Steiles Geklüft. Spärliche Bäume, ins Gestein gewurzelt. Rechts steigts auf, links fällts in den Abgrund: da mündet zwischen Felsen ein eingehauener Pfad.
Von unten Schein einer Fackel. Kreon kommt heraufgeklommen, vermummt in einen dunklen Mantel. Er trägt eine Fackel, leuchtet Ödipus voraus.
KREON.
Wir sind am Ziel.
ÖDIPUS heroben.
Wo ists?
KREON.
Von hier mußt du
allein hinauf. Hier windet sich der Pfad
zur Höhle.
Stöhnen aus der Dunkelheit. Kreon hebt die Fackel.
ÖDIPUS.
Ists der Dämon? Tritt zurück.
Laß mich zu ihm.
KREON.
Du irrst. Er sendet dir
den Kämmrer, dich zu grüßen.
Aus dem Gestein schleppt sich ein Mann hervor. Halbnackt, den Tod im Gesicht. Er gleicht kaum mehr einem Menschen, aber man sieht keine Wunde an ihm.
ÖDIPUS.
Mensch, wer bist du?
Was willst du?
DER STERBENDE.
Mensch, ich seh dich nicht. Ich bin
vor Qualen blind geworden. Schlag mich nieder
mit einem Stein! Erwürg mich! Hab Erbarmen,
erwürg mich! Wirf mich in den Abgrund, Mensch.
Ödipus und Kreon stehen dicht beisammen.
ÖDIPUS.
Er schaudert mich.
KREON.
Geh deinen Weg, die Nacht ist kurz.
ÖDIPUS.
Wer ist der Mensch?
KREON mit triumphierendem Hohn.
Dein Vorgänger.
ÖDIPUS.
Hinauf!
DER STERBENDE.
Seid ihr nicht Menschen? Gebt mir doch den Tod!
Die anderen sind alle tot, die Seligen!
Auf ihnen sitzen Geier, – warum kann ich
nicht sterben? Über lauter Leichen bin ich
herabgeklettert, und ich lebe noch.
Ist Nacht? ist Tag? ist Sturm? ist grausenhafte Nacht
für immer? Hat die Mörderin das Dach
der Welt hereingerissen und liegt Nacht
auf allem? Redet! oder seid ihr nichts?
Ist nichts mehr in der eingestürzten Welt
als meine Qual! O warum hast du mich
geboren, meine Mutter!
ÖDIPUS.
Mensch, ich helfe dir
zum Tode. Komm. Ich bin vom Weib geboren,
wie du. Ich kann nicht hören, wie du winselst
um deinen Tod. Umschlinge mich. Ich werf dich
hinab.
KREON.
Nimm dich in acht, er reißt dich mit.
ÖDIPUS.
Mich nicht.
DER STERBENDE an Ödipus aufgerichtet.
Gesegnet sei die Brust, an der
ich liege.
ÖDIPUS.
Bist gelegen!
Wirft ihn schnell hinab. Ein dumpfer Sturz.
Weh, was ist ein Mensch!
Wer über diesem brütet, stirbt. Hinauf!
Mir ist, als drängen Taten, tausendfach,
unzählbar, mit den Sternen aus der Nacht!
Er steigt empor.
Noch eines. Mann aus Theben, hörst du mich?
KREON unter ihm.
Was willst du, Abenteurer?
ÖDIPUS bleibt stehen, oberhalb, etwas seitlich oder rückwärts.
Laßt mich nicht
so liegen, wie da drunten den. Verbrennt die Leiche,
wenn ihr mich findet. Mensch, ich bin ein Königssohn!
Hörst du mich noch? Bleib in der Nähe. Schnell
ist dies entschieden – leb ich aber dann:
Mensch, siehst du über uns den Baum, der riesig
auf öder Klippe horstet? Mensch, bin ich der Sieger,
dann brauch ich deine Fackel, daß sie mir
aus dem ein Feuerzeichen macht: dann hebt sich
die Königin aus ihrem Schlafe auf,
dann bringen sie die Krone und das Schwert,
dann lohn ich dir den Weg, du Mann aus Theben!
Wahr mir die Fackel gut!
KREON.
Das will ich tun.
Er stößt die Fackel gegen den Fels, daß sie verlischt.
ÖDIPUS höher gestiegen, nicht mehr sichtbar.
