ihnen offenbar werde.

O Gott, dieser Lebensstunde, wie viel bin ich ihr nicht schuldig? Dieß war der Engel, der mich stärkte. Es war so, als ob die Selige mir Trost eingehaucht und einen himmlischen Odem verliehen hätte. Ich fühlte mich kräftig. Bald, bald werd' ich seyn, wo sie ist, bald bei ihr seyn!

Durch das eingebildete Leben ward ich lebendig. Sind wir[309] Menschen nicht besondere Geschöpfe? Oft tröstet uns, was uns mehr niederschlagen sollte.

Wir blieben ein paar Stunden bei der Leiche. Der Prediger machte nun wieder Entgegenproben. – Nachdem wir die Leiche verließen und der Prediger mich, nach seinem selbsteigenen Ausdruck, wie umgekehrt fand, nahm er mir ein Versprechen ab, ihre Hülle, ihr Erdenkleid nicht mehr als noch einmal zu sehen. – Er machte dieß zur Sache Gottes, und ich versprach – und hielt. Gott weiß, wie schwer es mir ward.

Ich aß wenig, trank noch weniger. Der Prediger glaubte, daß ich nach so entsetzlichen, sprachlosen Stunden Ruhe nöthig hätte. Gott schenke sie Ihnen! setzt' er hinzu. – Wir gingen ein jeglicher in sein Kämmerlein, wie über ein Kleines jeglicher in sein Grab gehen wird am Ende seiner Tage – allein welch eine Nacht! – Mein Herz schlug ein anderes Kapitel auf. – Die Verklärte hätte mich ihres Ablebens wegen zuvor mit verklärt; allein jetzt fiel es mir ein: wie kam Mine nach Preußen? Ich Unglücklicher! so nahe bei ihr. Diese Sandkörner wurden mir zu Bergen, ich drückte die Augen zu, um diese Vorstellungen zu erdrücken, allein dieß war eben der Weg, noch mehr zu sehen. – Ich sah im eigentlichen Sinne Gespenster. Anfangs fuhr ich auf und nachher wimmert' ich – ich wußte von nichts, was ich that. Im Bette hatt' ich nicht Raum mit allen diesen Dingen.

Der redliche Prediger hatte sein Kämmerlein neben mir genommen. Anstatt schlafen zu gehen, zog er also eigentlich auf die Wache, um, wenn es nöthig wäre, bei der Hand zu seyn. – Der Schlaf floh auch ihn, und es war mir besonders, daß wir alle im Hause nicht eher eine ruhige Schlafstunde hatten, so müd' und matt wir auch waren, als bis Mine begraben war. Der Prediger meinte, daß es ein unempfindliches Herz verrathen würde, in einem[310] Hause schlafen zu können, wo ein noch uneingesargter Mensch läge. Er wenigstens hätt' es, wie er sagte, nie können.

Man bildet sich ein, dünkt mich, zu sterben, wenn man so nahe bei einem Todten einschlafen sollte, und fürchtet sich vor dem Schlafe – daher die Leichenwachen; oder aus einem andern Gesichtspunkte: man sieht sich selbst todt, wenn ich so sagen soll, bei einem mit Händen zu greifenden Leichnam. Die Aegyptier würden nicht bei einer Leiche haben essen und trinken können, dafür steh' ich.

Wir blieben zusammen. Der Prediger hielt für's dienlichste, mir die ganze Sache so, wie sie war, darzustellen, und in Wahrheit, das ist das einzige Mittel zur Beruhigung. Wenn ein Unglücklicher die Grenzen seines Unglücks wissen will, meßt sie ihm gleich ganz und gar zu – keinen Strich weniger, ihr macht ihn sonst bei jedem neuen Zuge unglücklicher – ihr laßt ihn einen so vielfachen Tod sterben, als ihr Absätze, Rückhalte und Punkte macht; ich selbst kann zum Belege in Rücksicht dieser Bemerkung dienen. Was der lebendige Odem Minens gestern Abends war, das war die Geschichte des Predigers heute Morgens. – Gretchen kam, hörte was vorging, und holte mir das Depositum. Da hatt' ich nun Minens Geist in allen Händen. Ewig werth sind mir diese Papiere; wenn ich sterbe, sollen sie mein Kopfkissen im Sarge seyn. – Das, so der Prediger besiegelt hatte, war das erste, welches ich las. Aus dem versiegelten Pack wissen meine Leser schon, was mir schien, als könnt' es ihnen wissenswürdig seyn. Vielleicht ist ihnen vieles nicht also? Verzeihung in diesem Fall geneigter Leser. Ich hab' es oft, nie aber so sehr als hier gefühlt, wie schwer es sey, mit ich anzufangen. Pilatus und Herr v. E. sagen: Was ich geschrieben habe, das hab' ich geschrieben. Schade, sonst würd' ich's auch auf mich anwenden.


[311] Minchens letzte Schrift

aus Gretens Händen.


