II


[553] Großer freundlicher Saal im Hause Venier. Im Hintergrund eine große Tür und zwei große schönvergitterte Fenster auf den Kanal hinaus. Links und rechts Türen. An der Decke und über den Fenstern Fresken im Geschmack des Tiepolo. Im Vordergrund links steht ein kleines Klavier, in der Mitte des Saales ein sehr großer Tisch mit vergoldeten Füßen, auf diesem Blumen in einer großen Vase. – Es ist heller Tag.

Es treten auf: Lorenzo und sein Oheim, der Senator Venier. Der Senator trägt über seinem Kostüm den Überwurf eines dünnen schwarzen Maskenkleides; die schwarze Larve und den Kopfteil hält er in der linken Hand. Mit der Rechten stützt er sich auf einen Stock.


LORENZO er ist blaß und erregt, – spricht im Auftreten; dann bleiben sie in der Mitte stehen.

Ich bitte, Oheim, frag mich nicht um Gründe

für etwas, das mir so natürlich ist

wie Atmen. Ja, wißt Ihr denn alle nicht,

was sie mir ist? Ich bitte, geh! ... So bleib!

Ich war kein frohes Kind: Du mußts doch wissen,

wie leichtlich übermannt von Traurigkeit,

wie schnell zu Tod erstarrt, wenn das Gemeine

mit aufgerissenen Medusenaugen

aus dem Gebüsch des Lebens auf mich sah.

Da fand ich sie. Ich fand das eine Wesen,

aus dessen hohler Hand der Quell des Lebens sprang,

daran ich meine Lippen legen konnte

und Seligkeit des Daseins in mich schlürfen!

O hätte sie nur halb die Fröhlichkeit,

die ihr im Auge quillt, mich lehren können,

so hingest du an meinem Munde jetzt,

so wie die Welt an ihrem Munde hängt,[554]

und dächtest an nichts andres als zu atmen!

Und das verleugnete ein Tropfen nur

von meinem Blut? Es ist das Blut Venier,

und wie der Brunnen in der Fabel wallt

es wütend auf, wenn ein unedler Atem

nur seinem reinen Spiegel nahe kommt,

und hebt sich in den Adern so voll Wut

wie ein gereizter Löw in seinem Zwinger.

Du mahnst mich recht: es ist das Blut Venier

und hat noch so viel edle Art in sich,

daß es bezahlt, wie Könige bezahlen

– und nicht wie Krämer –: einen Augenblick

etwa mit dem zusammgerafften Preis

von vielen Jahren, ja, dem letzten Gold,

das aufgesprengte Ahnengräber geben –

ein wenig Lächeln etwa mit sich selbst

und einen Traum etwa mit einem Leben!


Er hat sich bei den letzten Worten, die er mehr für sich spricht, von dem Alten abgewendet und ist einige Schritte nach vorne gegangen. Der Alte hat kopfschüttelnd seine Maske aufgesetzt und ist durch die große Tür im Hintergrund weggegangen.


LORENZO wendet sich, sieht sich allein.

Schon fort, Gespenst? Ich will zu ihr.

Vielleicht,


Hält an der Tür links still.


daß sie noch schläft! So will ich denn noch warten.


Kehrt um, setzt sich in der Mitte des Zimmers auf einen Lehnstuhl.


Nun schon ich ihren Schlaf- und bald vielleicht

ermord ich ihr den Schlaf von vielen Nächten!

Nun ging es mir ans Herz, als Einer nur

auf ihren Schatten treten wollte – bald

tret ich vielleicht mit Fingern, die gepanzert,

in ihres Herzens Wunden und in meine!


Cesarino kommt von rückwärts gegangen, legt ihm die Hände auf die Schultern.
[555]

LORENZO auffahrend, ergreift eine Hand Cesarinos.

Vittoria!


Cesarino tritt neben ihn.


Besser wärs, wenn eure Hände

sich nicht so ähnlich sähn!

CESARINO.

Warum denn besser?


Pause.


LORENZO.

Sag, du hast deine Mutter nie gekannt?

CESARINO.

Wie, unsre Mutter?

LORENZO.

Deine.

CESARINO.

Sie war doch

Vittorias Mutter auch.

LORENZO.

Jawohl, jawohl.


Er versucht, Cesarino mit dem Bild auf der Dose zu vergleichen, die er halbverdeckt in der linken Hand hält. Cesarino geht nach rückwärts.


LORENZO.

Wo gehst du hin?

CESARINO.

Ich seh, ob jemand kommt.


Er geht durch die Tür rechts rückwärts ab.


LORENZO hinter ihm her, die Dose in der Hand.

Ein Bild! ein Bild! ein und dasselbe Bild!


Er bleibt stehen, den Kopf zu Boden gesenkt.

Vittoria von links, geht leise auf ihn zu. Er tritt zurück, sieht sie traurig an. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände. Er tritt wiederum zurück.

Pause.


VITTORIA.

Du siehst nicht fröhlich aus.

LORENZO.

Ich bin nicht fröhlich.


Pause.


LORENZO.

Vittoria, wie hast du heut geschlafen?


Ohne die Antwort abzuwarten.


Weißt du, ich wachte einmal morgens auf,

indessen du noch schliefest. Über dich[556]

war ich gebeugt und haßte deine Augen,

ich haßte deine süßen Augenlider:

denn irgendwie verstand ich, daß darunter

ein Traum war, angefüllt mit Leben, dran

ich keinen Anteil hatte, keinen Anteil,

nicht eines Schattens Anteil!

VITTORIA.

Ja, mein Lieber.

Doch war dies, weil ich schlief. Nun bin ich wach.

LORENZO.

Nein! dies ist, weil du wach bist! Aber dann

müßt ich die Lider nicht, ich müßte ja

die wachen Augen hassen und die Lippen

und diese süße, helle Stirn und alles!

VITTORIA.

Ich weiß nicht, was das ist, wovon du redest!


Pause.


LORENZO.

Sag mir, was bin ich dir?

VITTORIA.

Du bist mein Mann.

LORENZO.

So bist du meine Frau, und Mann und Frau,

sagt man, sind eins. Mich dünkt, dies ist nicht so.

VITTORIA.

Du bist ein Ganzes und auch ich bin ganz:

und kann mich nur als Ganzes geben, nicht

den Kranz auflösen, der mein Wesen ist.

Was quälst du dich und mich mit solchen Worten?

LORENZO.

Nicht genug deutlich? Nun, hier ist ein Bild!


Hält ihr die Dose hin.


Und der mirs gab – so hat Natur noch nie

mit lautem Mund geschrien, ist der Vater

des Burschen, den du deinen Bruder nennst!

und nicht dein Vater, dir ist er nicht ähnlich,

o, nicht dein Vater, er ist wohl zu jung!


Fast atemlos.


Des Burschen Hände aber wieder sind

den deinen allzu ähnlich, als daß nicht[557]

ein fürchterlich verwirrender Verdacht

sich wie ein Brand ganz durch mein Denken fräße,

von hundert dunklen Dingen noch genährt:

denn der mirs gab, das ist derselbe Mensch,

des Anblick gestern in der Oper dich

unter der Schminke so erbleichen ließ,

als schlüg ein weißer Blitz durch deinen Leib –


Er hält inne.


VITTORIA den Blick auf ihn geheftet, ruhig.

Daß ich erschrak, kann sein. Ich hab ihn lange,

so lange nicht gesehen, daß mir war,

als müßt nun meine Mutter hinter ihm

aus ihrem Grabe aufgestanden kommen,

zuhören, wie ich singe. Ich hab ihn

als Kind sehr oft gesehn, bis zu dem Tag,

da meine Mutter starb und mich zurückließ

und meinen neugebornen Bruder.


Nach einer kleinen Pause.


Meine

und meines Bruders Hände gleichen, glaub ich,

den Händen unsrer Mutter. Ich war damals

zehn Jahre, und mein Vater lange tot.

LORENZO.

Wie, deine Mutter war zweimal vermählt?

VITTORIA.

Das nicht. Ich war ein Kind, das viel verstand.