Was machst du, Mensch?
KREON.
Dein Geier ist so gierig,
du Königssohn, er schlägt mir mit den Schwingen
das Licht aus.
ÖDIPUS oben, nicht mehr sichtbar.
Weh, da nimm den Lohn!
Ein schwerer Stein fällt, ohne Kreon zu treffen.
KREON.
Mein Lohn
wird mir, wenn ich dich schreien hör im Tod.
Laß mich nicht lange warten, Abenteurer!
Ich spür schon Morgenluft. Nun zeigst du mir,
du alter Jäger in der Finsternis,
du Schicksal, wie du deine Netze stellst.
Der geht hinauf und meint, er hats dir abgekauft,
sein freches Blut zu Markt getragen,
sein gieriges, und dir damit die Krone
von Theben abgehandelt, und davon
ist er betrunken, legt die Sterbenden
an seine Brust und meint, er ist ein Gott,
der Tod und Leben gibt, und läßt sich noch
den Hauch des Todes um die Locken triefen,
wie ein geweihtes Öl – und ich steh hier,
von keinem Öl betrieft, vom kalten Tau
der Nacht gefeuchtet, einsam, starr und groß,
und markte nicht mit dir, denn ich bin Kreon,
der weiß von dir und, wie der Leib den Leib,
dein Walten spürt im Dunkeln: zeig mir jetzt,
daß du noch immer um eins tiefer gräbst!
Ich ruf ja nicht den Ahn, der unten tost,
daß er aus seinem Bett sich schäumend hebt
und mir den Abenteurer niederreißt:
ich spreche nicht zum Berg: du alter Thron
des Kadmos, knirsche doch den Dieb hinab
in deine letzte Kluft – zu dir nur red ich,
Schicksal, zu dir: du hast nicht für den Knaben,
den Straßenwandrer, nein du hast für mich
die Nacht da aufgebaut, die rings in Klüften
den Tod trägt und den Tod auf nacktem Gipfel
in sterngekröntem Duft. Der heiße Knabe,
ich weiß es, großes Schicksal, gilt für nichts
in diesem Spiel – der Knab und seine Taten!
War Kreon nicht ein königlicher Knabe?
und hast du nicht sein Herz ihm in der Brust
in eines Greisen Herz verkehrt und von den Händen
die Taten abgesengt mit glüher Luft,
daß sie wie Zunder an die Erde fielen,
die unvollbrachten! Dir ist nichts für Taten feil,
die ganze Seele willst du, Taten lässest
du fallen und verfaulen auf der Erde
und höhnest, die mit Taten um dich buhlen!
STIMME DES KNABEN SCHWERTTRÄGERS.
So hab ich ganz umsonst mein junges Blut
hingeben müssen, weh!
KREON vor der Stimme nach rechts hin zurückweichend.
Was, spinnen sich von überall
die Fäden her, die mich erwürgen sollen?
Ich will nicht hören was im Nachtwind redet,
ich will den Todesschrei des Menschen hören,
sonst nichts auf dieser Welt!
Er tastet sich nach rechts hinüber, im Gestein klimmend. Die Szene verwandelt sich sogleich.
Eine andere Stelle des Berges. Offene Plattform, nach allen Seiten abstürzend, nur links Geröll und Geklüft. Kein Baum, kein Strauch, Dunkel. Am Himmel einzelne funkelnde Sterne. Nur die großen Formen sind dem Auge wahrnehmbar.
Von links, das Geröll überkletternd, kommt Kreon herüber, nach oben horchend, getrieben von verzehrender Ungeduld. Er steht.
KREON.
Den Todesschrei des Fremden will ich hören
und König sein in Theben!
Stille.
Höhnt ihr mich,
ihr Götter? Ich bin stark, ich bin jetzt wie das Tier,
wenn es im letzten Winkel seiner Höhle
standhält! Drängt mich nicht aus der Welt hinaus!
Stille.
Nein? alles still? oh, ihr wollt nicht, ihr verbündet euch
mit einem Dieb? verflucht die Opfernächte,
in denen ich die Blüte meines Leibes
euch weihte! Fluch dem Wasser, das mich wusch,
verflucht die Schauder meiner jungen Seele!
Er streckt verzweifelt betend die Hände aus.