Das letzte, was ich in dieser Welt schreibe, sey dein. Gott, der Herr, der Herr! sey mit dir! Wenn ich sagen würde, ich ging' ohne Wunsch aus der Welt, noch länger hier zu seyn, würd' ich einen falschen Eid vor Gottes Gericht zu verantworten haben. Eng ist die Pforte, durch die ich mich dränge – allein wenn ich durchgebrochen – ich fühl's, was für Erquickung mir entgegenwehen wird. Meine Seele sehnt sich nach Ruhe, nach dem Sabbath! – Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rührt sie an. Ich liebe dich, ich liebe dich! Gern' hätt' ich dich noch in der Welt gesehen und gesprochen – geküßt – jetzt nicht mehr, so gern ich dich sonst geküßt habe. – Deine Hand hättest du mir aber reichen müssen. Ich war immer stark an ihr – und nun hätt' ich die Stärke aus ihr herausgenommen. – Ich sterbe darum getrost, weil ich unserer Liebe wegen Gott geopfert werde und ihm und seinem Gebot sterbe. Ich sterb' einen Märtyrertod und fühl' es, wie weit leichter es seyn muß, so und nicht anders zu sterben. Zwischen Tod und Tod muß ein großer Unterschied seyn, das kann ich besser wissen, wie du. – Wir werden uns wieder sehen, Lieber! Lieber! Lieber! Mit diesen Augen werd' ich dich sehen, mit diesem Herzen dich lieben, mit diesem Herzen – wie schwach ist's, sehr schwach! Ich will die letzte Kraft abwarten, das letzte Aufflackern meiner Seele. – Ich habe meinen Geist in die Hände Gottes befohlen; so lange ich mich noch ganz besaß. Jetzt sterb' ich allmählig! Bald vollbracht! Ihm, dem Vater aller Barmherzigkeit und alles Trostes, sey Lob und Preis für alles, für alles! Er schlägt und heilt, er verwundet und läßt genesen. Oft dacht' ich, er hätte sich von mir gewendet; ich rief und er antwortete nicht, allein er erlöste mich gewaltiglich aus aller Noth. Bald vollbracht, bald! Ich dachte schon nicht mehr in dieser Welt zu schreiben, denn es überfiel mich sehr plötzlich, allein ich habe noch viel zu schreiben; würde[312] mich der Tod übereilt haben, hätt' ich's mündlich zurücklassen müssen. Wie oft ich gewünscht und mich gesehnt habe dich noch zu sehen, weiß Gott, der Herr! Der Arzt widerrieth es, und der liebe Prediger auch. Gottes heiliger Wille ist geschehen. Ich hatte mich schon ziemlich erholt – nicht zum Leben – nein, dich zu sehen, und diese Hoffnung, eben diese, diese Hoffnung frischte mich zusehends auf. – Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, seine Wege sind nicht unsere. Bald hätt' ich dir wieder erzählt, was du schon weißt – mein Kopf ist schwach, sehr schwach. – Daß es keine Sünde ist, dich zu lieben, kann ich am besten jetzt entscheiden – jetzt, wo über das ganze Leben entschieden wird. Es entgeht mir nicht das mindeste von allem, allem! allem! was ich von Jugend an gedacht und gethan – über alles hält das Gewissen Gericht! – Verzeihe mir, Herr, alle meine Fehler, dein harret meine Seele, meine müde Seele! Du allein, Herr, schenkst den Beladenen Ruhe, Seelenruhe. Dein Joch ist sanft, deine Last ist leicht, schon hier sanft und leicht, allein noch mehr sanft und leicht, wenn man auf die Zukunft sieht. Vor Gott ist kein Lebendiger gerecht; allein glaub' mir, mein Lieber, ich bin ruhig – und ich bin der festen, festen Zuversicht, daß, der hier in mir angefangen hat das gute Werk, es bestätigen und vollführen werde bis an den letzten Gerichtstag. Ich liebe dich, mein Lieber, Gott weiß es; er weiß auch wie. Es ist eine andere Liebe, wie in – – auf dem Kirchhofe, mit der ich dich jetzt sterbend liebe. Ueber all' unsere Liebe hat mich das Gewissen gleich losgesprochen, gleich ohne Umstände. – Das kann ich dir zum Trost schreiben. O Gott, wär' doch dieß zureichend, dich zu trösten! Wenn ich wüßt' und glauben könnte, daß es dir zum größern Trost gereicht, wenn du mich gesehen und mich gesprochen, was würd' ich mir für Vorwürfe machen! Wahrlich, dann hätt' ich mich sehr an dir versündigt. – Ich glaube nicht, daß es dir[313] tröstlicher gewesen wäre – ich glaub' es nicht – und dieser Gedanke beruhigt mich.

Ich will, ich werd' an dich denken, mein Geliebter, auch in meinem Letzten, Allerletzten! – Verlaß dich drauf und sey nicht unruhig, daß du mich und ich dich nicht noch gesehen. – Wir werden uns doch kennen, wie ich hoffe, daß Leib und Seele, wenn sie gleich lange durch den Tod und Grab getrennt worden, sich gleich wieder kennen werden. Das wird eine Freude seyn! All' diese Freuden stehen mir vor und auch dir. O, selig sind die Todten, die im Herrn sterben! – Deinen Namen, mein Geliebter, will ich tausendmal aussprechen und dir die kalte Hand zureichen, wenn du auch nicht da bist. Deinen Namen will ich mir auch beim Scheiden vorstammeln, so daß ich noch mit der letzten Sylbe bis in den Himmel, bis in die andere Welt lange. Ich werd', ich kann ihn nicht vergessen, auch wenn ich deinen himmlischen Namen erfahre, will ich deinen irdischen nicht vergessen! Ich habe dich sehr, sehr geliebt! mehr als du gedacht, mehr als ich dir gesagt habe und sagen konnte. Meine Mutter will ich dort von dir grüßen und ihr sagen, welch ein guter, edler Junge du gewesen bist bis in meinen Tod. – Gott sey mit seiner Gnade, mit seinem Segen über dir, hier zeitlich und dort ewiglich. Das fühl' ich im Sterben, im Sterben! bei der letzten Probe von dem, was gut ist und was es nicht ist. Das fühl' ich, daß eine Liebe, wie die unsrige, eine himmlische Liebe sey. Sie war nicht für diese Welt, sie war nicht von dieser Welt. – Ich empfehle dich Gott und seiner Gnade, der walte über dich. – Wieder schwach – ich lege die Feder noch nicht weg – ich hoffe Stärke. Nein – schwach noch immer, sehr, sehr schwach!