Begreifst du, was mirs war, nach siebzehn Jahren

den Menschen wiederum zu sehn? Er ist

die Schuld, daß meine Mutter starb und daß

mein Bruder lebt. Jetzt schweigen wir! Die kommen.


Cesarino und Marfisa nähern sich. Lorenzo geht ihnen einige Schritte entgegen. Sie entfernen sich wieder.


VITTORIA in der Mitte allein.

Ich lüge wie ein Grabstein, und ich bins

ja auch allein, drin wie in einem Grab

dies sonst vergeßne Abenteuer wohnt.


Lorenzo tritt wieder zu ihr.
[558]

VITTORIA ohne sich umzuwenden.

Hast du sie wieder fortgeschickt?

LORENZO hart bei ihr.

Vittoria, mach, daß ich dir glauben kann!

VITTORIA sieht ihn mit offenen Augen an. Lorenzo, was bin ich dir, wenn dus vermagst, jetzt zu zweifeln?

LORENZO. Alles bist du mir, alles – so oder so, zum Guten oder zum Schlimmen. Das einzige Geschenk, das mein Leben je mir zuwarf, eines aber, das alle andern in sich schließt ...

Vittoria, ich habe Angst, an dir zu zweifeln und Angst an dich zu glauben. Was immer du redest, hab ich Angst, daß das Leben mich überlistet.

VITTORIA. O, es überlistet uns alle, mein Freund!

LORENZO dringender. Vittoria, mach, daß ich dir glauben kann! – Bedenk, wie du in mein Leben hineintratest, beladen mit Geheimnissen –

VITTORIA. Es gab eine Zeit, da du mich um dieser Dinge willen mehr liebtest. Du selbst verglichest mein Wesen mit einem festgeflochtenen Kranz. Ja, ich bin nicht dein Geschöpf, ich bin das Geschöpf des Lebens und beladen mit dem Abglanz überwundener Schmerzen; behängt mit dem Gold erstarrter Tränen, trat ich in dein Leben hinein. Denk daran, wie es anfing, Lorenzo. Hab ich gelogen? versprach ich zuviel?

LORENZO. Ich denk daran, Vittoria. Dein Reden hat niemals etwas versprochen, dein Schweigen – auch nicht, dünkt mich. Es war nur dein Wesen, das Unaussprechliches versprach – und hielt, Vittoria, ja, o mehr als hielt! – – Ich war wohl nicht der unglücklichste Mensch auf der Welt, aber vielleicht der wenigst Glückliche – da fand ich dich. Welch ein Geschenk war das! Ich, der ich an einer Welt und ihrer Sonne nicht Lust gefunden hatte, lernte ein Öllämpchen lieben, weil es dich beleuchtete! Du warst die einzige Wirklichkeit in meinem Leben, die Veste, auf der ich meine Welt aufbaute – du, beladen mit Geheimnissen, du, das Geschöpf eines Lebens, von dem ich nichts wußte! Ich lernte dich zu sehr lieben, mit einer Liebe, die mein Wesen durchschütterte[559] und in mir zuweilen Abgründe der Ermattung aufriß, wie ein ungeheurer Zorn!

Doch wenn in deinem Reden, deinem Schweigen

so wie in einem Nest und einem Abgrund,

wie Kröten, Lüge neben Lüge wohnt –

vom Anfang an, und immer – immer fort

– wie's möglich ist, entsetzlich möglich ist! –

was bleibt uns dann, Vittoria, daß wir beide

fortleben können? sag, was bleibt Vittoria?


Vittoria, in ihrem Gesicht scheint ein Entschluß mit Heftigkeit zu arbeiten. Sie geht zum Tisch und läutet mit einer kleinen Glocke.


LORENZO. Was willst du tun?

VITTORIA. Das Einzige, was dich ruhig machen kann! Ich wollte es vermeiden, um jeden Preis vermeiden! Aber jetzt muß es sein. Wir müssen zu ihm gehn. Du mußt dabei sein, wenn ich ihn wiedersehe und wenn er mich wiedersieht. Dann wirst du mir vielleicht glauben können. Oder er muß hierher kommen.


Läutet nochmals.


LORENZO erregt. Vittoria, was du willst, das ist schon geschehn. Er wird herkommen.

VITTORIA tonlos. Er wird herkommen!

LORENZO. Ich habe das getan, was du tun willst.

VITTORIA.

Du hast es getan, du hast es schon getan!


Zu dem Diener, der an der Tür rechts vorne erscheint.


Geh wieder, es ist nicht mehr nötig.


Diener ab.


Du hast ihn herbestellt – – um mich zu prüfen?

LORENZO mit bebender Stimme. Ich weiß es nicht – es kam so – es fügte sich so. Da du es aber nun so willst, Vittoria .... Du selbst es willst – dann ist ja alles gut, Vittoria!


Kleine Pause.


Was macht dich jetzt traurig?

VITTORIA sehr ernst.

An eines nur hast du gar nicht gedacht.

Wenn er jetzt kommt, und sieht mich, und sieht den,

und nimmt ihn mir? Lorenzo, nimmt ihn mir![560]

LORENZO.

Wie, kennt er denn sein Kind?


Vittoria schüttelt den Kopf.


LORENZO.

Erkennt er dich?

VITTORIA.

Kann sein. Und dann? was dann, er ist der Vater

ich nicht die Mutter; welche Kraft hab ich,

die Schwester, wenn er sein Kind haben will?


Sie richtet ihre Augen auf ihn.


LORENZO ganz verstört.

O weh mir, daß ich immer wehtun muß,

mir selbst und andern!

VITTORIA indem sie ihn mit den Händen leise berührt.

Es ist besser so:

wenn du mir dann nur glauben kannst, mein Lieber,

und glauben, daß ich dein bin.

LORENZO schmerzlich.

Mein! Doch wie?

VITTORIA.

So völlig, als ich kann! Nun still, die kommen.

LORENZO.

Sieh mich noch einmal an!

VITTORIA.

Da!


Sie reicht ihm einen Blick wie einen Kuß.


LORENZO.

Liebe! Liebe!


Marfisa und Cesarino kommen plaudernd näher, Lorenzo geht ihnen entgegen.


VITTORIA in der Mitte allein, spricht sanft vor sich hin.

Ich kann nicht sehn, wie sein Gesicht so blaß ist

und so beladen mit verhaltnen Schmerzen.


Indem sie weiter spricht, nimmt ihr Gesicht einen völlig veränderten Ausdruck von Aufmerksamkeit, beinahe von Strenge an.


Um seinetwillen lüg ich bis ans Ende.

Nun bin ich Eine, die auf Dächern wandelt,

wo kein Vernünftiger den Fuß hinsetzt:

wer mich beim Namen anruft, bringt mich um.

Doch wenn der Andre ähnlich wär mit dem,

so fiele dies Gebäude schnell zusammen!

Nun muß ich warten, ruhig, was auch kommt:[561]

doch wenn ich Einen falsch berechnet hab,

so grub ich meinem ganzen Glück sein Grab.


Sie tritt ans Klavier und schlägt stehend ein paar Akkorde an.


CESARINO zu ihr tretend.

Laßt mich doch nicht dabei sein, wenn ihr euch

mit diesem fürchterlichen Alten abgebt.

LORENZO.

Wen meint er denn?

VITTORIA.

Den alten Passionei.

Der kommt dann her. Du siehst, auch ich hab Gäste.

CESARINO.

Ich wollte grad so gern mein offnes Grab

anschaun, als solch ein wandelnd Grauen. Ich denk mir

immer,

wenn ich ihn essen seh und eine Beere

abfällt, bald fällt vielleicht der Finger mit!

Verzeih mirs Gott, ich freu mich manchesmal,

daß ich die Mutter nie gesehen hab

Und nun nicht zusehn muß, wie sie zerfiele!

Du bist mir statt der Mutter und bist jung!

Laßt mich mit der ins andre Zimmer gehn:

sie soll auf einem Stuhl im leeren Zimmer

verlassen sitzen wie die Ariadne,

ich will der Bacchus sein, der zu ihr kommt!

Ich roll den Apfel, wie ihr Knie so rund,

dann ist sie Atalanta, ich der Freier,

der sie gewinnen will mit großer List!