Dich ruf ich, Mörderin, dich, große Sphinx,
hier krümm ich mich vor dir, so wie noch keiner
je vor dir lag, auf nacktem Lebensgipfel:
wirf mir den Schrei herab, du Ewige,
den Schrei des Fremden! daß dir meine Seele
wie ein Brandopfer steigt!
Von oben, von seitwärts, aus unbestimmbarer Nähe
ertönt ein gräßlicher Todesschrei.
Kreon trinkt zuerst den Schrei mit Wollust in sich, dann – im grauenvollen Anschwellen des Schreies – entsetzt.
So schreit kein Sterblicher!
Vernichtung! das war nicht des Fremden Schrei!
Ödipus kommt von links den steilen Felspfad herabgetaumelt. Kreon birgt sich links vorne im tiefsten Dunkel eines Riesenblocks.
ÖDIPUS verstörten Gesichtes, seiner selbst nicht mächtig, sich an Steinen haltend, bald zu Boden taumelnd.
Es nannte mich beim Namen! »Ödipus«,
sprach es zu mir! »sei, Ödipus, gegrüßt,
der du die tiefen Träume träumst«! Gekannt!
Auch hier gekannt! Die Welt hat keine Schluft,
die nicht voll meiner Flüche ist. Ich kann
mich nirgends bergen. Hier dies fremde Theben
ist eine Höhle, die mich kennt.
Von Grausen geschüttelt.
Der Dämon,
der grauenhafte Dämon hat mit mir
Gemeinschaft! mit dem Todesatem lüftet
es den verschloßnen Deckel meiner Brust.
Er weiß von meinen Träumen – ah, es gibt nur einen,
den Traum von Delphoi, weh, den Traum vom Vater
und von der Mutter und dem Kind!
Er kauert auf der Erde.
Warum
zerbrach ich nicht in Stücke, als das Weib
in Delphoi an mein Bette trat? Wozu
noch dieser letzten Tage wüster Traum?
Die Welt zerbricht. Mein Aug ist krampfverdreht. Ich hasse,
die mich geboren haben. Eltern! Eltern!
wohl euch, daß ihrs nicht wißt.
Sein irr schweifender Blick sieht die Sterne.
Ihr Götter, Götter!
Sitzt ihr auf goldenem Gestühl da droben
und weidet euch, daß der im Netz nun liegt,
den ihr mit Hunden hetzt von Tag zu Nacht!
Finster, groß.
Die ganze Welt ist euer Netz, das Leben
ist euer Netz, und unsre Taten machen
uns nackt vor euren schlummerlosen Augen,
die auf uns schauen durch das Netz: – da lieg ich
und wollte Taten tun und habe nichts
getan als mich verraten an den Tod!
Nun macht ein Ende! Habt ihr keinen Blitz?
bin ich den Fels nicht wert, der niederrollt
und mich zermalmt – da unten schäumt ein Fluß:
herauf mit ihm! Habt ihr so säumige Diener?
Ganz still, ihr Gräßlichen, wenn Ödipus
um seinen Tod zu euch die Hände hebt?
Ich soll es selber tun? der Priester sein
und auch zugleich das Opfertier? Mir graut.
Mir graut vor euch, ihr Götter, ich will euch
nicht länger in die Augen schauen, werft
die Finsternis auf mich, werft mir den Tod
übers Gesicht wie einen Mantel, Götter!
Die Arme ausreckend.
Ich will nichts als den Tod!
KREON springt aus dem Dunkel vor, mit gezücktem Dolch.
Der kann dir werden!
ÖDIPUS wirft sich zurück, faßt den Kreon.
Hat das Dunkel Arme?
KREON ringt, den Arm mit dem Dolch zum Stoß frei zu bekommen.
In Theben ja, und Dolche auch!
ÖDIPUS im Ringen.
Her mit dem Dolch.
Ich brauch ihn selber.
Hat die Oberhand, drückt Kreon an den Boden.
Doch zuvor stirbst du.
Das Opfer, das ich bringen will, verträgt nicht,
daß einer nahe steht.
Er hebt den Dolch zum Stoß.
Hinab und melde
mich drunten an.
KREON.
Du weißt nicht, Abenteurer,
wen du erschlägst!
ÖDIPUS hebt abermals den Dolch.
Die Welt ist ausgelöscht,
kein Ding braucht einen Namen!
KREON unter ihm liegend.
Mensch, ich bin der Bruder
der Königin.