* * *


Noch schwach, allein so sehr nicht, wie gestern. – Gegen Abend bin ich immer matter, so geht's allen Kranken. Der Prediger[314] sagt, daß die meisten mit dem Tage sterben, sie gehen des Abends zur Ruhe. Mir ahnet, daß ich des Morgens sterben und zu meiner Ruhe eingehen werde. – Wie Gott es beschlossen hat. Nicht was ich will, sondern was Gott will. Die Stunde des Todes ist Gottes Sache – ihm sey alles anheimgestellt! Laß mich nur selig sterben! Gott, meine Zuversicht, laß mich vor dir Barmherzigkeit finden, im Tode! So wie das Leben ist, so ist das Sterben – bald schwach, bald etwas besser. Ganz gut ist's doch nicht hier, sondern dort. Der liebe Pastor, seine Frau und Gretchen sind gute Seelen. O lieber Gott, wie wird's in deinem Himmel seyn, wo dir alles nachmacht und so gut seyn will, wie du's bist! Da kommt Gretchen mit ihrer Mutter – ich soll zu Bette gehen. – Gott sey mit dir! – Ich denk' immer, wenn ich zu Bette gehe: wie wird's seyn, wenn ich begraben werde? wie? Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rührt sie an – das tröstet mich. Dieser Trost bleibt auch im Tod unüberwunden. Ich lebe dem Herrn, ich sterbe dem Herrn, im Leben und Sterben bin ich des Herrn!


* * *


Ich habe lange mit mir gestritten, ob ich dir das letzte Stück von meinem Tagebuch, das mit einem großen Kreuze bezeichnet ist, zurücklassen, oder ob ich's mit ins Grab nehmen sollte? Du weißt's, daß ich dir bis an das große Kreuz keine Klage über meinen Vater geführt habe, ich wollt's auch jetzo nicht. – Ich stritt lange mit mir, endlich und endlich hielt ich mich verbunden, dir, für den ich kein Geheimniß gehabt und haben kann, Rechenschaft von meinem Tode zu geben. Im Himmel hätt' ich dir ohnedem so was nicht erzählen können, und niemand weiß es, was ich weiß und was dir dieses Tagebuch sagen kann, außer Benjamin, und den hoff' ich auch dort zu finden. – Lies und fluche meinem Vater nicht, ich hab' ihm nächst Gott mein Leben zu danken. Würd' ich[315] nicht in dieser Prüfung gelebt haben, könnt' ich nicht Gottes Angesicht sehen und ewig genesen. Dort ist mein unbeflecktes Erbe mir aufbehalten im Himmel! Fluch ihm nicht, meinem Vater. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Grausamkeit ist meine Beförderung zur ewigen Ruhe. Mein Leib stirbt je länger, je mehr, und der Geist, sein Freund, nimmt oft mehr hieran Theil, als ich's gern sehe. Doch gibt's Stunden, wo ich fühle, daß meine Seele unsterblich sey, wo ich nicht sehe auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare; denn was sichtbar ist, ist zeitlich, was aber unsichtbar ist (o Gott, hilf mir!), ist ewig, ist ewig! Es ist meiner Seele oft so, als wenn man den Kirchthurm von dem Orte sieht, wo man hin will. Man denkt, man sey schon da. Ich habe heute mit meinem lieben Pastor wegen des Tagebuchs mit dem Zeichen des Kreuzes noch einmal gesprochen. Er nimmt es auf sich, dich zu allem vorzubereiten. – Fluche meinem Vater nicht, fluch' ihm nicht!


Darf ich hier eine Einschaltung machen? Dieß Kreuztagebuch lag im großen Pack. Nach einem großen Kreuze fängt es an:


An den geneigten Leser und an den ungeneigten Kunstrichter

Ob du je dieß Blatt und die Folge dieser Geschichte lesen wirst, weiß Gott, der alles weiß. Ich zittere, daß meine Ahnungen so haarklein eingetroffen sind. Wenn noch eine andere eintrifft, sehen wir uns nicht eher, als in der ewigen Freud' und Seligkeit. Wärst[316] du nicht, lieber Junge, in dieser kummervollen Welt, wie gern, wie herzlich gern! – Im Leben und im Sterben bin ich dein, und ewig dein! dein! dein!


* * *


Wieder Minchens Schrift aus Gretchens Händen:

Ein Testament, lieber Junge, ist mir von jeher was Feierliches, eine Herzenslust, eine Seelenwonne gewesen. Schon längst hab' ich darauf gedacht, dir eins zurückzulassen. Wo ich nur dazu kommen konnte, las ich Testamente, und wie sehr freut' ich mich, wenn ich eins gelesen hatte, daß die Leute oft in ganz gesunden Tagen bedenken, daß ihr Leben ein Ziel hat und daß sie davon müssen. Heute will ich mein Testament machen. Ein Testament in meinem neunzehnten Jahre! – So winkt Gott manchem am trüben Abend seines Lebens, manchem am heitern Morgen. – Komm, Herr, ich bin bereit!


Im Namen Gottes.