MARFISA.

Dies ist ein Kopf, in dem die ganze List

beisammen wohnt von Frauen und von Männern.

Er sagt aus Heuchelei das, was er meint,

und deckt es damit besser als mit Lügen.

CESARINO auf sie zeigend.

Dies ist ein Kopf, in dem der Kopf der Circe

verborgen ist, der, wenn sie schläft, wie Phosphor

durch Elfenbein, durch diese Larve schimmert.

Ich fürcht, sie macht Glühwürmer aus uns allen

und steckt sich die mit Nadeln in ihr Haar![562]

VITTORIA.

Nein, bleibt nur da, ihr beiden.

CESARINO.

Ich bleib nicht da und will,

daß sie mit mir geht. Und willst du es wehren,

so schrei ich so, daß der dort an der Decke

vor Schrecken den gemalten Blumenkranz

aus den gemalten Händen fallen läßt!

VITTORIA.

Marfisa, bitte, geh: vor meinem Spiegel

sind aufgeschlagne Noten, bring mir die.


Marfisa geht links ab, Lorenzo in den Hintergrund.

Vittoria küßt Cesarino heftig auf die Stirn.


CESARINO.

Was hast du, Schwester? Du bist nicht wie sonst!

nein, lüg nicht, du hast eine Angst in dir!

Was ist es, Schwester, liebe Schwester, was?

VITTORIA.

Geh zur Marfisa, gib nicht acht auf mich!

CESARINO.

Nicht von der Stelle, eh du anders bist,

du! du!

VITTORIA.

Nein, geh, mein Kind. Du bist doch da,

du und mein Mann. Wovor sollt ich mich fürchten?

CESARINO.

Ich weiß nicht, was es ist, allein ich fühl,

es ist etwas. Du bist nichts als ein Schwindeln,

in einen dünnen Schleier eingewickelt.

VITTORIA.

Mein Freund, das ist nur, was wir alle sind.

Merk auf, ich geh den Gästen jetzt entgegen,

und später sing ich was von der Musik,

die er geschrieben.

CESARINO.

Wer?

VITTORIA.

Der Passionei,

der alte Mann, vor dem es dir so graut.

CESARINO.

Merk auf, er weiß nicht, daß die Melodien

von ihm sind und schläft ein, indes du singst.


Vittoria nickt ihm zu, gebt nach rückwärts.
[563]

CESARINO steht rechts, sieht ihr nach.

Sie geht nicht so wie sonst. Ich bin nicht ruhig,

eh ich sie singen hör. Doch fürcht ich sehr,

sie singt heut nicht. O weh, was sind mir nun

die Lippen der Marfisa! Liebe Schwester,

die schwächste Angst um dich haucht auf die Welt

und macht sie trüb wie angelaufne Klingen!


Marfisa kommt von links, legt die Noten aufs Klavier, geht zu Cesarino nach rechts.


LORENZO tritt von links rückwärts wieder herein, winkt Vittoria zu sich und führt sie an der linken Seite der Bühne einige Schritte nach vorne.

Vittoria, noch ein Wort!


Vittoria tritt zu ihm.


LORENZO spricht hastig. Wenn er sein Kind nicht kennt – und dich, wie's sein kann – auch nicht erkennt – so bitt ich: sag ihm nichts!

VITTORIA sieht ihn groß an.

Wie?

LORENZO.

Denn nun hab ich Kraft, dir so zu glauben!

VITTORIA sanft.

Wie du es willst, wie du es wirklich willst.

LORENZO hastig.

Ich will, daß du für Cesarino nicht

zu fürchten hast – um meiner Schwäche willen!

VITTORIA schnell.

O schmäh dich nicht!

LORENZO.

Sei still, die Gäste kommen.


Sie wenden sich nach rückwärts.

Rückwärts, als wie aus Gondeln und über Stufen heraufsteigend, die Folgenden, von Lorenzo und Vittoria begrüßt: der Abbate, der alte Komponist, geführt von seiner alten Dienerin und der Redegonda. Hinter diesen Salaino, der deutsche Graf und drei Musiker mit ihren Instrumenten.


DER ABBATE indem er sich vor Vittoria auf ein Knie niederläßt.

O schönste Eurydike! die mit Orpheus

die Rollen tauscht, und sie ruft ihn zurück

und führt ihn aufwärts aus dem Reich der Schatten!


[564] Die Dienerin nimmt dem Alten den großen Mantel von den Schultern und eine große Halsbinde vom Hals.


VITTORIA.

Wen meint ihr, Gamba?

ABBATE.

Euch und diesen hier!

VITTORIA sieht Passionei an.

Solch eine Kraft hat Zeit, und ist doch nichts,

schlägt nicht auf uns, gießt uns kein Gift ins Ohr

und solche Wirkung!


Der Alte flüstert mit seiner Dienerin.


VITTORIA.

Ich bitt euch, Freunde, wißt ihr, was er will?

REDEGONDA.

Er fürchtet sich vor jeder kühlen Luft.

VITTORIA.

So führt ihn hierher, hier ist er geschützt.


Indem alle nach vorne gehen.


Mit solchem Schauspiel kürzt das Leben uns

die Zeit, da wir nun einmal seine Gäste.

Lebendige läßt es wie die Sodomsäpfel

vor uns zu Staub zerfallen, schneller als

ihr blühend Bild in unserm Aug erlischt,

Verschwundne schickts zurück, erweckt die Züge

Vergessener im ahnungslosen Antlitz

von Kindern, legt es auf Verwirrung an,

schickt Jedem Doppelgänger übern Weg,

und läßt die Samen aufgehn, wann es will!


Sie setzen den Alten in einen Lehnstuhl vor dem großen Tisch. Die Dienerin bleibt neben ihm. Er flüstert mit ihr.


LORENZO.

Was will er nun, ich bitt euch, Freunde, seht!

DER GRAF.

Nun ängstigt ihn die Sonne.

VITTORIA.

Auch die Sonne!

Auch vor der Sonne hat er Furcht! So arm –


Es wird an einem der rückwärtigen Fenster ein grüner Vorhang herabgelassen.

Salaino setzt sich ans Klavier, die Musiker halten ihre Instrumente
[565]

bereit: Violine, Cello und Flöte. Vittoria geht, nachdem sie dem Alten einen Polster gegeben, nach links, nimmt ihre Noten in die Hand. Sie stimmen.


VITTORIA.

Dies ist ein Mensch, von dem einst Freude ausging

und hier, wo jetzt der öde Trübsinn brütet

und zweite Kindlichkeit, das grauenvolle

Gespenst der ersten, hier saß einst Musik,

so süß, wie in der Brust von jungen Lerchen,

die überladen mit Triumph aufsteigen

und manchmal tot vor Lust zur Erde fallen.

Er selbst sitzt nun nicht hier, nur seine Hülse:

sein bessres Teil schläft da und da und da!


Sie zeigt auf die Instrumente.


Das Leben spinnt das Beste unsrer Seele

aus uns hinaus und spinnt es still hinüber

auf andere unschuldigre Geschöpfe

wie Bäume, Blumen, solche Instrumente,

in denen lebt es dann und altert nicht.

Wahrhaftig, wo wir lieben, schaffen wir

solch eine unsichtbare Zauberinsel,

die schwebt, mit selig unbeschwerten Gärten,

schwebenden Abgründen: die gleitet dann

im Traum des Abends einmal spät vielleicht

in goldner Luft hin über unserm Haupt,

und wenn die Augen sie noch matt erkennen,

die Hände heben wir umsonst empor!

So lassen wir vor diesem alten Mann

sein ihm entwandtes Reich nach oben fluten,

vielleicht, daß er noch drüber weinen kann

und schmelzen bei des eignen Feuers Gluten!


Sie fangen an zu spielen, Salaino am Klavier, Vittoria zählt die Takte, bis die Singstimme einsetzt. Rückwärts rechts tragen Diener verdeckte Silberschüsseln auf. Der Alte dreht sich nach ihnen um. Die Dienerin will ihn abhalten. Der Alte schlägt nach ihr und scheint stärker nach einer der Schüsseln zu verlangen. Vittoria legt ihre Noten aus der Hand, geht zu dem Alten hinüber. Die Musiker halten inne.
[566]

VITTORIA.

