Fünfte Szene

[457] JAROMIR. Ah, ich höre, der Theodor hat sich zur Abwechslung in den Schmollwinkel zurückgezogen! Ich hab dirs gesagt, Mama, wie er vor vier Jahren, kurz nach meiner Heirat, sein Bon plaisir zu erkennen gegeben hat, aus meinen Diensten wieder in deine zurückzutreten. Ich kann ihn nach siebzehnjährigem Beisammensein nicht mehr aushalten – wenn du es versuchen willst, à la bonne heure! Er ist ja eine Perle und in seiner Klasse ein ungewöhnlicher Mensch, aber er liebt Szenen – und da mir Szenen beiläufig[457] das Verhaßteste auf der Welt sind – und da ich hauptsächlich darum eine äußerst vernünftige und friedfertige kleine Frau geheiratet habe, um in meinen reiferen Jahren mich friedlich umgeben zu wissen –

BARONIN. Der Theodor ist ein ganz ausgezeichneter Mensch!!

JAROMIR. Aber ohne Frage, ein Erzengel. Aber ich vertrage eben nicht, einen Erzengel zum Diener zu haben, in dem alle paar Monate lang der Machtkitzel erwacht, mir zu zeigen, daß er der Stärkere von uns beiden ist.

BARONIN geht geärgert auf und ab, raucht. Du scheinst die Möglichkeiten dessen, was ein beschränktes Hauspersonal leisten kann, etwas zu überschätzen, mein Lieber, sonst hättest du nicht heute, an dem Tag, wo deine verschiedenen Freundinnen von sämtlichen Bahnhöfen abzuholen sind, den zweiten Kutscher zu Pferd in die Stadt geschickt, um den Schlosser für eine schließlich gleichgiltige Dachreparatur herzubestellen –

JAROMIR. Pardon, Mama, gerade diese Dachreparatur ist unaufschieblich. Es ist unmöglich, in der Nacht ein Auge zuzumachen, wenn eine losgerissene Dachrinne an ein wackelndes Eisengitter schlägt, – das muß ich als Bewohner der Mansarde wissen.

BARONIN stehend. Du hast dir oben ein Schreibzimmer eingerichtet, höre ich. Aber du schläfst doch nicht oben?

JAROMIR. Allerdings – seit einer Woche.

BARONIN. Ah?

JAROMIR. Seit die Baby in der Nacht mit den Zähnen so unruhig ist, hat Anna darauf bestanden, daß ich mich umquartiere.

BARONIN geht auf und nieder. Auch deine diversen Freundinnen sind jedenfalls sehr große Verhältnisse gewohnt.

JAROMIR. Wie meinst du das, Mama?

BARONIN. – Häuser gewohnt, wo es gar keine Umstände macht, wenn man im letzten Moment seine Dispositionen abändert.

JAROMIR. Inwiefern?

BARONIN. Er, Galattis, erscheint also plötzlich nicht oder erscheint erst später – Madame kommt allein.[458]

JAROMIR. Die Melanie Galattis kommt allein! Ah, da bin ich sehr überrascht. Das tut mir leid. Ich habe auf ihn gerechnet.

BARONIN stehenbleibend. Da bist du überrascht? So. – Und ihre Jungfer bringt sie plötzlich auch nicht mit. Man richtet also die Turmzimmer für drei Personen ein, es erscheint eine.

JAROMIR scheinbar sehr erstaunt und amüsiert. Die Melanie kommt ohne Jungfer! So eine bizarre Frau! Ich hätte nicht gedacht, daß sie ohne Jungfer eine Nacht in einer Jagdhütte verbringen würde. Aber so ist sie, unberechenbar. Sie wird dich unterhalten.

BARONIN wieder auf und ab. Frauen unterhalten mich selten! Besonders nicht, wenn ich sie durch längere Zeit sehen muß.

JAROMIR. Und meine Idee war gerade, daß eine solche Anwesenheit von ein paar neuen Gestalten dich zerstreuen würde –

BARONIN. Das war einer der Irrtümer, in die jüngere Angehörige in bezug auf ältere öfter verfallen.