In deine Hände befehl' ich meinen Geist, treuer Gott und Herr! Wenn mein Haupt sich neigt, wenn mich nichts mehr erwärmt, wenn die Hände saftlos dahinsinken und der Puls, statt zu schlagen, zittert, als ob er selbst vor dem Tod erschrecke, sey nicht fern von mir, Gott, meine Hülfe! Sey mir nicht schrecklich, mein Gott, in meiner letzten Noth! Ich harre dein. Längst hab' ich den Tod kennen gelernt, denn ich bin schon viel und oft gestorben, wenn ich aber zum letztenmal sterbe, o Gott, hilf mir! Wenn ich heimfahre aus diesem Elend, sey mein Herr und mein Gott. Amen! Amen!

Dich, herzlich Geliebter, bekenn' ich sterbend als den meinigen! – Ich beschwöre dich, daß du über meinen Tod nicht trauerst, wie die, so nicht glauben eine Zusammenkunft der Auserwählten zu Gottes Rechten, und dann Freud' und Wonne in Ewigkeit vor dem Angesicht des Herrn aller Welt! – Ich setze dich zum Erben[317] ein alles dessen, was ich habe. Es sind Sachen, die du in deinen Händen gehabt; eben hierdurch hast du sie für mich geweiht. Nach unserer Trennung hab' ich auf nichts neues gedacht. Mache mit diesen Sachen, was dich gut dünkt. Ein Stück gib meinem Vater zum Andenken, wenn er's will; ich glaub', er wird wollen, und ein Stück behalte deiner Mine zum Andenken. Wenn eine Thräne auf dieß, dein Lieblingsgewand hinfällt (Gott laß sie sanft wie Thau fallen!), hast du genug Leid getragen um deinen Todten – und hiermit nehm' ich von dir, als meinem Mann, Abschied. – Ich danke dir für deine eheliche Treue, du hast mich herzlich geliebt. – Habe Dank, mein Seelenmann, für alles Gute, das du an mir gethan; für deinen treuen Unterricht, für dein Beispiel, für alle, alle Proben deiner Liebe! – Gott lohne dir für alles zeitlich, geistlich und ewig! Meine Sinne sind ausgetrocknet. Fast hab' ich keine Thränen mehr, um diese Wünsche zu begleiten. – Da quillt eine empor! sie sey dir zum Segen geweint, Amen! Nun meine feierlichste Bitte, mein Beschwur. – Ich bitte dich vor Gott und nach Gott, ich beschwöre dich bei allem, was heilig ist im Himmel und auf Erden, und nach diesem hohen Schwur – bei meinem letzten, letzten Seufzer, bei meinem letzten Todesstoß, bei meinem letzten warmen Hauch – dich zu seiner Zeit ehelich zu verbinden! Gott segne dein Weib und die Kinder, die sie dir schenken wird! Wir sind geschieden, Gott hat uns verbunden und geschieden, der Tod bringt uns den Scheidebrief. Von diesem Augenblick an, da ich dieses schreibe, bist du nicht mehr mein Mann. Das letztemal nenn' ich dich meinen Mann, o Gott, das letztemal! – Und von diesem Letztenmal bist du nicht der meinige, sondern der Mann deines künftigen Weibes. Wenn dir ein Sohn stirbt, schreckliche Ahnung! sey er mein in der andern Welt – ich will mich mit ihm verbinden, wie sich Engel Gottes verbinden, und deine himmlische Schwiegertochter werden. Da kommen dir dann und deinem[318] künftigen Weibe entgegen ich, meine Mutter, dein Sohn – und lehren dich in der Stadt Gottes die Häuser kennen. Halleluja! Halleluja! Amen!

Ich bat Gott um einen Engel mit Stärkung aus seiner Höhe; er sandte mir seinen Knecht auf Erden, die auch des Herrn ist. Er ließ mich essen aus seiner Hand und trinken aus seinem Becher. Es ist bei weitem nicht dein Vater, allein er ist auch ein treuer Diener seines Herrn, nach der Gabe, die er empfangen hat. Seine Tochter Gretchen drückte mir den Kopf zusammen, wenn er auseinander fallen wollte, eh' es Zeit war – und seine Frau, man sagt, sie sey schwermüthig, allein ich sage, sie ist entzückt, sie hört und sagt Worte, die übermenschlich sind. – Sie war mir als eine Gereisete, die zu erzählen wußte, wie's dort zugeht. – Der Mann sanft, wie Johannes, den der Herr lieb hatte – sie eine Hanna.

Er hat mich getröstet, da nichts mehr Mark und Bein erquickte, da kein Trunk mich labte, und das Wasser selbst, wie's der liebe Gott gibt, mir schal schmeckte – ich durstete nach dem Wasser des Lebens. Bald, bald! – Zehn- und mehrmal war mir der Puls abgelaufen, sein Trost zog ihn, so daß ich's recht merken konnte, auf – freilich nur auf wenige Stunden; allein glaub mir, je näher am Tode, desto köstlicher die Zeit. Wenn du dich diesem Priesterhause verbinden kannst, thu' es. – Es sind all' zusammen gute, genügsame Leute, die nicht aufs Sichtbare sehen, sondern auf die Erscheinung des Herrn warten.