ÖDIPUS starrt ihn von oben an.
Was redet aus der Nacht?
Wer bist du, der mit mir sich auf der Schwelle
des ewigen Todes wälzt?
KREON.
Ich bin der Bruder
der Königin, du Königssohn.
ÖDIPUS ohne ihn loszulassen.
Der Bruder
des wundervollen Weibes, das zu Tod
erstarrte, als sie mein Gesicht erblickte?
Er zieht ihn aus dem tiefsten Dunkel nach vorne, dort wo der Sternenschein eine schwache Dämmerung erzeugt. Er sieht ihm ins Gesicht.
Und bist du nicht der Führer auch, der durch die Nacht
mit mir hinaufstieg? Hast du nicht die Fackel
gelöscht? im voraus mich dem Tod geweiht?
Er läßt ihn ganz los. Kreon ist schnell wieder aufgerichtet.
ÖDIPUS einen Schritt zurücktretend.
Der Bruder! ungeheuer kettet ihr
die Sterblichen, ihr Götter, aneinander
mit Nacht und Tod und Wollust, ungeheuer!
Er hält dem Kreon den Dolch hin.
Da nimm das Opfermesser! Töte mich,
dir kommt es zu!
KREON vor ihm zurückweichend, ohne den Dolch zu nehmen.
Wer bist du, un-
geheurer Fremdling, der so finstre Spiele spielt
mit sein und meinem Leben?
ÖDIPUS.
Der Verfluchte
von Vaters Samen her! Da nimm das Messer
und opfre!
Drängt ihm wieder den Dolch auf, wieder weicht Kreon zurück.
Schnell! das fremde fluchbeladne Tier
hat deiner Schwester Bett besteigen wollen.
Stark.
Mensch, reinige die Königin!
KREON die Hände zurücknehmend, starke Gebärde des Schweigens.
Du bist
der Sieger! Du hast nicht geschrien, es war
der Dämon, der im Tode schrie! Du bist
der Sieger!
ÖDIPUS.
Nein, ich bin verflucht
daheim und in der Fremde.
KREON unfähig ihn zu begreifen.
Mensch, trägst du den Tod
im Leib? was stehst du aufrecht, wälze dich
vor meinen Füßen hin! Laß mich die Hände
in deine Wunden legen! schnell!
ÖDIPUS.
Mein Leib ist heil
und starrt von Kräften, unverwüsteten.
Ich habe meine Tat nicht tuen können:
das Wesen floh vor mir!
KREON.
Was marterst du mich noch,
verlarvter Gott, wenn du der Sieger bist?
ÖDIPUS in jagender Hast.
Der Sieger! auf mir liegt das Chaos und
zernagt mich.
KREON.
Mensch, wie Rätsel unbegreiflich,
was hat die Sphinx an dir getan?
ÖDIPUS in fliehender Hast.
Vor seiner Höhle
auf stand das Weib und neigte sich zur Erde
vor mir, und als ich nahe kam, so trat es
demütig hinter sich und bog sich nieder
bis an die Erde, als wär ich der Gast,
auf den sie hundert Jahre wartete.
Und dann nach rückwärts taumelnd, ohne Laut,
da hob es sein Gesicht und sah mich an,
da sah ich das Gesicht, da traten mir
die Augen aus den Höhlen, von den Knochen,
wie Zunder fühlte ich mein Fleisch sich lösen
vor Graun und Angst: mein Herz schlug wie im Tod,
die ganze Brust schlug mir, da gab es von den fahlen
gräßlichen Lippen seinen Gruß in meine
schlagende Brust hinein: »Da bist du ja«,
das Wort legt' es in mich hinein, »auf den ich
gewartet habe, heil dir, Ödipus!
Heil, der die tiefen Träume träumt« – und da
zerschnitten meine Brust, wirft sichs nach rückwärts,
den Blick auf mir, den schon verendenden,
mit einer grauenhaften Zärtlichkeit
durchtränkten, rücklings in den Abgrund, den
das Aug nicht mißt, den steinernen, und schreit
im Todessturz den namenlosesten,
furchtbarsten Schrei, in dem sich ein Triumph
mit einem Todeskampf vermählt, und stürzt
vor meinem Fuß hinab und schlägt tief unten
dumpf auf. Versteinerst du? Den du im Finstern
hast schlachten wollen, opfre mich im Licht!