Schaut: er will von den Speisen! Davon? nein?

doch davon? Das ist süß. So nimm von dem.


Sie haben ihm von der süßen Speise gegeben, er ißt gierig.


VITTORIA sich von ihm abwendend.

Sieh mich nicht dankbar an, das ist zu bitter,

daß du für dieses dankst und nicht für jenes.


Geht wieder zu den Musikern hinüber.


So laßt ihn denn, und spielen wirs für uns!

Denn wirklich: was einst Feuer war in ihm,

ist Feuer nun in uns und diesen Geigen:

als er noch jung war, gab ihm das ein Gott:

er horchte auf den leisen, süßen Laut,

mit dem das Blut in den entblößten Adern

des Lebens läuft und fing den Klang davon

in seinem Ohr und hauchte ihn in Flöten:

wir haben die Musik, die er erschuf,

nun ist sein Atem nimmermehr vonnöten!


Sie fangen wieder an, das gleiche Musikstück zu spielen. Indessen führt ein Diener durch die Türe rechts vorne den Baron herein. Dieser winkt dem Diener, nicht zu stören und bleibt abseits stehen. Vittoria bemerkt ihn und senkt mit ruhigem Lächeln ihr Notenblatt. Die Musik hält inne.


VITTORIA sehr gelassen zu Lorenzo, der dem Eintretenden den Rücken kehrt.

Lorenzo, du hast einen Gast gar nicht gesehn.

LORENZO wendet sich, begrüßt den Baron.

Ah, Weidenstamm! ich freue mich von Herzen!


Leise.


Nichts, wenn ich bitten darf, von heute Nacht:

das ist vorbei und nicht mehr wahr, wie Träume!


Er wendet sich zu Vittoria, führt sie an der Hand einen Schritt vor.


Vittoria! – Baron Weidenstamm aus Holland!

VITTORIA zum Baron, lächelnd, kühl.

Und mir nicht völlig fremd, wenn ich nicht irre.

LORENZO rechts zur Seite tretend, für sich.

So grüßt sie nicht, wenn der geheime Inhalt[567]

all ihrer Träume aus dem Nichts hervor

auf einmal spränge. Ah, sie grüßt ihn so,

als wär es Einer, den sie gestern abend

noch sah und sprach. O ja, nun kann ich atmen.


Vittoria scheint durch eine Bewegung den Baron auf ihre Gäste hinzuweisen. Der Baron tritt auf Marfisa zu, die mit dem Abbate und Cesarino rechts steht. Cesarino und der Abbate treten zur Seite. Vittoria sieht unverwandt auf den Baron, dessen Blick nur einmal flüchtig über Cesarino hinstreift. Rechts ganz vorne steht Lorenzo und beobachtet auch die Gruppe mit Aufmerksamkeit. Plötzlich fährt er mit der Hand wie unwillkürlich nach der Dose, die er zu sich gesteckt hat. Er besinnt sich sogleich, tritt zu Vittoria und spricht.


LORENZO hastig.

Du mußt ihm alles sagen. Cesarino

steht dort, als atmete dasselbe Bild,

das hier auf meiner Dose – ja, mich dünkt,

er muß es jetzt schon wissen.

VITTORIA leise.

Wie du willst.

LORENZO ebenso.

Wir müssen, Liebe, Mut!

VITTORIA.

Wenn du denn willst!


Der Baron verbeugt sich lächelnd vor Marfisa und tritt wieder zu Vittoria vor.

Vittoria winkt Cesarino zu sich. Marfisa und der Abbate gehen zu den Musikern hinüber, die ihre Instrumente bei Seite gelegt haben.


VITTORIA Cesarino dem Baron vorstellend.

Dies ist mein Bruder und zu sehr mein Stolz.

Die Sonne von Neapel war das Erste,

zu dem er »Kukuk« sagte, wenn sie abends

im Meer versank, und später wollt er sie

anrühren, weil er sie für einen Ball

von Gold hielt, und seither ist er verliebt –

ich glaub, seitdem – in Gold und Edelsteine

wie eine Elster, und ich fürcht, das macht:

er hat ein zu begierig Aug für Schönheit.

Das Lesen und das Schreiben lehrten ihn[568]

die guten Väter auf dem heiligen Berg,

der die Karthause von Siena trägt;

ich glaube, wenn er lachte, waren sie

so froh, als wäre ihrem Klosterschatz

ein Stück vom heiligen Rock zuteil geworden,

und aus dem Holz ehrwürdiger Zypressen

auf ihren Ruhestätten schnitzten sie

ihm eine Armbrust und auch gleich den Vogel,

da der von Gott geschaffne nicht so still hielt.

Ich schwätz zu viel. Es haben ihn fünf Städte

und eine Schwester, die nichts kann als singen,

so schlecht erzogen, daß er voll der Fehler

der Jugend steckt, und leider voll des Zaubers,

der für zu günstige Augen sie verhüllt.

Je mehr ich von ihm rede, merk ich, kommt

nicht er, nur meine Torheit an den Tag.

Geh zu den Andern, geh zu der Marfisa.


Cesarino tritt zu der Gruppe beim Klavier.


VITTORIA.

Er meint, daß ihm die Welt gehört. Wenn er

zu Wagen oder Schiff in einer Stadt

ankommt, so rollt er seinen Blick umher,

ganz wie der Söldnerführer, der die Stadt

erobert hat und die Brandschatzung abhält

und mit den Augen, stärker als Magnete,

versteckte Frauen und vergrabne Schätze

aus allen Winkeln an sich ziehen will.


Während dieser Erzählung suchen Vittorias Augen den Blick des Barons, und sie scheint mit dem Blick ihm mehr sagen zu wollen, als ihre Worte sagen. Der Ablate steht aber nahe. Auch Lorenzo steht

rechts vorne in ihrer Nähe.


VITTORIA fortfahrend.

Sein Reden, wenn er sah, was ihm gefällt,

ist wie Auflodern halberstickter Flammen.

Er ist noch halb ein Kind, und seine Zunge

ist wie der Speer des Halbgotts, dessen Spitze

die tiefsten Wunden schlug und wieder heilte.

Sein Blick dringt durch und durch, er sieht die nackt,[569]

die sich verstellen, und ich fürchte, Scham

hält ihn nicht auf, doch weiß ich: Liebe kanns –

CESARINO tritt wieder zu ihr.

Sprichst du ihm immer noch von mir, du Gute?

VITTORIA.

Mein Bruder, sprich mit ihm, er stand sehr nah

zu deiner Mutter.

CESARINO.

Tatet ihr das, Herr?

Ich habe meine Mutter nie gekannt.

Sie sagen, »Mutter« ist das schönste Wort

im Leben, mit dem tiefsten süßen Klang

beladen, doch für mich ist »Schwester« dies.

Und wenn ich »Mutter« sag, so denk ich Eine,

die mit dem einen Fuß im Grab, auf mich

aus fremden Augen schaut, und schaudre fast.

BARON.

Da tut ihr unrecht.


Führt ihn plaudernd nach rückwärts.


VITTORIA allein stehenbleibend, da auch Lorenzo nach rückwärts gegangen, der Abbate zu der Gruppe am Klavier zurückgetreten ist.

Schmäht er seine Mutter,

um mir zu schmeicheln? Und mich schmerzts beinah!

So steh ich selber mir im Licht und muß

zwiesäftige Früchte essen, deren Fleisch

halb süß, halb bitter schmeckt. Wie gleicht dies Träumen!

LORENZO zu ihr zurückkommend.

Vergißt du ganz den Alten?

VITTORIA.

Nein, mein Freund.

Verzeih, ich bin heut nicht die beste Hausfrau!

LORENZO.

Verzeih mir du. Ich seh, du bist bewegt.

VITTORIA.

Ja, ja, ich bins. Bedenk, wie viel er mir

wegnehmen könnte, dieser Augenblick:

mein Schicksal tanzt auf eines Messers Schneide –

verstehst du mich?