Schon oft hab' ich gebeten, und ich wiederhol' es noch einmal in diesem meinem letzten Willen, meinem Vater nichts zuzurechnen. Vergib ihm, o Lieber, vergib ihm! so wie du willst, daß mir und dir Gott vergebe. Kannst du ihm helfen, hilf ihm. Meine Flucht kann ihn vielleicht in noch schlechtere Verfassung bringen, als er[319] schon war, da er die Schule aufgegeben hatte. – Vergib ihm und dem v. E. – – so wie ich beiden vergebe. – O es ist eine schöne Sache, zu vergeben. Vergib ihnen alle Leiden, die sie mir gemacht und auch dir. – Du kannst in deiner eigenen Sache nicht Richter seyn. Mein Leiden und Tod trifft dich zu nahe; vergib allen alles – den Essig und Galle am Kreuze – sie wissen nicht, was sie thun! Oft denk' ich an den Tod des größten Todten, der uns ein Vorbild ließ, nachzufolgen seinen Fußstapfen, und dann bin ich froh über die Kriegsknechte, welche die Widdem besetzten, und über so manchen Pilatus, der nur den Leib tödten kann und die Seele nicht, worunter ich aber den ehrlichen Nathanael nicht rechne; denn wahrlich, er that mehr, als sich die Hände waschen. – Sag ihm, wenn du ihn in dieser Welt sprichst, daß ich ihm von Herzen vergeben habe. Seit der Zeit, da er mich schreckte, war es vollbracht, alles vollbracht! Wenn mein Bruder lebt, gib ihm den Brief, den ich deinem großen, von mir versiegelten Pack beigelegt. Meinem Vater gib auch den seinigen. Kannst du meinen Verwandten in Mitau förderlich und dienstlich seyn, sey es. – Gott wird dich lohnen; er segne dich mit reichlichem Segen, mit mehr als einem Segen. Amen! Ueber ein Kleines werden wir uns nicht sehen, und über ein Kleines werden wir uns sehen; ich gehe zum Vater. Diese Worte hat mir der liebe Pastor in L. so eindrücklich gemacht, daß sie mich stärken für und für. Grüße deinen Vater und Mutter – ich küsse beiden die Hände. Gott laß es ihnen wohl gehen, ewig, ewig wohl! – Ich bin matt, sehr matt! – Wenn mein Bruder mir im Himmel zuvorgekommen ist, denk an das Grab meiner Mutter, damit es nicht verfalle, sondern ein Grab bleibe; denk an alle heiligen Orte, von denen ich meinem Bruder geschrieben habe. Ich bin – –, nahe am Kirchhofe, in die Welt gekommen, in L. nah' am Kirchhofe geh' ich aus der Welt. Ich verbiete dir nicht, an mich zu denken,[320] allein thu es nie, wenn du allein bist, sondern im Beiseyn der Deinigen, damit du stark bleibest. Amen!

Dieß ist mein letzter Wille, den du in allen Stücken und besonders wegen meiner feierlichsten Bitte vor Gott und nach Gott erfüllen mußt, so wahr dir mein Andenken lieb ist. Nun zum letztenmal Amen! Angefangen früh Morgens, geendigt um sieben Abends den – – 17 –.


* * *


Nach diesem Testament, das sie den Tag vor ihrem Tode gemacht hatte, schrieb sie nur noch folgende Zeilen:

Sey gut – ich kann nicht mehr. – Nach diesem Elend ist uns bereitet ein Leben in Ewigkeit, – Heilig, heilig, heilig, ist Gott, der Herr! – Hinauf! hinauf! ich kann nicht mehr! – aber denken, beten, segnen noch – noch – noch! – Lebe wohl, wohl! wohl!

Noch sehr unleserlich und immer in die Höhe standen die Worte: Ich bin bereit – komm, Herr! – Schmerz – Angst, keine – im Himmel – Lieber.

Wie sehr mich diese Zugabe gerührt hat, ist unaussprechlich – alles himmelan! Sie ist entgangen! Gott helfe auch mir und allen, die seine Erscheinung lieb haben, kämpfen den guten Kampf des Glaubens und den Lebenslauf vollenden. Ihm sey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit!


* * *


Den Brief an ihren Vater, dessen sie erwähnt:


Mein Vater!

Wenn Sie diesen Brief lesen, hat Ihre Tochter alles geendigt, alles! – Sie hat ausgerungen, ausgekämpft – überwunden. Ihr ist wohl, ewig wohl! Sie ist bei ihrer Mutter in der ewigen Freude und Seligkeit, verklärt und herrlich! Halleluja! – Ich mache dem Herrn v. E. keine Vorwürfe, und habe meinen Geliebten[321] gebeten, auch keine zu machen, sondern ihm alles zu verzeihen, so wie ich alles dem Herrn v. E. verziehen habe und jetzt mit sterbender Hand verzeihe. Wenn ihn mein Tod auf den Gedanken bringt, daß die verfolgte, unterdrückte Tugend den großen Vorzug habe, sterben zu können (wahrlich, ein großer Vorzug!), so wird er einsehen, daß sie über alle Gewalt erhaben sey, und sie eben darum vielleicht hochschätzen lernen. Möchte er es doch!

Ihnen, mein Vater, wünsche ich Gottes Gnade und Segen. Es gehe Ihnen wohl, sehr wohl! Unser Leben ist kurz; Sie sind älter als ich. – Was ist doch die ganze, ganze Welt, wenn's zum Sterben geht? – Sollte es Ihnen in dieser Welt noch fehlen, sehen Sie meinen Geliebten als Ihren Freund an, der Sie nicht verlassen, noch versäumen wird. Ich empfehle mich Ihrem Andenken. Meine Mutter werde ich von Ihnen grüßen, und wie froh werde ich seyn, Sie, mein Vater, einst dort wieder zu finden und meiner Mutter diese feste Hoffnung zu geben. Es wird ihr, das weiß ich, eine große Freude seyn. Leben Sie wohl, leben Sie wohl! – – ewig wohl!