Hält ihm den Dolch hin.
KREON von einem geheimen Grauen überwältigt.
Ich hebe meine Hand nicht wider sich!
Du bist ein Gott und Sohn von Göttern!
ÖDIPUS dringend.
Töte mich!
Ich bin der Sohn des Königs von Korinth
und habe einen Traum geträumt, der aufsteht
und mich erwürgt, wenn ich auch die Gebirge
der halben Welt, ihn zuzudecken, wälze!
KREON.
Du bist der Sieger, Ödipus, du bist
der Sieger, König bist du jetzt in Theben!
Bereit, vor ihm zu fliehen, angstvoll vor seiner Unbegreiflichkeit, halb zur Flucht gewandt.
ÖDIPUS noch dringender.
So töte mich! Spürst du denn nicht, wie ich
behängt mit Flüchen bin, gefleckt mit Unheil
wie eines Panthers Haut! Das Messer nimm
und opfre mich, solang ich selbst mich feßle:
denn ich will leben, ich will König sein,
ich will die Königin auf diesem Thron
aus nacktem Stein zu meinem Weibe machen!
Ich bin ein König und ein Ungeheuer
in einem Leib, erwürge beide schnell:
Kein Gott trennt eins vom andern, töte mich!
Ich könnte wähnen, daß ich diese Nacht
die Tat getan hab, die vom zuckenden
Gefild des Himmels sich mit seliger Hand
die Lebensblume reißt! ich könnte wähnen,
daß ich der größte aller Menschen bin,
der auserwählte Sohn des Glücks. Da nimm!
schnell! töte mich!
Er läßt sich vor Kreon nieder in der Haltung dessen, der sich opfert.
KREON trunken von der unbegreiflichen Wendung des Schicksals, schwingt den Dolch über den, der wie das gebundene Opfertier vor ihm kauert.
Ihr Götter, seid bedankt!
Wie er zustoßen will, lähmt ein Etwas von innen heraus seinen Arm.
Ich kann ja nicht!
Er hebt nochmals den Dolch, mit dem Schicksal ringend.
Was macht ihn jetzt noch stärker? Er ist nichts.
Mein Traum ists, der ihn stärker macht. Mein Traum
setzt mir den Fuß auf meinen Nacken!
Er wirft, von Grausen gepackt, den Dolch weg, daß er klirrend fällt. In diesem Augenblick fällt ein Blitz. Sogleich entzündet sich, unsichtbar, der Baum auf der Felsklippe, und es fällt starkes Licht von oben links herein.
KREON vom Blitz geblendet, schreit auf.
Ah!
Er flüchtet, sich mit dem Mantel das Gesicht
verhüllend, von Ödipus weg. Ödipus springt auf.
KREON fünf Schritte von ihm, voll Angst vor ihm.
Du bist ein Gott! verschone mich!
ÖDIPUS wie aus tiefem Traume erwachend.
Das Licht der Götter!
Was willst du mir?
KREON gebeugt, jeden Augenblick bereit, ihn anzubeten.
Du bist ein Gott! es schwebte
der ungeheure Blitz aus blauer Nacht
hernieder wie ein goldner Adler hinter dir!
ÖDIPUS in Staunen verloren.
Das Licht!
KREON.
Der tausendjährige Baum, der droben
auf kahler Klippe horstet, steht in Flammen!
Du bist ein Gott! ich küsse das Gestein
vor deinem Fuß. Die Götter zünden dir
mit eigner Hand die Hochzeitsfackel an.
ÖDIPUS wie oben.
Mit ihrer eignen Hand!
KREON.
Die Adler kreisen
als deine Feuerboten um den Berg!
Mein König, laß mich dein Gewand anrühren
Er wirft sich vor ihm nieder.
und heb mich auf!
ÖDIPUS reckt beide Arme in die Luft.
O meine Eltern, Phönix!
Korinth! herab mit euch! ... Steh auf und sag mir
den Namen!
KREON.
Kreon bin ich.
ÖDIPUS.
Du? wer fragt nach dir!
Ich frag nach einem Namen auf der Welt:
den Namen nenne mir!
KREON.
Jokaste heißt
die Königin.
Der Baum ist abgebrannt. Fahles Dämmerlicht geht bald in den ersten grünlichen Schimmer des Morgens über.
ÖDIPUS den Namen in sich saugend.