LORENZO.

O wohl.

VITTORIA indessen Lorenzo sich wegwendet und einem Diener etwas aufträgt; für sich.

Das hoff ich nicht!


[570] Wieder zu Lorenzo.


Sei ohne Sorgen, ich vergesse nicht.

Wo ist der Alte? ich vergesse nicht.

LORENZO.

Auch mich nicht ganz?

VITTORIA.

Heut weniger als je:

mir ist, ich seh mein Leben durch und durch

und deine Liebe drinnen.

LORENZO.

Wie die Mücke

im Bernstein?

VITTORIA.

Nein. So wie den Edelstein

im Bergkristall, der eine Heilkraft hat

und den verstümmelten Kristall von innen

nachwachsen macht, wie ein lebendiges Ding!


Lorenzo geht nach rückwärts.

Zu Vittoria tritt der Baron, Cesarino zu Marfisa, den Musikern und dem Abbate, der ihn bekomplimentiert.


VITTORIA geht noch einige Schritte nach vorne, so daß niemand sie hören kann; zum Baron.

So weißt du, wer das ist?


Baron küßt ihr die Hand.


VITTORIA.

Es ist dein Kind,

dein und mein Kind! Stell dich vor mich,

daß mich die dort nicht weinen sehn


Sie weint.


MARFISA.

Such du mir eine Frucht aus, Cesarino,

und bring sie mir!

SALAINO leise, flehend.

Marfisa!

MARFISA halblaut zu ihm.

Das war gestern –

und heut ist heut!


Sie nimmt die Frucht aus Cesarinos Hand.


VITTORIA zum Baron.

So wein ich

einmal aus meiner Seele tiefstem Kern:

denn dies ist das Geheimnis meines Lebens

und alles andre nur die leere Schale.

BARON.

Du liebste Zauberin, ein Spiegel ists,[571]

der dreißig Jahr nach rückwärts, wie ich atme,

mich eilig blitzt! Ich küsse meine Jugend

wehmütig auf die Stirn, wenn ich ihn küsse!

VITTORIA.

Mir macht er meiner Jahre Zählung wirr

und mich mir selbst zur Doppelgängerin.

BARON.

Wie meinst du das?


Die Gruppe links will Cesarino ans Klavier ziehen, Marfisa am schmeichelndsten. Ein Musiker bietet seine Geige. Salaino steht abseits.


VITTORIA halb gegen diese gekehrt, spricht zum Baron.

Sind alle nicht von seinem wilden Feuer

bestrahlt? er ist dein Kind! Sag, bist du froh?


Indem sie sich nach links hin wendet.


Sie haben recht, Abbate – Malaspina

hat Unrecht: ja, mein Bruder spielt viel besser,

geläufiger und besser viel als ich,

obwohl er um zehn Jahr, vielmehr beinahe

zehn Jahre jünger ist –


Zum Baron.


Siehst du, hier weiß kein Mensch

mein wahres Alter!

BARON.

Weil du keines hast!

VITTORIA lächelnd.

So schwimme ich auf einer großen Lüge

durchs Leben, wie Europa auf dem Stier:

die Schwester meines Kindes, schattenhaft,

zu einem neuen Wesen fast verdoppelt – –


Es kommt rechts der Alte vor, von seiner Dienerin und der Redegonda geführt; hinter ihm Lorenzo und der deutsche Graf. Der Baron tritt etwas zur Seite nach rechts vorne, Lorenzo zu ihm. Die Redegonda präsentiert den Alten und die Dienerin der Vittoria. Der Graf nimmt Anteil. – Indessen.


LORENZO zum Baron.

Nun weißt du, was mich in den Boden schlug,

als du mir deine Dose schenktest. Zwar

nicht jedes Blut ist so, daß es vor Staunen[572]

und plötzlicher Verwirrung fast gefriert.

Ich müßte diese Eigenschaft in meinem

ein Weibererbteil nennen und mich schämen,

wüßt ichs dafür nicht ziemlich frei von Feigheit

und fieberfrei, wo wirkliche Gefahr.


Baron schweigt mit einer verlegenen Bewegung.


LORENZO erklärend.

Ich weiß erst heute, daß Vittorias Bruder

von Mutter- zwar, doch nicht von Vaterseite

ihr Bruder ist –

BARON ablenkend.

Ich kannte einen Marschall

von Frankreich, den der Anblick weißer Mäuse

in Ohnmacht warf. Es gibt dergleichen Spiele –


Vittoria läßt sich von einem Diener die große Fruchtschüssel reichen und legt Feigen und Orangen in einen Korb, den die alte Dienerin hält. Der Alte sieht mit leuchtenden Augen zu.


VITTORIA.

Ja, deine Anna trägt sie dir nach Haus,

und sie gehören alle dir. Die Welt

ist für ihn wieder, wie für Kinderaugen

zurückgekrochen in die runde goldne

Orange. Möglich hat er selbst einmal

den Kern, bei Gott! unwissend hingestreut,

daraus der Baum entstand, von dem die kommt.

Er war vielleicht bei einer, die er liebte,

und wie die Nacht verging und ihnen Küsse

den Sommerdurst nicht stillten, schälten sie,

im Bette aufgestützt, solch eine Frucht

und warfen ihre Kerne durch das Fenster

nach einer Fledermaus, die draußen schwirrte.

Sie wühlten in dem kühlen Fleisch der Frucht

und teilten ihren Duft und Purpursaft

mit trunknen Fingern, die in einer Welt

von Leben, Lust und Traum zu wühlen meinten –

und ihre Lippen teilten eine Welt!

Nun hat die Zeit dies alles umgekehrt

wie eine Sanduhr, und die ganze Welt,

rückflutend, ließ ihm nichts als diese Frucht zurück.[573]

DER GRAF.

Ich führ in meiner Gondel ihn nach Haus:

er wohnt in einem Winkel der Giudecca,

wo morsche Leiber alter Schiffe liegen

und, langsam faulend, auf das hohe Meer

aus blinden Augenhöhlen –

REDEGONDA.

Wie! und ich?

Ich fahr nicht mit! Dort ist nichts als Gesindel,

hohläugige Kinder –

DER GRAF.

Kommen Sie nicht mit,

so finden wir uns auf der Piazza später,

in einer Stunde.


Die Redegonda tritt einen Schritt nach rückwärts, die Dienerin fährt den Alten weg.


VITTORIA zu dem Grafen.

Schön ist an euch Deutschen –

daß ihr Liebende sein und doch zugleich

vom Vater und vom Bruder einen Schimmer

an euch bewahren könnt. Hier liegt ein Grund,

euch recht zu lieben, wenn man euch versteht.

REDEGONDA flüsternd zum Baron, der zu ihr getreten ist.

So gib doch acht! Er würde mich ermorden!

DER GRAF lächelnd.

Meint Ihrs auf den? Dann wärs von Söhnen etwas –

REDEGONDA etwas rückwärts, zum Grafen.

Friedrich, Sie kommen nicht?

VITTORIA zum Grafen.

Ich meins auf den

vielleicht, und auch auf die.

DER GRAF.

Ihr seid sehr gut –


Er küßt ihr die Hand, sie reden noch, langsam nach rückwärts gehend.

Die Gruppe am Klavier hat sich aufgelöst und mit Ausnahme der Marfisa, die sitzenbleibt, sind alle nach rückwärts gegangen.


BARON rechts vorne zu Lorenzo, dem Alten nachsehend.

Das wird aus uns!

LORENZO.

Ich glaub, ich hab gehört,

daß er sehr schön war und von vielen Frauen geliebt –[574]

BARON.

Nicht möglich! Hast du seine Lippen

gesehn?

LORENZO.

Es gibt vielleicht Gedichte drauf! Er sang

in einer seiner Opern – man verglich

die Lippen einer halbgeöffneten

Granatfrucht –

BARON.

Weißt du das?


Für sich.


Er ist nicht doppelt

so alt wie ich, und wär ers, wärs kein Trost!

Nur keinen Tag verlieren, keiner kommt zurück!


Er sieht, daß Marfisa allein ist, geht mit einer verbindlichen Bewegung gegen Lorenzo eilig zu ihr hinüber, spricht eifrig mit ihr; sie lacht. Lorenzo geht zu der Gruppe im Hintergrund. Von dieser lösen sich bald Cesarino und Vittoria und kommen wieder vor, jeder für sich, er links, sie rechts. Cesarino betrachtet den Baron. Dann bemerkt er Vittoria, geht lebhaft zu ihr. Beide stehen rechts im Mittelgrund, halb den zwei andern zugewandt. Indessen.


BARON zu Marfisa.

Ich muß wahrhaftig heut vor Abend fort,

und doppelt gibt, wer gleich gibt, schöne Kleine!

MARFISA lacht, scheint ihm etwas zu versprechen.

Vor Abend, das ist lang!

BARON.

Drei kurze Stunden!


Er zieht seine Uhr heraus, beide neigen sich über die Uhr. Marfisa streckt drei Finger in die Höhe, er küßt flüchtig ihre Fingerspitzen. Sie deutet, er solle jetzt zu den andern gehen.


CESARINO lebhaft zu Vittoria.

Schwester, der fremde Mensch gefällt mir sehr –

VITTORIA.

Hat er denn viel mit dir geredet?

CESARINO.

Nein!

Allein die Art, und daß er wieder jetzt

mit der Marfisa spricht – schau, wie sie lacht!

ich weiß nicht, was es ist – ich hab ihn gern!

VITTORIA küßt ihn auf die Stirn.

Stellst du dir vor, du möchtest gern einmal

so sein?[575]

CESARINO.

Wie der? ganz so und nichts als das?

VITTORIA.

Ja, was denn noch? berühmt?

CESARINO.

Ja, auch berühmt!

Um alle auszulachen, die den Ruhm

wie eine große Staatsperücke tragen!

VITTORIA.

Wie trügst denn du ihn?

CESARINO.

Wie eine Schuhschnalle.

VITTORIA.

Wenn er jetzt herkommt, sprich noch mehr mit ihm,

und merk auf alles gut, was er dir sagt.


Marfisa ist aufgestanden und mit einem Blick auf Vittoria langsam und lautlos nach rückwärts gegangen, wo sie in der Tür rechts verschwindet.


BARON tritt mit einer leisen Verlegenheit zu Vittoria und Cesarino.

Bruder und Schwester!

CESARINO.

Das sind wir doch wirklich!

Sie sagens so wie »Diana und Endymion«,

»Zeus und Europa«, ganz als ob es Masken wären.

VITTORIA.

Er ist zu unverschämt!

BARON.

Es ist sein Alter.

Ich muß ihn bitten, daß er mir du sagt,

daß wird ihn älter machen und mich jünger.

CESARINO.

Warum? es sagen Väter ja und Söhne

einander du!

BARON.

Doch Freunde auch. Es gibt

nicht wenig Städte, wo der ganze Adel

sich so zu Brüdern macht.

VITTORIA zu Cesarino.

Laß dir von ihm

erzählen! Er ist viel gereist: die Welt

ist ihm ein offnes Buch.


Sie geht nach rückwärts, wo sich indessen alle empfohlen haben und Lorenzo allein zurückgeblieben ist.


CESARINO eifrig zum Baron.

Die halbe Lust

am Reisen, denk ich, nein, mehr als die halbe[576]

muß in der Schnelligkeit – ich kann mich schlecht

ausdrücken –

BARON.

Aber was du meinst, hat Sinn:

Europa wird dein Haus, die Welt dein Garten,

der Wunsch erschafft dir Vaterländer,

die Hast ist schönste Trunkenheit!

CESARINO nachdenkend.

Ja, das – und viel – Doch irgendwie

muß dann das Leben immer so –


Er hält inne.


BARON.

Das kommt von selbst.

Der umgegrabne Baum geht schnell zugrund,

uns gibt ein fremder Boden Riesenkräfte.

Die Märchen werden wahr, der Vogel Rockh

trägt dich in seinem Turban, Ariadne

hebst du in deinen Wagen, die Verlassne:

Städte versinken hinter dir, und neue

tauchen empor: weil du der Fremde bist,

bist du schon reizender als alle Andern:

die Schönsten sind an Felsen festgekettet,

doch du hast Flügel an den Fuß gebunden

und wo du auftrittst, haben sich im Flug

Perseus und Andromeda schon gefunden!

CESARINO der jedes Wort von seinen Lippen trinkt; atemlos.

Warst du an einem Hof? und wie ists dort?

BARON.

Dort lernst dus jeden kurzen Augenblick

so leer zu saugen, wie ein Bettelkind,

das Trauben stahl, die letzte Beere aussaugt.

Und das ist gut, denn keiner kommt zweimal!

Geh jung an einen Hof und wenn du dort

herauskommst, bist du wie der Salamander,

der auch im Feuer atmet. Dort nur lernst du,

die Flatternde von vorne wild zu packen

an ihrem einzigen Büschel Haar, die Göttin

Gelegenheit! Dort lernst du, Dolche reden

und Gift aus deinen Blicken werfen, aber

du lernst auch, Augenblicke, die die Kraft[577]

von Blitzen haben, deinem Willen vor-

zuspannen, mehr in einem Blick zu schlürfen

als Perlen, die drei Königreiche wert sind,

und eines Atemzuges Frist zu stehen

auf einem Rad, dess Speichen Schicksal sind!

CESARINO.

Mir schwindelt!

BARON.

Nein, es ist nichts als Spiel,

darin der stärkste Wille aus Medusen,

die ihn erwürgen, wenn er sie nicht bändigt,

tanzende Grazien machen kann, ein Spiel –


Er legt die Hand auf Cesarinos Schulter und geht plaudernd mit ihm nach rückwärts.

Vittoria, hinter ihr Lorenzo, kommen stumm aus dem Hintergrund und bleiben links vorne stehen. Vittoria zeigt auf die Beiden.

Kleine Pause.


LORENZO.

Er denkt nicht daran, ihn uns wegzunehmen,

nicht wahr?

VITTORIA den Blick zu Boden.

Er denkt nicht dran.

LORENZO.

So bist du froh?


Vittoria nickt, aber mit traurigem Gesicht.

Lorenzo tritt von ihr weg nach links. Sie steht, ans Klavier gelehnt.


LORENZO für sich.

Warum ist sie nun traurig? Wieder Träume,

daran ich keines Schattens Anteil habe?

Ich werd nicht fröhlich, eh nicht der verschwunden:

so hängt noch immer Unheil in der Luft.

Fang ich aufs neue mich zu quälen an?

Nun ist nicht Nacht und morgen folgt nichts Beßres.


Der Baron und Cesarino kommen wieder nach vorne.


BARON.

Auch Kleider sind kein Ding, ganz zu verachten,

nichts ist bloß äußerlich: was wären Blumen?

In diesen Dingen steckt ein Teil von uns:

die Römer ließen Sklaven hinter sich[578]

hergehen, deren Köpfe schwer beladen

mit dem Gedächtnis wundervoller Verse

aus großen Dichtern waren: unsre Kleider

sind solche Diener, und sie atmen Träume,

die unsre eigne Phantasie erschuf.

VITTORIA zu ihnen tretend.

Ich seh, daß Ihr Euch nur zu sehr versteht.

BARON.

So sehr, daß Euer Bruder mir erlaubt hat,

ihm so, als wär ich ein Verwandter, dies

engmaschige Netz zu schenken, das ein Ring

mit eingegrabenen arabischen Worten

verschließt, doch eines Edelmannes Hand,

großmütiger als dieser Heidenring,

aufschließen wird, bis kein Gefangner mehr

im Innern wohnt.


Er reicht ihm eine schöne gefüllte Börse.


CESARINO.

Die Hülse gern, doch tu dies Gold heraus!

BARON.

Wie, hätt ich dir einen Granatapfel

geschenkt, behieltest du die Schale nur

und würfest mir die Kerne vor die Füße

wie dieses Gold?

CESARINO.

Nein, dies wär Nahrung

für einen Augenblick.

BARON.

Laß deine Laune

den Mund weit auftun und dies Gold wird mehr

nicht sein als Nahrung eines Augenblicks!

CESARINO.

Ich kann nicht –

BARON.

Also weißt du nicht zu schenken,

da du so gar nicht anzunehmen weißt!

CESARINO nimmt die Börse.

So muß ich wohl –


Baron scheint mit dem Blick jemanden zu suchen.


VITTORIA.

Die sind schon fort. Sie suchen?

BARON schnell.

O niemand, niemand![579]

VITTORIA zu Cesarino, der mit der Börse in der Hand unschlüssig dasteht.

Und was denkst du nach?

CESARINO.

Wir sind im Feenland: hier drinnen halt ich

ein seidnes Zelt, groß wie die Markuskirche,

Gewänder für zweihundert Sklavinnen –

und eines aus durchsichtigem Gewebe,

mit goldnen Schmetterlingen eingestickt,

mit einem Unterkleid mattgelber Seide,

liegt drauf und –

VITTORIA.

Heißt –

CESARINO.

Ich wollte sagen »glänzt« –

doch heißt? nun: heißt?

VITTORIA.

Marfisa Corticelli!

CESARINO.

Ja, liebe Schwester. O mach keine Falten

in deine schöne, liebe, helle Stirn!

Steht nicht so da und seht euch an und denkt:

er ist verliebt, das ist wie eine Krankheit,

man muß ihn hüten, er ist viel zu jung!

O laßt die Worte weg, sie sind Harpyen,

die Ekel auf des Lebens Blüten streun!

Bin ich so jung? Die Göttin Helena

war sieben Jahr, als Könige um sie

zu Felde lagen, und der Dichter Dante

neun Jahr, als ihm der Liebesgott im Traum

erschien und in Sonetten zu ihm sprach!

Die Seele hat kein Alter: dein und meine

sind Zwillinge, die deine nur die sanftre!

Wenn ich Musik gehört hab, ist mein Ohr

so voller Nachklang, daß ich Harmonien

der Sphären spüre, wenn ein Ruder leise

durchs Wasser gleitet: so verzaubert sie

mir meine Augen, wie Musik mein Ohr.

Seht den an, der meint alles, wie ichs meine!

VITTORIA.

So geh und kauf!

CESARINO.

Zwei Schiffe sind gekommen,

eins von Brabant und eins aus der Levante:[580]

da find ich, was ich such: denn ihre Maße

hab ich im Kopf, so wie die vielen Stimmen

der Palestrinamesse, die ich neulich

aus dem Gedächtnis aufschrieb in der Nacht.

VITTORIA leise.

Er macht Musik aus allem, was er anrührt!

LORENZO ebenso.

Wie wundervoll, daß solch ein wildes Wasser

zugleich die Gabe hat, so rein zu spiegeln!

BARON küßt ihn auf die Stirn.

Geh, geh, mein Sohn, o wie ich dich erkenne!

CESARINO.

Für was?

VITTORIA schnell.

Für einen frechen kleinen Burschen –

den hoffentlich die Leute auf dem Schiff

einfangen, ihn in einem andern Land

als Affen zu verkaufen.


Baron und Lorenzo reden indessen miteinander.


CESARINO.

Gut, dann spräng ich

ins Wasser und es käme ein Delphin

und trüge mich auf seinem Rücken fort!

VITTORIA.

So geh nur, geh!

LORENZO zu Cesarino.

Nimmst du mich mit?

CESARINO.

Wie gern!


Er läutet, ein Diener kommt, bringt zwei schwarze Maskenanzüge.

Der Baron tritt zu Cesarino, flüstert ihm etwas ins Ohr, Cesarino hängt sich ausgelassen an seinen Arm.

Lorenzo legt den Arm um Vittorias Taille, führt sie ein paar Schritte nach vorne.


LORENZO sehr heiter.

Weißt du, daß der Baron mir eben sagt,

daß er Venedig heute schon verläßt?

VITTORIA.

Wie, heute schon?

LORENZO

Ja, heut, und läßt sein Kind

mit heiterm Lächeln stehen, wo ers fand.[581]

Wie rätselhaft verschieden Menschen sind ...

Auch deine Mutter glich wohl dir nicht sehr!

Wie töricht war ich nur mit meiner Angst:

das weiß ich: diesen hast du nie geliebt,

auch nicht im Traum, auch nicht im bunten Traum!


Er wendet sich wieder zu den andern.


Leb wohl, Vittoria. Cesarino, komm!


Zum Baron.


Du aber, bitte, leistest meiner Frau

noch eine kurze Zeit Gesellschaft, ja?

Ihr müßt euch vieles zu erzählen haben,

wenn ich nicht irre. Sind die Masken da?


Lorenzo und Cesarino werfen die Masken über und gehen ab. Vittoria geht nach vorne links, lädt den Baron mit einer Handbewegung zum Setzen ein, er bleibt stehen, scheint befangen.


VITTORIA.

Nun geht dein Sohn mit meinem Mann und kaufen

ein Kleid für eine Tänzerin. Kein Märchen

geht lustiger aus. Die alten Tränen wurden

Goldflitter für ein buntes Maskenkleid,

du bist der Tänzer, ich die Tänzerin,

wir drehn uns einmal, dann gehst du hinaus,

ich hier hinein, und alles hat ein Ende.

BARON küßt ihre Hand.

Du Liebe, Schöne, Gute!


Er wendet sich, nimmt seinen Hut von einem Lehnstuhl, wie um wegzugehen.


VITTORIA sieht ihn nachdenklich an.

Viel, viel leichter

sind manche Dinge hier, wo sie geschehn,

als hier, wo wir sie träumen. Sonderbar!

Nun lassen sie uns eine halbe Stunde

allein, damit wir, wie auf dem Theater,

du mir, ich dir, in hundert Worten sage,

was zu erleben grad ein halbes Leben

hinreichte – und dann willst du wirklich fort?

BARON den Hut in der Hand, rasch.

Noch heute, Liebe.[582]

VITTORIA.

Heute! an dem Tag,

der dir dein Kind gegeben. – Dies ist wahr,

daß Frauen Mütter sind, und Männer – Männer.

BARON.

So kränkt es dich?

VITTORIA achselzuckend.

Du mußt –

BARON.

Ich muß, Geliebte!

Sie sind mir auf der Spur. Aus Eifersucht

hat eine Frau –

VITTORIA lächelnd.

Ist eine Frau im Spiel?

So mußt du wirklich, Frauen sind gefährlich!

Man sagts zumindestens. Ich war es nicht:

dir nicht, dem alten Mann nicht, nicht dem Dritten.

Vielleicht bin auch ich keine rechte Frau.


Sie tritt ihm einen Schritt näher.


Weißt du denn noch, wie über alle Maßen

achtlos, wie über Nacht du mich verließest?

BARON.

Nach den drei Tagen?

VITTORIA.

O nein, der drei Tage

gedenk ich nicht, der guten Zeit gedenk ich,

und ihres doch für dich so leichten Endes!

BARON verlegen.

Du weißt nicht, wie das war.

VITTORIA.

Ich weiß es nicht

und hab es nie gewußt. Doch nun, mein Lieber,

erzähl mirs nicht, denn nun ist nicht die Zeit.


Tritt ein wenig zurück.


Nun ist die Zeit, von unserm Kind zu reden.

– – Der alte Mann, bei dem ich lang gelebt –

BARON.

Der Fürst von Pallagonia?

VITTORIA.

Diesen Namen,

der dich und mich nicht kümmert, der auf Erden

nichts als den Deckel einer Gruft bezeichnet,

den wußtest du, doch daß ein Kind, dein Kind

aufwächst, ein lebend Kind von dir und mir,

das hast du nie gewußt! so leben wir!


[583] Nach einer kleinen Pause.


Der alte Mann war gut. Mit wenig Kunst

könnt ich aus ihm mir einen Vater machen.

BARON mit affektiertem Interesse.

Er?

VITTORIA.

Hat dies Kind gekannt und recht geliebt.

Ich hab ihn sterben sehn. Die Güter kamen

an seine Neffen.


Sie tritt an die Wand links, schlägt einen Gobelin zurück und läßt ein tiefes geheimes Fach aufspringen.


Diese Edelsteine,

die er mich anzunehmen sterbend bat,

sind das Korallenriff im Meer gewesen,

daran sich mit der Zeit ein kleines Erbgut

für mein – für unser Kind von selber hing.

BARON.

Von selber?

VITTORIA.

Ja, denn ich tat nichts dazu,

als daß ich sang. Wofür sie mich bezahlten,

der Schatten wars, den meine Seele warf,

wenn sie die Flügel schwang, um dich zu suchen.

Ich warf mein Netz nach Liebe, und ich zogs

mit einem Klumpen Gold empor. Allmählich

fand ich das Leben freundlich. Wie sie alle,

die Menschen, wie ein langer Maskenzug,

fast wie die Könige aus Morgenland,

die Gaben brachten für ein schlafend Kind,

an mir vorüberkamen und von allen

mir nichts zurückblieb als dies viele Gold –

BARON.

So ist er reich?

VITTORIA lächelnd.

Wohl reicher als mein Mann.

BARON.

Der – ist der Dritte?

VITTORIA läßt das Fach wieder zuspringen.

Ja, der Dritte. Du

der Erste, warst mein einziger Geliebter:[584]

doch weil das Leben Vater mir und Bruder

versagte, als ich hilflos war und klein,

so mußt ich sie im Leben suchen gehn

und fand zuerst den einen, dann den andern.


Sie zieht die Tapete wieder vor, tritt von der Wand weg.


Nun weißt du alles.

BARON zieht einen Ring vom Finger.

Wenn dein Sohn so reich ist,

so wird ihn dieser Ring des Steines nicht

und auch – des Gebers wegen nicht erfreun:

so gib ihn du, von der er alles hat,

dem Kind an seines armen Vaters Statt!

VITTORIA.

Du nennst dich selber arm! Antonio, hör mich.


Nimmt ihn bei der Hand.


Er, ich, dies alles ist doch dein! dein Ding!

Du bist sein Vater, ich gehör zu ihm,

und er muß dir –

BARON schnell.

Vittoria! still, Vittoria!

Wir müssen still vorüber aneinander,

still wie die beiden Eimer in dem Brunnen,

der eine geht nach oben, der ist voll,

der leere geht nach unten in das Dunkel.

VITTORIA.

Antonio!

BARON.

Ich bin heut nicht arm und morgen –

VITTORIA ängstlich.

Lieber!

BARON.

Gib ihm den Ring und sag ihm dies dazu:

er kommt von einem, der mit tausend Armen

nach allen Freuden griff und wie ein Kind

mit allem wild zum Mund fuhr; der mit Lust

am Schein von Seifenblasen hing; der achtlos

ein wundervolles Herz hinfallen ließ,

um eine liederlich geschminkte Maske

zu haschen; der des Lebens Sklave hieß,

nicht altern konnte, und – dein Vater war![585]

Gib ihm den Ring, und sag ihm nichts dazu.


Er wendet sich zum Gehen.


VITTORIA.

Wie, du willst gehen und ihn auch nicht erwarten?

Es ist noch früh am Nachmittag!

BARON sieht auf die Uhr, verlegen.

Verzeih,

ich hab Verschiedenes zu ordnen, auch –

es wär ein Augenblick, was macht der aus?

VITTORIA.

So geh und ordne.


Sie läutet; an der Tür rechts vorne erscheint ein Diener.


Angelo, die Gondel

für den Baron.


Diener ab.


Wie du sie verstehst,

die Kunst, die ich im Leben nie erlernt,

die Kunst, zu enden! Wer das kann, kann alles.

Ich fing was an, da war ich sechzehn Jahr,

und heute hats kein Ende –

BARON.

Tuts dir leid?

VITTORIA.

Ich weiß nicht; geh.

BARON.

Leb wohl!

VITTORIA.

Leb wohl!


Sie wendet sich noch einmal um, geht an ihn heran; mit veränderter Stimme.


Antonio, weißt du, wie ich gestern nacht

zu dir kam? Nimm dirs als Erinnrung mit:

ich kam, so sehr die Sklavin eines Zaubers,

der von dir ausging – und doch nicht von dir –,

daß ich kaum mehr die Mutter deines Kindes,

kaum mehr ich selber war, die Sängerin,

vielmehr dein Ding, dein törichtes Geschöpf,

die kleine längst begrabene Vittoria.

Ich bin sehr froh, daß du das nicht gespürt

und mich mir selbst zurückgegeben hast.

Ich könnt auch dafür danken, daß du schuld warst,

daß ichs noch einmal spürte –

BARON nähertretend.

O Vittoria![586]

VITTORIA indem sie ihn mit einer leisen Gebärde abwehrt, leise.

Vorüber.


Von rückwärts kommt der Diener.


VITTORIA dem Diener zunickend, lächelnd, laut.

Ihre Gondel wird gemeldet,

Baron!


Sie verneigt sich, der Baron verbeugt sich tief. Beide gehen ab. Der Baron verschwindet mit dem Diener im Hintergrund. Vittoria bleibt an der Tür links stehen, sieht ihm nach, bis er verschwindet.


VITTORIA.

Wie, geht er wirklich? Kann ers? ja, er geht!

Er geht. Was will ich weinen? Alles führt

ein gütiges Geschick zu sanftem Ende,

und mir bleibt alles, denn der eine geht,

aus dessen Mund der Blitz hätt fallen können:

denn ihn hält eine Tänzerin am Faden,

und den Magnetberg, dran sein morsches Schiff

einmal die Nägel läßt und elend scheitert,

birgt jedes Haus, aus dessen offnen Fenstern

geschminkte Lippen auf die Straße lächeln.


Sie setzt sich in einen Stuhl, schlägt die Hände vors Gesicht, weint. Nach einer Weile steht sie auf, geht auf und ab.


Er geht und dreht den Kopf nicht noch einmal,

das Haus zu sehn, in dem sein Kind zurückbleibt.

Mich dünkt, das wollt ich doch, was jetzt geschah!

Wie, oder log ich auch mich selber an?

Wie leicht und lustig ging dies alles aus!

Hätt ich ihn gestern abend nicht gesehn,

gelang mir heute niemals die Verstellung:

und wiederum, wär etwas von dem Erz,

das in dem Namen »Vater« dröhnt und klingt,

in seines Wesens weichen Lehm gemischt,

so ging er heut nicht so von dieser Schwelle!

An welchem Spinnweb oder welcher Kette

von Eisen hängst Du unser Schicksal auf,

Du droben?


Sie stößt mit dem Fuß an eine Orange, die aus dem Korb des Alten[587] gefallen ist, hebt sie auf und legt sie, ohne darauf zu achten, aufs Klavier.


Wohl, ich seh, dies ist nun so.

Des Lebens Wasser rinnen einen Weg,

und der Musik erschuf – dann kommt ein Tag,

wo er sie nicht erkennt, und sich von ihr

wegwendet: also auch geschah es hier.

Bin ich nicht die Musik, die er erschuf,

ich und mein Kind? ist Feuer nicht in uns,

was Feuer einst in seiner Seele war?

Was gilt das Scheit, daran es sich entzündet:

die Flamme ist dem höchsten Gott verbündet!


Sie geht mit leichtem Schritte zur Tür rechts vorne hinaus, erscheint gleich wieder auf der Galerie, öffnet dort eine kleine Tür und verschwindet. Die Bühne bleibt eine Weile leer. Dann kommt von rückwärts Cesarino, verlarvt. Er ruft.


CESARINO.

Vittoria! Vittoria!


Steht horchend in der Mitte der Bühne still, reißt die Larve vom Gesicht, horcht gespannter. Läuft durch die Türe rechts, erscheint gleich wieder auf der Galerie; beugt sich weit über und ruft herunter mit bebender Stimme.


Lorenzo, schnell! sie singt so wundervoll,

mir bleibt das Blut in allen Adern stehn!

Sie singt das große Lied der Ariadne,

das sie seit Jahren hat nicht singen wolln!

die große Arie, wie sie auf dem Wagen

des Bacchus steht! o komm, Lorenzo, komm!


Vorhang.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 553-588.
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