Der Brief an ihren Bruder Benjamin ist eine Wiederholung ihres von ihm genommenen Abschieds, da sie in – – sich schieden, und der Uebergabe und Einweisung in Rücksicht aller heiligen Orte, unter denen das Grab ihrer Mutter das vornehmste war. Sodann die Eröffnung, daß sie mich auf seinen Todesfall in dieser Aufsicht substituirt hätte; und auch im Leben, schreibt sie, wird er dich unterstützen. Er liest diesen Brief, den ich ihm offen lasse.

Ich lernte die Predigerin den Tag nach meiner Ankunft kennen; ihn, glaube ich, kennen meine Leser ohne meine Nachhülfe. Er war ein ehrlicher Mann und wollte nichts mehr, allein auch nicht weniger, als ein Prediger seyn. Seine Stelle war nicht die vorzüglichste, indessen warf sie so viel ab, daß er leben konnte. Mehr, sagte er, bedarf ich nicht. Er hatte zwei Söhne, welche der[322] königliche Rath als die seinigen in Königsberg erzog. Gretchens Brüder gingen in eine der besten Schulen, sie sollten beide Geistliche werden. Unser Prediger war kein Kipper und Wipper. Er verfälschte und beschnitt nichts, sondern ließ alles, wie es war, unumgeschmolzen beim alten Schrot und Korn. – Die Bibel, sagte er, ist an sich schon eine lautere und vernünftige Milch. Wer die Bibel anders, als aus der Bibel erklärt, ist ein Miethling. – Schon seit fünf Jahren hat er an einem Werke über die Sünde wider den heiligen Geist gearbeitet, woran er mich nach Minens Begräbniß nähern Theil nehmen ließ. Er wollte seinem Bruder eine unvermuthete Freude machen und ihm diese Schrift zueignen. So weit ich den Bruder kenne, konnte ihm mit einer Zuschrift über ein Werk von der Sünde wider den heiligen Geist nicht sonderlich gedient seyn.

Seine Frau? Bei ihrer Einbildungskraft war der Zaun gebrochen, sagte der Prediger, und traf sie vollständig. Sie hatte viel Gutes, viel Herzliches an sich. Sie sah jeden starr an und kam dem, mit welchem sie sprach, ungewöhnlich nahe; sie griff ihn mit ihren großen, etwas verwilderten Augen. Es ließ die Prophetin gleich beim erstenmale so viel Zutrauen gegen mich aus ihren Augen schießen, daß sich der Prediger und alle, die sie kannten, darüber wunderten. Sie blieb sich die ganze Zeit über gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu fallen, die sie indessen nie ganz verließ. Sie hatte eine schleichende Lindenkrankheit, sagte Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat, das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht und nicht immer schleicht.

Gretchen, ein rein und unschuldiges Mädchen, das aus Liebe zu Minen mit dem Deputatus nicht essen wollte. Sie hatte Verstand, allein ihr Verstand lag in ihrem Herzen, oder wenigstens nicht weit davon. Alles, was Gretchen sagte und that, sagte und that sie von ganzem Herzen.[323]

Ich habe mit Fleiß meine Leser und mich von Minchens Leiche abgezogen; allein konnte ich sie lassen? Wenn meine Leser scheel über diesen Abzug gesehen, dann, dann erst könnte ich von Glück sagen!

Mine hatte sich mit Gretchen am meisten unterhalten und Gedanken mit ihr gewechselt. Gretchen nahm Stunden bei Minen. Ich weiß nicht, ob ich meinen Lesern einen Gefallen erweise, wenn ich ihnen etwas aus einem Aufsatz ausziehe, den Gretchen, wie sie sagte, Minen nachgeschrieben. Nur etwas:

»Ich habe mich sehr mit mir selbst gestritten, ob ich das Leben verliere; allein in Wahrheit, ich verliere nichts, nichts, wenn ich auch einen Strich zwischen dieser und jener Welt ziehe. Denn hatte ich dieß Leben? Höchstens hätte ich es haben können. Hatte ich Alexandern, den Pastor? war ich Frau Alexander, die Pastorin? Ich habe nur Hoffnung, nicht Leben eingebüßt – und (wenn ich den Strich wieder lösche) diese Hoffnung mit jener Hoffnung abgewogen: Sterben ist mein Gewinn und schadet mir nicht.«

Wie wahr in jedem Munde, und wie rührend wahr in einem sterbenden! – Wer neunzig Jahre gelebt hat, ist im siebenten gestorben und hat sich hin- und zurückgelebt. Wer sich nicht mit Leben überhäuft und zu viel auf einmal gelebt hat, ist im sechzigsten Jahr stark, wie ein Jüngling, und kann selbst noch Vater werden, wie es oft geschehen ist. Im siebenzigsten Jahre ist man Kind, oder fängt es an zu werden. Niemand sagt daher sein Alter gern, wenn er in diese Jahre kommt, auch wenn er, in keiner einzigen Rücksicht, Nachtheile davon für sich absieht. Der Mensch will durchaus und durchall nicht gern ein Kind seyn. Alles, was um ihn lebt und schwebt, kommt so schnell zur Reise, nur er allein ist der Spätling; er ist ohne Ende und Ziel auf Tertia, dann rückt er freilich schnell fort, allein bald sind die Classen aus. Wer zwanzig Jahre gelebt hat, ist hundert alt worden; das künftige [324] Jahrhundert, sagt man. Thor! wie viel sind nicht schon gewesen, was brachte das neue Neues, recht Neues vom Gott deiner Seele und der andern Welt?