Wie seicht sind Träume: nie
hab ich den Klang geträumt.
Von unten, aus großer Ferne dumpfrollende Pauken. Allmählich näher. Allmählich auch leise, wie man es von der Spitze eines hohen Berges aus dem Tal heraufklingen hört, ein feierliches Singen. Auch dieses allmählich nahend, immer aber tief unten,
weit, fern heraufdringend.
Doch seit ich ihn
gehört hab, ist es mir als ob dumpf donnernd
der Puls der Welt, das ruhelose Meer
sich hüb und senkte, lustvermählt dem Schwellen
und Sinken meiner Adern.
KREON.
Ödipus,
das sind die heiligen Pauken, die du hörst,
geschlagen dir zu Ehren!
ÖDIPUS.
Wird der Berg
lebendig?
KREON.
Das ist Theben, das sich hebt
wie eine Sturmflut, seinen König sich
herabzuholen von der Klippe.
ÖDIPUS läuft nach rückwärts an den Rand des Felsens, winkt Kreon zu sich. Sie spähen beide hinab.
Dort,
der ungeheure Zug?
KREON.
Das Volk, die Priester,
die Heiligtümer!
ÖDIPUS.
Dort, das dumpfe Blitzen
aus eignem Licht, von keinem Strahl des Tags
getroffen! Mensch, was blitzt so aus der Nacht?
KREON.
Das ist das Königsschwert. Das ist das Schwert
des Kadmos.
ÖDIPUS in ungeheuerer Erregung, erträgt es nicht, rückwärts zu stehen und zu warten. Er stürmt nach vorne, Kreon mit sich schleifend.
Bleib bei mir und sei mein Bruder!
Den Sturm, der durch mich geht, kann keine Seele
ertragen, ohne einen Bruder!
Wieder zurück, mit Kreon, an den Felsenrand.
Dort,
das auf dem Wagen, den sechs Pferde ziehn,
das, eingehüllt in dunkle Schleier, Kreon,
ist das ein Götterbild?
KREON.
Das ist Jokaste!
ÖDIPUS vom Rande weg nach vorne sich jäh werfend.
Gehüllt in dunklen Glanz, so wie ein Stern
in eine Wolke! es sind Schleier: meine
ah! meine Hände heben euch – dann schlägt
die Flamme in die Flamme!
Trunken, eilt er wieder zurück an den Rand, beugt sich über, ruft hinab, königlich ungeduldig.
Schneller, schneller!
Dann tritt er wieder zurück vom Rand.
KREON hat noch hinabgespäht, springt jetzt zu Ödipus.
Sie haben dich gesehn! sie grüßen dich
wie einen Gott, sie recken heilige Zweige
zu dir empor! Ha, siehst du den Rubin
im königlichen Reif? Er hat das Blut
getrunken von Giganten. Ödipus!
er wird auf deiner Stirne glühn!
Plötzlich überwältigt ihn das Gefühl des eigenen Schicksals, und jäh wirft er sich auf den Boden, schlägt die Hände ins Gestein, voll Wut und Schmerz.
ÖDIPUS in seiner Trunkenheit dessen, was in Kreon vorgeht, nicht achtend, reißt ihn stürmisch empor, an sich.
Du Fürst,
mein Bruder Kreon, wie du vor mir stehst!
wie schön du bist! was wirst du bleich und dunkel
wie das Olivenlaub im Wind! Kreon, wir wollen leben
wie ein Geschlecht von Seligen! Dies Theben
soll blühn wie eine Feuerblume! Kadmos,
dein Blut soll blühn in einer Brut von Adlern,
aus Feur geboren!
KREON indessen wieder an den Rand gebeugt.
Ödipus, sie steigt
vom Wagen!
ÖDIPUS vorne stehend, jubelnd, indes Kreon fern von ihm steht, dort am Felsenrand.
Kreon, herrsch ich hundert Jahr
zu Theben, das vergeß ich nicht, daß du
der Bote warst, der dies mir zurief!
KREON am Felsenrand.
König,
sie kommt allein herauf.
Kreon tritt links zurück.
Ödipus steht vorne, starrend in Erwartung.
Jokaste steigt herauf, eine Krone auf dem Kopf.
Das Volk, unsichtbar, ist dem Gipfel nahe gekommen. Die Unruhe einer Menge, die still sein will, wogt dann und wann herauf.
JOKASTE.
Was suchst du, Kreon,
wo eine Königin zu einem König kommt?
Tritt hinter dich.
KREON tritt noch weiter zurück.
JOKASTE erblickt Ödipus. Sie steht noch rückwärts, nah dem Rande. Sie ruft, über die Schulter, gebietend zurück.
Zurück auch ihr und trete keiner nah.
Sie geht auf Ödipus zu, bleibt zehn Schritte vor ihm stehen.
Du bist ein Gott. Nur Götter schaffen um,
was sie berühren. Ich bin dein Geschöpf:
in einen Schlaf hast du mich wie in Feuer
hinabgeworfen und mir drin erneut
die Seele und die Glieder. Sprich: soll dein
Geschöpf hinknieen zwischen deine Hände?
ÖDIPUS schweigt.
JOKASTE.
Ich habe nie mit einem Gott geredet:
sag selber mir, wie ich dich grüßen soll.
ÖDIPUS.
Ich bin ein Mensch wie du, Jokaste!
JOKASTE.
Selig,
die dich getragen hat. Sag mir den Namen
der Mutter, die dich trug! Ich will sie ehren
wie keine Göttin.
ÖDIPUS.
Nichts von meiner Mutter!
Dies alles hängt nicht mehr an mir. Ich hab mich
mit Schwerteshieben losgelöst. Der Ödipus,
der vor dir steht, ist seiner Taten Kind
und diese Nacht geboren. Kommst du mir
nicht näher, Königin?
JOKASTE tritt heran.
Drei Schritte vor ihm bleibt sie stehen. Sie hebt die Hände gegen ihn wie gegen ein Götterbild.
ÖDIPUS.
Ist dies dein Herz,
das deine Hand so glänzen macht?
JOKASTE läßt die Hände sinken.
ÖDIPUS leiser, vorgeneigt.
Um dich,
die mir kein Traum gezeigt, hab ich die Jungfraun
verschmäht in meiner Jugend Land.
JOKASTE leise, zart, alle Gewalt der geheimsten Sehnsucht in ihren Augen.
O Knabe,
bist dus, um den ich sterben wollte, wenns mich
hinunterzog zu meinem Kind? Kein Traum
hat mir es zeigen wollen – wars, damit
dein Dastehn, dein Lebendiges, in mich
mit solchem Strahl hat stechen sollen?
ÖDIPUS.
Du
hast sterben wollen, du, Jokaste?
JOKASTE.
Ich.
Nicht einmal, hundertmal. Mein Leben war
nur mehr ein Schatten. Bin ich denn Jokaste,
hab ich nicht ihren Leib geborgt und bin
ein Gast von drunten aus der finstern Welt
und will das Blut aus deiner Brust? O Knabe,
nimm dich in acht vor mir.
ÖDIPUS.
Mit deiner Stimme
bewegst du in der Schlucht die Nacht und wirfst
auf alle Gipfel Licht.
JOKASTE.
Mach deinen Blick
von meinen Händen los. Die Adern waren
dem selbstgeführten Messer allzunah.
Das Blut in ihnen, das du schimmern siehst,
muß finster sein für alle Zeit. Was will
das traurige Weib beim jungen Knaben. Laß mich.
Er nimmt ihre Hand, läßt sie gleich wieder.
ÖDIPUS.
Mir ist, als wüßt ich Dinge, deren Namen
das Blut gefrieren machen. Doch, Jokaste,
ich hab sie nur gelernt, in deinen Armen
sie zu vergessen.
JOKASTE kreuzt ihre Arme über der Brust.
Jeder Mutterschaft
hab ich geflucht, gepriesen hab ich laut
den kinderlosen Schoß.
ÖDIPUS.
Jokaste, ich
hab mit gebäumter Seele in den Tod
verflucht mein Leben.
JOKASTE alle Finsternis hinweglächelnd.
Weh, wie wir einander
im Schlimmen gleichen.
ÖDIPUS.
Wie wir sind und nicht sind!
Jokaste! Wie dies alles schnaubt und zuckt
und vor dem Feuer weicht, das aus der Tiefe
des seligen Blutes bricht.
Er will sie an sich ziehen.
JOKASTE.
Oh, wie mir wird,
wie schwach und leicht –
Sie hält sich an den Fels.
Ich müßt in deinen Armen
des Todes sein!
ÖDIPUS dicht bei ihr, ohne sie zu umfassen.
Um dieses Todes willen,
durch den du dich getragen hast, Jokaste,
muß ich dich lieben, wie kein Mann auf Erden
sein jungfräuliches Weib. Um deinen Gürtel,
in düstrem Feuer glänzend, sitzen die
Geheimnisse des Todes: aber ich –
ich sage dir: so wahr der nackte Stein,
der meine Gruft hat werden sollen, nun
zum Thron sich baut für mich und dich – und weiß
um nichts und ist behängt mit Glanz
und heiliger Vergessenheit – so wahr
als dies, was dort von Klippe springt zu Klippe,
geflügelt, rasend, sich herüberschwingt –
JOKASTE dem plötzlichen Glanze zugewandt, ehrfürchtig schaudernd.
Das heilige Licht!
ÖDIPUS.
So wahr als dies der Bote
der ungeheuren Götter ist, so wahr
sind du und ich nur Rauch, daraus sich funkelnd
gebären will ein Neues, Heiliges,
Lebendiges!
JOKASTE hauchend, von der Erinnerung überflogen.
Ich habe einem Manne
gehört.
ÖDIPUS reißt sie an sich.
Vorbei! Vergessend leben wir!
Jokaste!
JOKASTE sinkt über seinen Arm wie eine geknickte Blume.
Ah, was ist es, das wir tun?
ÖDIPUS.
Die blinde Tat der Götter.
DAS VOLK.
Heil dem König!
Dem unbekannten König Heil!
KREON vortretend.
Heil König Ödipus!
JOKASTE leicht sich entwindend, mit trunkenem Blick.
Der Mensch dort weiß den Namen, den du hast –
und ich – ich häng an dir und weiß ihn nicht.
Sie lacht ein kurzes unbeschreiblich leichtes, flüchtiges Lachen.
Du – ich – nicht blind! – was sagst du – nein, nicht blind!
sehend wir beide! du kein Gott und ich,
du Knabe, keine Göttin! Knabe, Knabe,
arm sind sie gegen uns, die Götter, die
nicht sterben können, arm! Doch du – und ich:
dein Dastehn, da auf diesem heiligen Berg,
dein Blut, das dich getrieben hat, dein Leid,
das dich gejagt hat – meine Tag und Nächte,
mein Blut, das leben nicht noch sterben konnte:
und heute, dieses Heute, du und ich!
Die Tage, die nun kommen, Tage, Tage,
das Namenlose, das noch kommt und doch
schon da ist, Tag und Nächte, Nächt und Tage,
das Dunkel, das wir wissen, und doch lachen wir –
und du mich weihend, ich dich weihend, dein
Gesicht bei mir und mein Gesicht bei dir!
Wo sind die Götter, wo ist denn der Tod,
mit dem sie immer unser Herz zerdrücken?
er war doch immerfort um mich, er war
vor meinem Aug, in meinem Haar, er hing ja
an mir so wie ein Rauch, wo ist er hin?
er ist in meinen Leib hineingesunken,
wie eine namenlose Lust, ein ungeheueres
Versprechen: o mein König,
o du: wir sind mehr als die Götter, wir,
Priester und Opfer sind wir, unsere Hände
heiligen alles, wir sind ganz allein
die Welt!
Sie hängt an seiner Brust.
ÖDIPUS.
Jokaste, stirb mir nie!
JOKASTE schwach.
Trag mich hinab; ich glaub, es steht ein Haus,
darin zu ruhen.
ÖDIPUS.
Meine Königin!
Das Volk unsichtbar, schreit den gleichen Ruf gewaltig herauf, donnernd wie eine brandende
Woge.
JOKASTE indem sie beide schon zum Hinabsteigen gewandt sind, er sie führend, fast tragend, löst sie sich von ihm, hält nun seine Hand in ihrer Hand.
Ja Volk!
Du schreist nach deinem König. Dieser ists,
an dem ich hange.
DAS VOLK mächtig.
König Ödipus!
Kreon springt vor, wirft den Mantel ab, breitet ihn Ödipus und Jokaste vor die Füße. Er selbst, im purpurnen Gewand, fürstlich, fällt vor ihnen nieder, wie sie an ihm vorbeischreiten, hinabzusteigen.
Vorhang.
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Ödipus und die Sphinx
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