JAROMIR. Dann darfst du dich wenigstens absolut nicht stören lassen, durch die Gäste ebensowenig wie durch uns und die Kinder. Das ist mein und Annas einziger Wunsch.

BARONIN grimmig. Ich bin euch für den Wunsch sehr verbunden. Sie stößt plötzlich den Stock auf den Boden. Himmelherrgott – Ruft. Theodor! – Wenn dieser Herr Galattis jetzt plötzlich wegbleibt, so ist doch das Bridge über den Haufen geworfen! Da muß ich ja noch Knall und Fall jemanden herschaffen! Ruft. Theodor! Besinnt sich. Hört denn wieder kein Mensch! Milli!

JAROMIR. Aber Mama, schone doch deine Nerven. So wird eben nicht Bridge gespielt werden.

BARONIN. Und die Abende?[459]

JAROMIR. Man wird plaudern, man wird ein bissl im Park umhergehen. – Jedenfalls führst du das Leben, das dir konveniert, ungestört weiter, die Anna das ihre – ich das meine. Ich denke zum Beispiel nicht daran, eine der Damen selbst von der Bahn abzuholen –

BARONIN. Ah, du willst das uns überlassen? Reizend von dir!

JAROMIR. Du schickst den Wagen hinaus – und bleibst vollkommen ungestört hier – indessen ich einen Spaziergang mache und mit mir und meinen Gedanken allein bin. Ich habe seit letzter Zeit, es muß das mit meinem vorgerückten Alter zu tun haben, ein ungeheures Einsamkeitsbedürfnis.

BARONIN. Dann war es ein außerordentlich glücklicher Gedanke, dir das Haus voller Gäste zu laden!

JAROMIR. Man isoliert sich nie so leicht, als wenn das Haus voller Gäste ist. Ich werde jedenfalls die Vormittage durchaus unsichtbar sein.

BARONIN. Du schreibst wieder?

JAROMIR bejaht stumm.

BARONIN. Und du wirst es wieder drucken lassen? Amüsiert dich das so sehr?

JAROMIR. Ich weiß nicht, was du meinst? Es ist üblich, daß man geistige Erzeugnisse durch die Druckpresse verbreitet –

BARONIN. Natürlich, wenn man ein Autor ist –

JAROMIR. Ich weiß nicht genau, Mama, worin du das Kriterium siehst, das mich von dieser Klasse von Menschen abtrennen würde. Für die Welt bin ich nämlich ein Autor, der meines ersten Buches. Mein Roman ist sehr anerkennend besprochen worden, er hat ein gewisses Aufsehen gemacht.

BARONIN. Das Kriterium sehe ich darin, mein lieber Jaromir, daß die Berufsschriftsteller etwas erfinden, während du, der du eben keiner bist, und auch keiner zu sein verpflichtet bist, dich in deinem sogenannten Roman damit begnügt hast, dich selber und deine eigenen Gefühle und Ansichten zu Papier zu bringen, auf Draht gezogen mit Hilfe einiger Vorfälle aus deiner engeren Erfahrung, die ich weder interessant noch mitteilenswürdig finde, die aber vielleicht drei bis[460] vierhundert Personen veranlaßt haben, das Buch zu kaufen, in der Hoffnung, in der sie dann allerdings enttäuscht worden sind, darin etwas handgreiflichere und indiskretere Details über persönliche Bekannte zu finden, als ihnen tatsächlich darin aufzustöbern gelungen ist.

JAROMIR. Ich danke dir, Mama, daß du nicht gesagt hast: Steht auf. noch handgreiflichere und indiskretere Details, aber ich glaube, das ist ein Thema, in dem wir nicht weiterkommen. Ich darf also noch einmal wiederholen, daß ich in bezug auf den Aufenthalt der Damen gar keine speziellen Wünsche habe und alles – aber alles! – deinem Gutdünken und der bewährten Umsicht und Tatkraft deines Theodor überlasse – und um halb fünf zum Tee natürlich erscheinen werde. Verneigt sich und geht ab über die Terrasse.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 457-461.
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