»Es muß doch bei den Menschen größere Uebel geben, als der Tod, weil sich viele den Tod wünschen, um diesem und jenem Uebel zu entkommen. Die Menschen wünschen selbst ihren Lieblingen den Tod, und freuen sich, daß sie durch ihn oft einer kleinen Schmach und Schande entkommen: ›Gottlob, daß er, daß sie todt ist und daß er und daß sie nicht dieses, nicht jenes erlebt haben!‹ Ist wohl eine Frage, was Alexander lieber gewünscht hätte, mich todt oder mich in buhlerischen Armen? Wie der Arbeiter am schwülen Tag sich sehnt nach Schatten und ein Taglöhner, daß seine Arbeit aus sey (Hiob das siebente Kapitel, der zweite und dritte Vers), so habe ich mich auch gesehnt Tag und Nacht, um zu kommen aus großem Trübsal. In dieser Rücksicht, in dieser Aussicht, wie gut ist der Tod – und was ist er? Ein Weg über Feld.« – – – Dieß Leben ist wahrlich ein Jammerthal. – Vielleicht wickelt sich diese Welt noch anders aus, wenn sie älter wird. Vielleicht kommt noch Gottes Reich in diesem Leben! Vielleicht daß die Menschen durch so viel Thorheit kommen werden zur Wahrheit, durch so viel Abweichungen zum Gesetz des Herrn. Ein Mensch beherrscht den andern. Schrecklich –

»Der Haupttitel, den man der Seele beilegt, ist arm; alle Welt spricht, die arme Seele! und woher? Ist sie nicht reicher als der Leib? Der Leib ist, ohne sie, eine Handvoll Staub, und sie ist, ohne Leib, eben das, was sie mit ihm ist.«

Arme Seele! warum arm? Weil man nicht weiß, wo sie ist? wie sie ist? Doch dieses steht mit der Armuth in keinem Verhältniß; genug, daß sie ist. – Sie ist ungefähr das im Körper, was Gott, der Herr, im All ist – ungefähr – sie ist Gottes Bild. Sie ist in allem, und durch alles und mit allem, und in[325] ihr leben, weben und sind wir. Vorzüglich nennen wir sie arm, wenn der Mensch stirbt und die Seele den Leib verloren hat. Leute, die sich einmal an Körpern die Augen verdorben, halten sie für arm, für bettelarm, wie man in der Welt aus dem Kleide Armuth und Reichthum beurtheilt. Man gibt der Seele ein Körperchen mit, damit sie nur nicht ganz und gar nackt und bloß erscheine. Dann ist sie doch, denkt man, wenigstens im Hemde; allein warum diese Umstände? Bleibt die Seele nicht in Gottes Welt, in Gottes Hand, wo nichts arm ist, als was sich dafür hält?

»Gott, der Herr, arbeitet ins Große und ins Kleine. In ihm lebt, webt und ist alles! Wer nicht in seinem Leben einen Zusammenhang findet, auch selbst, wenn er es nicht dazu anlegt, hat nicht an Gott und nicht an sich gedacht. – – Wir können nicht den Vorhang vor der Zukunft zerreißen. Bei unserm Tode zerreißt er, wie beim Tode Christi der Vorhang vor dem Allerheiligsten. Wahrlich, die Zukunft ist das Allerheiligste! Wer kann das Triebwerk der Schöpfung leiten? Auf Gott aber können wir uns verlassen.«

Eine selige Empfindung! – Der Meister drückt seinem Werke seinen Namen ein, nicht ohne Schamröthe, wenn er ein ehrlicher Kerl ist, und wenn er auf die kleineren Gelegenheiten zurückdenkt, die ihn zu dem Meisterstücke brachten. Darum, und nicht aus Affektation, sollten große Künstler auch ihren Namen nur so hin – werfen und Gott die Ehre geben, ihrem Obermeister ihre Arbeit weihen und zueignen. Wer gab ihnen Handwerkzeug und Materie? wer Zeit, Ort und Umstände? Selbst das Formale gehört dem Obermeister. Ist es denn Wunder, wenn das Werk so sehr über den Stand des Künstlers ist, daß es länger lebt, wie er, und daß jeder eher darnach greift, als nach ihm? Des Künstlers Verdienst in dieser Welt ist ein Kunstgriff, ein Griff nach gutem Stoff zu seiner Arbeit, nach einem guten Reißbrett in der Werkstube[326] Gottes, nach guten Zeichnungen, die ihm die Natur darreicht. – – Doch, wo gerathe ich hin? Ich sollte mich begnügen zu sagen: Gesegnet ist der Mann, der sich auf den Herrn verläßt!

Eben habe ich einem Freunde im Ganzen Minchens Gedanken, in Gretchens Abschrift, vorgelesen. Seine Aufforderung, diesen Aufsatz entweder ganz oder gar nicht mitzutheilen, hemmt Text und Noten. Es ist ein besonderer Gedankengang in diesem Aufsatz. Die Stellen, die ich herausnahm, sind nicht genommen, weil sie charakteristisch waren, sondern weil sie eben meinen Empfindungen, da ich dieses schrieb, accompagnirten.

Zur Beilage A. habe ich meinen Lesern diejenigen Stücke bestimmt, die mein Engel in einer ziemlich angewachsenen Sammlung gezeichnet hatte. Diese Sammlung war entstanden, wie alle Sammlungen entstehen sollten, ohne daß man zu sammeln dachte. Je nachdem Minen dieses oder jenes Stück gefiel, schrieb ich es ihr auf – ihr. – Viele Stücke sind aus der lettischen Garbe meines Vaters, die aus lauter curischen zärtlichen Liedlein besteht, die ich halb und halb öffentlich mitzutheilen verheißen habe. Viele sind Uebersetzungen aus andern nordischen Zungen und Sprachen. Mein Vater, der gewiß Naturkenner war, pflegte zu sagen, daß die meisten dieser Stücke (er hat sie alle gelesen) erneuert und geheiliget wären. Zwar gab er sich viele Mühe, alles roh, unerneuert und ungeheiliget zu haben, allein dahin war es nicht zu bringen. Manche Stücke sind offenbar Kinder neuerer Zeit; alles und jedes aber ist Uebersetzung. Mein Vater (dieß trifft die Stücke aus der Garbe) war, wie wir alle wissen, vor dem Brande nicht musikalisch. Die Uebersetzung seiner bäurisch zärtlichen Liederchen ist, wie ich schon im ersten Theil angemerkt, nach meines Vaters Manier. Eine freie Uebersetzung, pflegte er zu sagen, ist nicht hin, nicht her, ist Wein und Wasser, wo oft das Wasser die Kraft des Weins ersäuft; und doch, setzte[327] er hinzu, muß die Uebersetzung frei seyn, in Absicht der Sprache, in die man überträgt. – Ueberhaupt sind alle Uebersetzungen, die ich hier überliefere, mit Haut und Haar deutsch und ehrlich, oder, wie ich mich an einem andern Orte heilsamer ausgedrückt, κατὰ πόδα. Wer mir aber des Inhalts selbst wegen etwas anhaben will und sich geberdet, als thue er der Kunst einen Dienst daran, mag wohl bedenken, daß Gott die Menschen aufrichtig gemacht; allein sie suchen, wie es heißt, viele Künste. Sie vergessen, daß die Lerche früh aufstehe und die Nachtigall lange aufsitze (schon wollte ich lucubrire schreiben): daß die See brause und sause, wie meine Mutter sich ausdrücken würde, und der Bach sparsam und wohl gar geizig wandle und handle; daß der Nord, so wie die helle Sonne, das Gesicht roth mache, als wäre es feurig, und ein Abendlüftchen sich bloß mit den ungebundenen Haaren necke. – – Da verschlage ich wieder in das Feld der Anmerkungen. Mit den lieben Anmerkungen! Macht sie nur, so viel ihr wollt, Schriftsteller! auch selbst ihr vom göttlichen Geschlecht, vom heiligen Volke, vom königlichen Priesterthum, vom Volke des Eigenthums; darum seyd ihr nicht geborgen. Der Kunstrichter findet doch seinen Zaun, von dem er brechen kann, das weiß ich aus sicherer Hand, und wenn es auch nur eine Anmerkung über eure Anmerkung wäre.


Gern würde meine Wenigkeit Anmerker dieser Art beim Brode lassen; allein euch, die ihr nicht im Vorgemach bleibet, sondern weiter dringt, euch, Pfeifer und Geiger, die ihr diese unschuldige Haut- und Haargesängchen mit eurem Accompagnement haben und groß- und kleinmeistern wollt – wie gern, wie herzlich gern hätte ich euch mit sammt euren gestimmten Instrumenten aus meinem Philomelenwäldchen, so wie ihr damals heraus mußtet, als Jairi Töchterlein zu sich selbst [328] kommen sollte. Gerade seyd ihr in meiner Schrift, was ehemals die Käufer und Verkäufer im Tempel waren.

Da eben ein Brief von einem Redlichen im Lande! Er schreibt mir (er schreibe es auch meinen Lesern), daß man sich an vielen Orten den Kopf zerbreche, um die Namen in diesem Buche zu ergänzen. Dieser Redliche befürchtet, man würde sich an noch mehr als vielen Orten die Beine brechen, weil man dem Lebensläufer spornstreichs nachliefe, um ihn einzuholen. – Ich für mein Theil bedaure vorzüglich die Beine der Steckbriefträger oder Nachläufer; an den Köpfen der andern, die sie sich meinetwegen zu brechen belieben, wird hoffentlich weniger gelegen seyn. Warum lauft ihr, ehe ihr gejagt werdet, und ihr Kopfbrecher, warum brecht ihr? Doch wollt ihr nicht hören, so mögt ihr fühlen; wollt ihr nicht den dritten Theil abwarten, in dem ich ganz klar und deutlich sagen werde, wo?

Wie werde ich wieder auf Beilage A. kommen? Ich habe bemerkt, daß Minchen die folgenden Stücke in einer Sammlung gezeichnet hatte, viele selbst in ihrer Krankheit. – Gretchen versicherte, diese Stücke hätten Minchen auf ihrem Lager abgekühlt, wie Früchte, wenn es heiß ist. Die nämliche Freude, die mich bei den Schriftstellen überfiel, welche in meines Vaters Hand- und Hausbibel gezeichnet waren, die nämliche Freude belebte mich hier. Auch bin ich der guten Zuversicht, daß diese gezeichneten Stücke meinen Lesern nicht mißfallen werden, wäre es auch nur Minchens Zeichen wegen.[329]

Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie nebst Beilagen A, B, C. 3 Teile, Teil 2, Leipzig 1859, S. 84-331.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lebensläufe nach aufsteigender Linie
Hippel, Theodor Gottlieb von: Th. G. v. Hippels sämmtliche Werke / Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Theil 1
Hippel, Theodor Gottlieb von: Th. G. v. Hippels sämmtliche Werke / Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Theil 2
Hippel, Theodor Gottlieb von: Th. G. v. Hippels sämmtliche Werke / Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Theil 3, Band 1
Hippel, Theodor Gottlieb von: Th. G. v. Hippels sämmtliche Werke / Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Theil 3, Band 2

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon