Erster Akt


[294] Großer geräumiger Gartensaal. Im Hintergrund, aus der matt gelblich glänzenden Marmorwand, eine hohe, sehr breite, dreiteilige Ebenholztür, deren sechs Glasflügel nach dem Garten zu weit geöffnet stehn. Über ihr ein rundes, ehernes, bereits grün patiniertes Medusenmedaillon, das durch seinen machtvollen Ausdruck den ganzen Raum beherrscht. Rechts und links, in gleicher Höhe mit ihr abschließend, je ein vielscheibiges, verhältnismäßig schmal wirkendes Fenster. Unter diesen zwei weiße, schwarz geäderte Greifenbänke, auf denen dunkelrote Samtkissen liegen. In den beiden Seitenwänden mächtige, ebenfalls schwarze Flügeltüren, die bis zur halben Höhe von grünen Dioritsäulen flankiert werden, auf denen Barockbüsten schimmern: aus braunroten Drapierungen weißliche Köpfe. Über diesen, je rechts und links, getriebne, eckige Bronzeschilder als Kerzenhalter. Auf dem schwarz und weißen, schräg gequaderten Fliesenboden ein schwerer, tiefdunkelblauroter Teppich im Stil der alten, italienischen Kirchenmuster. In seiner Mitte ein großer, runder, schwarz polierter Tisch mit schwerem, barockem Schnitzwerk, um den, mit den Lehnen gegen die beiden Flügeltüren, zwei dazu

passende Sessel stehn. Als Plafond ein farbenfreudiger Freskorausch in der Art Tiepolos. – Aus dem Garten her, in den drei Stufen hinabführen, plätschert ein Springbrunnen, die Sonne draußen über den bunten Blumenrabatten leuchtet, und der ganze Raum wird belebt und erfüllt durch ein fortwährendes, heimliches Blätterspiel, das aus den hohen Bäumen durch die geöffneten Türen und die Fenster fällt. Ab und zu Wolkenschatten, bald fern, bald näher tutende Autos, Radfahrerklingeln, Stimmengeräusch, monotones Pferdegetrappel und die verschiedensten Vogellaute. Dazwischen der leise fortwährend eintönige Fall des Springbrunnens. Das Ganze, sofort einsetzend, durch den gesamten Akt wie eine allerfeinste und kunstvollste Instrumentation.[294]


MARIANNE schlanke, noch junge Schönheit, deren Hauptreiz in einer gewissen, seltsamen, leis über sie gebreiteten Melancholie liegt. Die feine Haut leicht gebräunt, das prachtvolle Haar tiefgold-kastanienbraun, die Augen schwarz, groß und mit langen, seidigen Wimpern. Sie trägt ein violettes, faltig fließendes Gewand, keinen Schmuck, und hält in ihrer herabhängenden Linken einen dem Kleid angepaßten, welligen, mit dunklen Rosen garnierten Florentiner. Sie steigt eben aus dem Garten, hilft sich dabei müde mit der Rechten, in der sie ein paar Frühlingsblumen trägt, an der offnen, mittelsten Glastür, steht, wie erschöpft, einen Augenblick vor dem Mitteltisch, seufzt tief auf, geht lässig auf die Tür ihr zur Linken, hat bereits deren Klinke erfaßt und blickt nun, wie einem unwiderstehlichen Trieb oder Drange gehorchend, nach der Tür links zurück. Sie läßt die Hand sinken, geht langsam wieder an den Mitteltisch, legt hier die Blumen und ihren Hut nieder und geht wie traumwandelnd weiter auf die Tür links zu. Noch bevor sie diese ganz erreicht hat, schrickt sie bei einem plötzlich ganz besonders nahen Autolaut schmerzlichst zusammen, dreht den Kopf wie entsetzt nach dem Medusenhaupt und bricht, mit der Rechten, gegen die sie die Stirn preßt, an den Türpfosten gelehnt, während die Linke, wie unbewußt, die Tür streichelt, in ein leises, wimmerndes herzrührendes Schluchzen aus. Georg! ... Georg!! ...

ONKEL LUDWIG alter weißhaariger Hüne; das energische, scharf geschnittne Gesicht, aus dem unter buschigen Brauen zwei nordisch blaue Augen ab und zu noch seltsam jugendlich blitzen, glatt rasiert, durch die Tür rechts; seine schwere Wucht dabei auf einen Stock gestützt. Über den unerwarteten Anblick ganz starr; beide »a« kurz, das erste betont. Ja aber ...

MARIANNE die ihn zuerst nicht hatte kommen hören; nach ihm umgedreht; entsetzter, halb wie irrer Blick nach der Mitteltür, durch die sie vorhin gekommen war, als hätte sie von hierher das plötzliche Auftauchen eines ganz andern erwartet; noch ganz wirr. Du? ...

ONKEL LUDWIG der ihrem Blick gefolgt war; ganz besorgt. Marianne! ... Was ist dir denn? Du machst ein paar Augen ... Wer soll jetzt durch diese Tür ...[295]

MARIANNE sich mit der flachen Linken, während sie die Lider einige Sekunden geschlossen hält, wie um wieder zu sich zu kommen, über die Stirn streichend. Verzeih! ... Ich war im Moment ...

ONKEL LUDWIG erst jetzt, etwas schwerfällig, nähertretend. Erst sucht man dich den ganzen Morgen Zwitschernde Spatzen. wie ne Stecknadel, und wenn man dich dann endlich ... Hat den Sessel rechts, auf den er zugesteuert war, jetzt erfaßt.

MARIANNE jetzt ebenfalls am Tisch; in den Sessel links zusammenbrechend. Ach, Onkel Ludwig!

ONKEL LUDWIG der sich inzwischen gesetzt hat; dabei wieder, besorgt-unruhig, einen Moment nach der Mitteltür blickend. Hat sich irgendwas ... ereignet oder zugetragen? ... Ist dir was passiert? ...

MARIANNE stumm abwehrende Geste. »frag mich nicht!« ...

ONKEL LUDWIG auf seinen Stock jetzt, forschend- eindringlich, gegen sie vorgebeugt. Willst dus mir nicht sagen?

MARIANNE vergeblich mit sich ringend. Ich ... kann nicht!

ONKEL LUDWIG in seinen Sessel wieder znrückgelehnt; durch die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen etwas verschnupft und verstimmt. Hm! So! Na! ...

MARIANNE um ihn auf ein andres Thema zu bringen; nach dem Garten hin. Ein Tag heute ...! »Vogel Bülow«..

ONKEL LUDWIG als wär ihm etwas in die Kehle gekommen. Tja!

MARIANNE in die prachtvolle, wahrhafte Schönheit des Tags einen Augenblick wie versunken; als ob sie sich gleichzeitig dadurch von etwas befreien wolle. Ein herrlicher ... wohltuender ... ausgesucht schöner Tag! Derselbe »Vogel Bülow«, wie vorhin; diesmal zweimal.

ONKEL LUDWIG in seinem Sessel vergneddert hin und her. Und den hat man nu so bis jetzt ... aus dem Haus in den Garten, aus dem Garten wieder ins Haus ...

MARIANNE gequält zu ihm aufblickend. Daß dir schon ... drei kurze Stunden ...

ONKEL LUDWIG wie höchst übel und ungerecht von ihr behandelt; fast gekränkt. Da du doch sonst nie ... Ich kann mich gar nicht mehr entsinnen ... Leichte, scheinbar lässige Kopfbewegung nach ihrem Hut hin. Du warst weg?

MARIANNE die sich noch immer nicht recht gefaßt hat; unbestimmt-ausweichend.[296] Ich hatte geglaubt ... du würdest mal unterdessen ... vielleicht einen deiner alten Spaziergänge wieder aufnehmen!

ONKEL LUDWIG als hätte sie ihm damit die denkbar stärkste Zumutung gestellt. In dies neue Berlin? Auto: »wütendes Wildschwein«. Wo man alle fünf Schritt Gefahr läuft, die paar mürben Reste, die einem der gnädige Schöpfer noch gelassen hat, unter irgend so ne widerwärtige Elektrische, oder son Satansbiest von Autoomnibus zu betten? Radfahrer; schrillst. Hab ich jetzt satt!

MARIANNE: Man atmet förmlich immer auf ... Unwillkürlich dies etwas selbst tuend. sobald man aus diesem häßlichen, wirbelnden Malstrom ...

ONKEL LUDWIG sie unterbrechend; zuerst noch brummig-grollend, dann sich mehr und mehr in Rage und Feuer redend. Vor siebzig Jahren wars schöner! ... Wenn ich damals Wieder Geste nach dem Garten hin. durch das große, schwarze Eisengitter drüben, mit meiner Botanisiertrommel oder einem Buch, in den Tiergarten ging, glaubst du, da begegnete einem auch bloß eine einzge Menschen seele? Da gabs nichts, wie Sonnenschein und Schmetterlinge! Meisen: »Zizigäg, Zizigäg«. Vom Brandenburger Tor nach dem Großen Stern oder dem Neuen See war ne Landpartie! Heut Andrer Tonfall; Auto: Doppellaut. kann man vor lauter Kindern und Ammen dort kaum noch treten! In der Hofjägerallee verkauft n Kerl mit ner weißen Schürze Speiseeis, und am Goldfischteich steht ne dicke Italienerin mit Luftballons! ... Ganz fernes Auto. Überhaupt! Erheblich mit sich im Selbsthader; fast düster. Ich weiß manchmal gar nicht, wozu ich meine morschen Knochen in dies elende Sündenbabel wieder zurückgeschleppt habe!

MARIANNE die sich inzwischen, nach und nach, endlich etwas gefaßt hat; nachsichtig-gütig; fast wie eine junge Mutter zu ihrem kleinen Kind. Hast du nicht oft gesagt ... daß du dich da draußen ...

ONKEL LUDWIG in seinem Sessel wieder unbehaglich-unruhig. Nu ja, ja, ja!

MARIANNE in ihrem Satz fortfahrend; Ton noch seelischer. Wo du niemand hattest, wo sich keiner um dich bekümmerte ...

ONKEL LUDWIG konzedierend-bärbeißig. Ist ja wahr! Ist ja wahr!

MARIANNE: Wo du immer nur ganz allein warst ... Abbrechend und plötzlich aus ihrem eigensten, tiefsten Innenleben. Auch der geistig[297] in sich geschlossenste Mensch ... und wenn man sich auch noch so ... bloß auf sich selbst zurückziehn möchte ... wer zu andern keine Brücke mehr hat ... oder keine mehr findet ... Zerquält innehaltend.

ONKEL LUDWIG melancholisch vor sich hin. Einsam ...

MARIANNE den Kopf etwas zurück, die Augen dabei geschlossen. Entsetzlich!

ONKEL LUDWIG von ihrem unwillkürlichen Zwischenruf kaum unterbrochen in seiner Meditation weiter. Was wir auch anstellen! Wie wirs auch drehn! Sind wir alle! ... Nach einer kleinen, unwillkürlichen Pause; Buchfinken und ferne Stimmen. Du bist einsam ... Kopfbewegung nach der Tür ihm gegenüber. Georg ist einsam ... Ebensolche Kopfbewegung rechts nach dem Garten rüber. dein Vater, mein Herr Stiefbruder, der Magnifikus, in seinem riesigen, protzigen Prunkkasten da vorne, ist einsam ... und ich In seiner Sprache etwas langsamer. glaube ... meine steinalte Mutter ... die ja nu wohl, zu seinem Leidwesen, bei ihm »fromm« geworden ... mit nächstem ... bald ihre Hundert wird ... ist auch einsam!

MARIANNE die ihn solange aufmerksam, mitleid- und teilnahmsvoll, angeblickt hat. Onkelchen! Gib mir mal deine alte, liebe, gute Hand.

ONKEL LUDWIG ihr mit einem gewissen, zögern den Unbehagen und Widerstreben diesen Wunsch erfüllend. N ... na?

MARIANNE seine harte Tatze mit ihrer weichen Patsche streichelnd. Willst du deinen bösen Groll auf die beiden nicht endlich vergessen?

ONKEL LUDWIG der seine Hand wieder zurückgezogen hat; im höchsten Grade unwillig; fast entrüstet. Marianne!

MARIANNE von neuem; eindringlich; ihren Vermittlungsversuch noch nicht aufgebend. Was du gegen Großmutter auch hast ...

ONKEL LUDWIG dem die Brauen nur so gewittern; beide Silben zornig vorstoßend; die zweite kurz und betont. Jaja!

MARIANNE: Was du ihr auch nachträgst! Die Hauptakzente noch verstärkt. Und mag es sogar das Allerkränkendste und Bitterste gewesen sein! So viel Zeit ist drüber vergangen!

ONKEL LUDWIG knurrend-verbissen. So einige Lustra! Allerdings! Macht sich!

MARIANNE noch intensiver; bereits fast mit einem leisen Vorwurf. Könntest[298] du dir nicht denken, ist es dir wirklich so ganz unmöglich, dir das vorzustellen, daß du damit meinem Vater, der nun auch schon grau ist Gedämpftes, sich während der nächsten zwei Repliken entfernendes Pferdegetrappel. der noch Kind war, als du in die Welt gingst, und ...

ONKEL LUDWIG der es auf seinem Sessel kaum noch aushält; ungeduldigst. Und, und, und?

MARIANNE sich noch immer steigernd; in ihrem Satz weiter. Und der doch sofort, nachdem du wieder zurückgekehrt warst, alles getan, um aus innerstem Herzensdrang, wenn auch leider vergeblich ...

ONKEL LUDWIG sie unterbrechend und in ihrem Satz, dessen Gedankengang er dabei geradezu auf den Kopf stellt, grotesk-höhnisch fortfahrend. Mich alten Sünder in die verzeihend und liebevoll geöffneten Arme unsrer gemeinsamen Frau Mutter wieder ... etcetra pepeh ...

MARIANNE von seiner ironischen Großmut, ihren Satz jetzt vollenden zu dürfen, nicht Gebrauch machend; seinem so hartnäckig fortgesetzten Widerstand gegenüber erlahmt und mutlos; »a« kurz. Ja, wenn du so sprichst ...

ONKEL LUDWIG der nur mit Mühe so lange an sich gehalten; erbittert; seinen nun schon seit länger als einem halben Jahrhundert in den untersten »Kellern seiner Seele« aufgespeicherten Grimm und Groll aus sich herauspolternd. Fünfzig Jahre hab ich mich rumgestoßen! In allen Erdteilen war ich! Immer mit meinem großen, grundlegenden, transphysikalischen »System« beschäftigt! Die Welt ist nu mal da, Verstand hat uns der Allmächtige in seiner weisen, unerforschlichen, väterlichen Nachsicht und Güte mit auf den Weg gegeben, sie muß also auch erklärt werden können! Mundus explicari potest, ergo explicetur! Auto. Das ist klar! Ferneres, wie ein Echo. Und überall, wo ich gesessen und drüber nachgedacht habe, jede Sekunde hab ich geglaubt: Nu kommt ... von deiner alten, angestammten Bank ... die dein Vermögen verwaltet ... die allein deinen Aufenthalt kennt ... und die dir jeden dritten Ersten pünktlich dein Deputat, dein Subsidium und dein Leibgeding schickt ... nu kommt ... Lang anhaltendes Radfahrergeklingel. das Telegramm![299]

MARIANNE als hätte sie nicht recht gehört; sich vergewissernd. »Das ...?«

ONKEL LUDWIG nickend und in seinem Stiebel unbeirrt weiter. Das Telegramm! ... Nu sind die vier oder fünf Talermillionen ...

MARIANNE durch diese ihm sonst so fremde Betonung seines »irdischen Schätzeplunders« leis indigniert. Du tust manchmal ...

ONKEL LUDWIG der nicht locker läßt; noch hartnäckiger. Die vier oder fünf Talermillionen, die dir dein fleißiger Vater hinterlassen hat, durch den natürlich erfolgten Hintritt seiner Frau Witwe ... Auf eine leichte, kaum merkbare, unwillkürliche Bewegung Mariannes, als wolle sie gegen diese lieblose Überhärte und zugleich mehr als bloß respektlose Ausdrucksweise einen gewissen Protest einlegen; seine Worte nun noch unterstreichend. Jawohl! Seiner Frau Witwe, die es vorgezogen, sich nach seinem Tode nicht verbrennen zu lassen, endlich für dich frei! Dann kehrst du zurück und gründest dort, wo deine Wiege gestanden, Spatzen. mitten unter dem Berliner hochnasigen, großpratschigen, rationalistischen Aufklärungsgesindel dein großes Okkultistenkloster! Dann hast du für das, was andre in ihrem Leben begangen, gebüßt, und ... Abbrechend und sofort, sich noch abermals steigernd, weiter. Ja, prost! Wären nicht ... die paar lächerlichen, armseligen, kärglichen Zinsen aus diesen lumpigen hunderttausend Mark gewesen ... die mir die betrübte, provisorische Universalerbin ... als ich mündig geworden war ... laut Kodizill, auf Heller und Pfennig bar hatte ausbezahlen lassen müssen ... Empörte, aufgebrachte Geste nach dem Garten hin. für die da ... hätte ich ebensogut in Surinam Kuli, oder in Kamtschatka Schneeschipper sein können!

MARIANNE so wenig sie ihn auch im Moment verletzen und seine Aufregung dadurch womöglich noch steigern möchte; doch ganz entschieden für die geschmähten Abwesenden Partei ergreifend. Du bist ... ungerecht!

ONKEL LUDWIG als hätte sie damit das absolut Unmöglichste aus der ganzen Welt behauptet. Ich???

MARIANNE etwas sanfter; wieder einlenkend; aber trotzdem innerlich sehr bestimmt. Ein Wort von dir, ein einziger Brief, wo du auch warst, die ganzen Jahre, das kleinste Lebenszeichen hätte genügt ...[300]

ONKEL LUDWIG ausbrechend; mit der rechten Faust vor sich auf den Tisch schlagend; seine Augen drohen und blitzen. Hab ich gewollt?!

MARIANNE über seine unvermutete Heftigkeit ganz erschrocken und betreten; die Augen gesenkt; stumm. ...

ONKEL LUDWIG in dem das Gewitter, dessen er sich eben entladen, noch immer bedenklich nachgrollt. Dank deinem Herrgott, daß du das, was mich von deiner Frau Großmutter und damit auch von deinem Vater für dieses Dasein trennt, von mir nie zu wissen bekommst!

MARIANNE nach einem kurzen Stutzen; durch seine dunkle Anspielung ganz verwirrt und betroffen; fast wie zu sich selbst. Ja, aber was kann denn das ...?

ONKEL LUDWIG brüsk; mit düster zusammengezognen Brauen. Nichts! ... Gar nichts! ... Wirr; abgerissen; kataraktartig; sich schnell heftig steigernd. Ich war damals ... als grüner Junge ... in jener verruchten ... wetterschwülen ... höllenschwarzen Julinacht ... in demselben Augenblick ... als fast gleichzeitig ... ohne daß ich es ahnte oder gar bereits darauf gefaßt war ... mein Vater ... schon seit Stunden bewußtlos ... nach langem, leidensvollstem Schmerzenslager ... seiner traurigen Auflösung entgegenröchelte ... Marianne unter seinen rollenden Blicken ganz entsetzt. und ich mit beklommnem Herzen ... Sich mit der linken, geballten Faust erbittert zweimal vor die Brust schlagend. denn damals hatt ich noch eins! ... hatt ich noch eins! ... Unbestimmte Geste hinter sich nach oben. mich aus meiner Dachstube oben ... heimlich die Treppe runter ins Vorzimmer geschlichen hatte ... Zu ihr vorgebeugt; seine Augen sprühen, seine Stimme, noch tiefer und rauher geworden, vibriert und zittert. wo ich den Vater deines Vaters ... Knöcheltremulando vor sich auf der Tischplatte. meinen Hauspräzeptor ... ich unterstreiche ... Wie eben; nur noch gesteigert. meinen Hauspräzeptor ...

MARIANNE ganz hilflos; mit groß aufgerißnen Augen ihn anstarrend; die Worte wollen ihr kaum durch die Kehle. Ich ... weiß ... wirklich nicht ...

ONKEL LUDWIG noch immer in seinem selben Satz; zäh weiter. Fünf Minuten lang Sich erbittert vor die Stirn tippend. wahrscheinlich nicht recht bei Verstand ... was ich dort mit eignen Ohren gehört[301] und mit meinen eignen Augen gesehn ... Fast heiser. fünf Minuten lang ... daß sich mir meine weißen Haare noch heute zu Berge sträuben ...

MARIANNE wie entgeistert. Mir kommt das alles ...

ONKEL LUDWIG erst jetzt seine lange Periode schließend; einen kurzen Augenblick wie erschöpft. War ein Phantasma ... Sich wieder aufruckend; jedes Wort betont; mit letzter verbissen-erbittertster Steigerung. und ich habe mir seitdem ... über zwei Menschenalter lang ... bloß was eingebildet!

MARIANNE vor seiner Leidenschaft noch ganz ratlos. Ich kann unmöglich ... ahnen, ich ... kann mir nicht ... vorstellen ...

ONKEL LUDWIG in dem noch alles nachzittert und zischt; mit größter energischster Entschiedenheit. Kannst du auch nicht! Ausgeschlossen! Bist du gar nicht fähig!

MARIANNE mit erneutem, nochmaligem Versuch sich zusammenraffend. Würdest du es aber ... vielleicht trotzdem über dich gewinnen ... könntest du es dir ... abringen ... die alte Frau noch mal zu sehn ...

ONKEL LUDWIG sie ergrimmt unterbrechend; ihren Satz fortsetzend; letzter, schneidendster Hohn. Wie sie jetzt in reuemütiger ... sich selbst bezichtigender Zerknirschtheit ... post festum ... christliche Bußtränen über ihre Bibel vergießt ...

MARIANNE mit Mühe sich wieder sammelnd. Ich ... begreife nicht, ich ... kann gar nicht verstehn ... wie du bei deiner sonstigen Güte ...

ONKEL LUDWIG der sich keineswegs wieder beruhigt hat; die Brauen buschig zusammengezogen. Güte??

MARIANNE sich mehr und mehr zurückgewinnend. Wenn du dich auch ... anstellst, als ob du mich deshalb ... gleich verschlingen und auffressen möchtest ... mir ist es geradezu ganz unfaßbar, wie du in diesem einen Punkt ...

ONKEL LUDWIG der sie wieder nicht ausreden läßt; hart; die Angelegenheit, wie er glaubt, damit endgültig erledigend. Von deiner Frau Großmutter schweig! Von der hast du mein Ultimatum eben gehört ... und damit basta!

MARIANNE den für sie wichtigsten Punkt ihrer Position jetzt erst recht verteidigend. Und mein Vater? Der an dem, was dich betroffen oder worüber du dich beklagst, doch aber auch sicher ganz und[302] gar unschuldig ist? Der von seinem Leben nichts mehr hat und dessen Dasein bis auf den heutigen Tag ... Auto. wenigstens rein menschlich, innerhalb seiner vier Wände und mit seiner Familie ...

ONKEL LUDWIG knurrend-wegwerfend. Weiberknecht!

MARIANNE die seinen Sparren nach dieser Richtung kennt. Weil er in so selbstloser, rührender, aufopfrungsvoller Weise meine kranke Mutter geliebt hat? Bis zu ihrem letzten, traurigen Schmerzenstag? Und noch heute der besorgteste, treuste und zärtlichste Sohn ist?

ONKEL LUDWIG widerborstig. »Sohn ist?« ... »Sohn«? ... Sag lieber willenloser, widerstandsunfähiger ...

MARIANNE andrer Tonfall; sich jetzt doch etwas zur Wehr setzend. Du solltest zu mir ...

ONKEL LUDWIG unbekümmert-rücksichtslos weiter. Auf den Wink gehorsamer Schleppträger, Handlanger und Unterwürfling ...

MARIANNE die ihn nicht ausreden lassen will; jetzt bereits fast energisch. Ihr habt euch in euerm ganzen Leben nie ...

ONKEL LUDWIG über ihre Einrede hinweg; erst jetzt seinen Satz schließend; durch den ihm entgegengehalten Sachverhalt nicht im mindesten irritiert. Und du kommst der Wahrheit näher!

MARIANNE für den von ihm so Verlästerten mit größter Entschiedenheit eintretend. Du hast und machst dir eine vollständig falsche Vorstellung von ihm!

ONKEL LUDWIG überzeugt, damit jetzt seinen Haupt-Trumpf auszuspielen; wieder mit einer Kopfbewegung nach der Tür ihm gegenüber. Hat Georg oft, und zwar sehr deutlich ...

MARIANNE die seinem Blick halb gefolgt war; durch seinen bedauerlichen Rekurs auf die Zeugnisschaft Georgs etwas peinlich berührt. Bei dessen ... persönlich ebenfalls und genau so gereizter ... bedauerlicher Stellungnahme ... gegen Großmutter ...

ONKEL LUDWIG »unerbittlich«. Ich habe gesagt: Weiberknecht! Und wenn ich von einem sage: »Weiberknecht«, dann möcht ich ihm immer gleich das Messer in die Brust stoßen!

MARIANNE trotz der ungewollten Komik seiner mehr als überfarbigen Ausdrucksweise einen Augenblick doch fast wie verletzt. Ich ... bitte dich![303]

ONKEL LUDWIG an selbstbewußter Bestimmtheit sich jetzt womöglich noch überbietend. Mulier taceat in ecclesia. De nihilo nihil! Das Weib ist die Wurzel alles Übels!

MARIANNE schon halb wieder bezwungen; den »Kampf« gegen ihn aufgebend. Danke!

ONKEL LUDWIG dadurch völlig mit ihr »versöhnt«; großmütigstes »Blümchen«. Du bist ne Ausnahme! Daß du mal summa cum laude deinen Doktor gemacht, merkt man dir Gott sei Dank nicht an!

MARIANNE amüsiert; scherzend. Das ist aber nett von dir!

ONKEL LUDWIG bis ins letzte davon durchdrungen und überzeugt. Bin ich zu dir immer! In seine alte Unversöhnlichkeit wieder zurückfallend; Pferdegetrappel; »Hü!«. Wenn einer aber sein Lebtag ...

MARIANNE beide Handflächen, wie in unwillkürlicher Abwehr, gegen ihn. Mein Vater ...

ONKEL LUDWIG eigensinnig-hartnäckig; einen Augenblick ebenso wie sie. Dein Vater, als der Berliner biologische Papst des krassesten, materialistischen Deszendenztheoretikertums bis zur dogmatischen Intoleranz, hätte sich mit deiner Mutter, seiner direkten, regulären, blutsverwandten Cousine ...

MARIANNE durch seine umständliche Weitschweifigkeit leicht nervös. Mein Gott, deshalb ...!

ONKEL LUDWIG parenthetisch in seinem Satz weiter. Und nun gar noch dazu aus jener dünkelstolzen, parasitären, französischen Emigrantenlinie, die sich mit ihrem alten, lächerlichen, abgelegten Adel ...

MARIANNE mit leiser, heimlicher Mokerie. Du berauschst dich in einer nachträglichen Buchführung ...!

ONKEL LUDWIG erst jetzt seinen Satz, fast jede Silbe betont mit erhobner Stimme schließend. Überhaupt und unter gar keinen Umständen erst aufs Standesamt verirren dürfen! Und mag se meinetwegen auch noch so anmutig und liebreizend gewesen sein! Weibliches Wesen von einer so nervösen Gebrechlichkeit, daß der Verzicht auf jede Nachkommenschaft bei Vollzug der Eheschließung primäre Voraussetzung war ... wie dieser »Verzicht« dann von beiden Seiten schließlich gehalten wurde ... Sie von oben bis unten sehr deutlich und fast mißbilligend messend. nimm mirs nicht übel, aber das sieht man ... Jetzt »empört-seitlich in die Luft« und neu anhebende, noch erbittertere Parenthese. nach neun Jahren ...[304]

MARIANNE leicht spöttisch lächelnd; »a« kurz. Ja ...

ONKEL LUDWIG in seiner Riesenperiode dadurch nicht unterbrochen; mit noch größerem Nachdruck. Nach neun Jahren Zwillinge und zugleich mit ihrer Geburt dann natürlich das ganze, rührende Idyll aus ... Abrupt-grimmig und sich in seinem Sessel, den er in seiner gerechten Entrüstung schon beinah halb geräumt hatte, empört wieder zurechtrückend. da hört doch verschiednes auf!

MARIANNE jetzt wieder sehr ernst. Du kannst doch aber nicht deshalb ...

ONKEL LUDWIG der sie nicht erst ausreden läßt; mit dem letzten Abschluß seiner Beschwerde hinterdreinpolternd. Daß sie zum Überfluß, außerdem, obendrein auch noch keinen blanken Heller gehabt hatte, rechne ich ihr schon gar nicht nach!

MARIANNE gutmütige, nicht weh tuende Ironie. Du bist von einer Generosität ...!

ONKEL LUDWIG unter den ganzen Klumpatsch sein grollend-bekräftigendes Siegel drückend. Ihr vertrackten, schlauen Weibsleute pfeift, und wir dummen, taprigen Mannsbilder ...

MARIANNE nervös-ungeduldig. Dein Lieblingsthema!

ONKEL LUDWIG mit stärkster Gewalt. Und mit Recht ...! Finster. Denn, wenn einer in seinem Leben unter etwas gelitten hat, und du kannst sagen, was du willst, ich ... Vor Erregung nicht fähig, den Satz weiterzusprechen.

MARIANNE in unbestimmtem Grauen. Ich habe ... meinen Großvater ... nie ...

ONKEL LUDWIG verbissen-grimmig. Freu dich! ... De mortuis nihil ... Sanft ruhe ...

MARIANNE wie bereits vorhin; nur noch gesteigert. Sein Tod ... war ein so schrecklicher ...

ONKEL LUDWIG ihr letztes Wort, wuchtig, nochmal aufnehmend. »Schrecklicher!« ... Ja ja! Leichte, etwas geärgerte Bewegung mit dem Kinn nach der Tür ihm gegenüber; dumpfes Auto. Georg schon auf?

MARIANNE Achselzucken; mit seinem »neuen Kurs« offenbar nicht ganz einverstanden; leicht- nervös unbestimmte Geste halb ebenfalls nach der Tür rechts. Wenn er noch nicht geklingelt hat ... ich weiß es nicht.[305]

ONKEL LUDWIG seinem Groll auch hier wieder die Zügel schießen lassend. Man kriegt ihn ja kaum noch zu sehn! ... Sein Frühstück nimmt jeder für sich allein, zu Mittag wird kein Wort gesprochen, und wenn man mal nachts zufällig aufwacht, hört man, wie der Herr Professor unten bei sich rumwankt!

MARIANNE gequält-abwehrend. Wozu drüber reden? Das ...

ONKEL LUDWIG als hätte sie nicht einmal »Muck« gesagt; mit Wonne in seinem Grimm weiter. Wer hält denn das aus? Nerven hat er doch bloß noch wie die Spinnweben! ... Mensch von so ner ursprünglichen Kraftnatur! ... Forscher, vormalger Artillerieleutnant! ... Hast du gemerkt, wie er wieder seine dummen Schlafpulver nimmt?

MARIANNE die plötzlich aufgehorcht hat. Woher ...?

ONKEL LUDWIG aufgebrachte, sich verteidigende, illustrierende Handbewegung. Wenn die leeren, ausgebrauchten, pharmazeutischen Originalbeweise auf seinem Schreibtisch bloß so rumliegen?

MARIANNE fast verweisend. Du ... solltest auf keinen Fall ...

ONKEL LUDWIG ihr das Wort wieder kappend. Seit zwei Wochen! Wahrscheinlich präzis von jenem verrückten Abend ab, wo er uns Afra ...

MARIANNE unter diesen zwei Silben fast zusammengezuckt. »Afra!«

ONKEL LUDWIG mit noch erhöhtem Nachdruck. Wo er uns Afra, dieses liebe, süße Geschöpf aus einer andern und, wie ich denn doch zuversichtlich hoffen möchte, bessern Welt ... durch seine törichte, unvernünftige, plötzliche Fragerei verscheucht hat!

MARIANNE zweifelnde, fast schmerzliche Geste. »Afra!« Du sprichst immer von »Afra«! Schon wenn ich bloß diesen seltsamen Namen höre!

ONKEL LUDWIG auf den diese Ungläubigkeit von ihr nicht den geringsten Eindruck macht. Hätte sie uns nicht ... mit so ziemlicher Bestimmtheit ... in Aussicht gestellt ... daß sie unter allen Umständen nochmal, falls wir dies durchaus wünschten ...

MARIANNE hierauf gar nicht eingehend; ihn unterbrechend; ihre zweifelnde Ungläubigkeit von vorhin noch gesteigert. Als ob es sich Erschreckt bellender Köter. um ein lebendiges Wesen handelt!

ONKEL LUDWIG mit unbeirrter Sicherheit, wie von einer für ihn selbstverständlichsten Tatsache redend, weiter. Da du bei ihrem Erscheinen stets in Trance lagst, kannst du von ihrer Realität natürlich[306] nicht überzeugt sein! Oder bildest du dir vielleicht gar etwa ein, Georg wars gleich?

MARIANNE noch immer ganz bei ihrer Skepsis; ratlose, völlige Verständnislosigkeit markierende Geste. Georg! Ich verstehe gar nicht! ... Georg, der sonst in solchen Dingen ...

ONKEL LUDWIG ihre Unterbrechung gar nicht beachtend. Erst, fast dies ganze Jahr lang, vor, in und nach jeder Sitzung immer wieder und wieder, bloß die skeptischsten Zweifel und Zweifel, äfft uns kein Blendwerk und Betrug? Existierst du überhaupt? Bist du nicht eins mit deinem Medium?

MARIANNE mit dem Versuch, ihn wieder zu unterbrechen. Du kannst aber doch Georg ...

ONKEL LUDWIG in seinem Referat weiter; von ihrem »Unterfangen« gar nicht Notiz nehmend. Hunderte und aber Hunderte der umständlichsten, kompliziertesten Messungen und Versuche, klopft in dir ein anatomisch normales Herz? Wie viel Frequenz hat dein Pulsschlag? Atmest du Kohlensäure aus?

MARIANNE ihren Versuch wiederholend. Ich finde das alles ...

ONKEL LUDWIG über ihre Worte wieder hinweg. Mit Mühe und Not, namentlich zu Anfang, mehr als einmal, wo ihm die Erscheinung oder Gestalt noch so gut wie mit dir identisch schien, hab ich ihn kaum davon zurückhalten können, daß er nicht die Verschwindende freventlich und mit Gewalt ...

MARIANNE wie bereits wiederholt; wieder vergeblich. Ich bat ihn oft selbst: wenn du der Erscheinung mißtraust ...

ONKEL LUDWIG sich an seinen Worten mehr und mehr »berauschend«; mit größter Steigrung bis zum Schluß. Alle enthüllenden Offenbarungen und Aussagen, auf die ich für meine Person doch aber auch ganz natürlich und selbstverständlich das Hauptschwergewicht gelegt hätte, werden meinen permanenten Protesten zum Trotz, angeblich als »völlig belanglos«, unregistriert in den Wind geschlagen, und mit einmal, zum Schluß, ich denke, der exakte Herr Professor der Physik und Chemie an der Friderica Guilelma hat für anderthalb Minuten seinen Verstand eingebüßt: »Wer bist du? Hast du, außer, wie du uns angegeben, im dritten Jahrhundert, sonst noch mal gelebt? Warum erscheinst du uns? Ist dein Schicksal mit meinem bereits irgendwie verknüpft[307] gewesen? Nach einer kurzen Effektpause; mit letzter Wucht; jedes Wort einzeln »siegerisch« hervorgehoben. Kannst du mir das Rätsel von Mariettes Tod lösen?«

MARIANNE die diese erneute Rekapitulation seiner umständlichen Schilderung, die sie schon oft von ihm gehört, kaum noch ertragen konnte; durch die letzten Sätze trotzdem wieder bis ins Innerste getroffen. Du quälst mich ja bloß!

ONKEL LUDWIG über ihre Pein wieder hinweg. Wenn ne junge Mutter mit zwei kleinen Kindern durch ne unglückliche Leuchtgasvergiftung ...

MARIANNE durch das Wiederaufreißen dieser alten Wunde wie gefoltert; mit geschloßnen Augen etwas zurückgelehnt; fast flehend. Hörst du nicht auf?

ONKEL LUDWIG ganz naiv. Na, was ist denn da aufzuhören? Von diesem prachtvollen Jungen, der allein wieder aufgewacht war ... Fernes, wie klagendes Auto. anfangs ganz frisch und munter ... höchstens n bißchen Kopfschmerz ... nu ja ... bis er euch dann schließlich doch ... auf so unerklärbare Weise genommen wurde, hast du mir doch oft genug, lang und breit, selbst erzählt!

MARIANNE in der Erinnrung an ihren kleinen, toten Liebling einen Augenblick wie versinkend; vor sich hin. Ich werde den Schmerz ... daß ich wenigstens dieses eine Leben ... nicht noch haberet ten können ... nie verwinden!

ONKEL LUDWIG noch immer bei seinem Protest gegen Georg. Drei einem so Nahestehende und fast auf einen Ruck ... ja nu! So was ist in diesem irdischen Jammertal ne Prüfung, meinetwegen sogar ne ganz heimtückische, miserable und hundsföttische, ich kann das Georg zur Not vollkommen nachfühlen, aber doch noch kein Grund ...

MARIANNE ihre ganze Energie zusammennehmend. Ich bitte dich jetzt inständigst!

ONKEL LUDWIG als der mangelhafte Psychologe, der er ist, die Stimmung, die er in ihr hervorgerufen, nicht verstehend und begreifend; seine ganze Naivität nichts ahnend znsammenfassend. Du bist seitdem hier bei ihm im Haus, ihr hattet schon vorher, die ganzen Jahre, wenn auch nur aus der Ferne und erst mal präliminarisch ... Marianne aufmerksam geworden. die verschiedensten[308] gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeitspunkte hin- und herkorrespondiert ...

MARIANNE energisch ansetzender Tonfall. Lieber Onkel ...

ONKEL LUDWIG »unschuldig« weiter. Deine, wie wir doch alle hoffen wollen, jetzt in Gott ruhende Schwester soll dir überdies und außerdem auch noch so furchtbar ähnlich gewesen sein, ja ... find das von mir nich komisch, aber ... warum heiratet ihr denn eigentlich nich?

MARIANNE in ihrer Erregung fast aufstehend; nur noch mit Mühe sich beherrschend. Wenn du willst ... daß wir die alten Freunde bleiben sollen ...

ONKEL LUDWIG ganz verwundert zu ihr auf. Aber Engelchen! Liebling! Begleitende, verdeutlichende Geste nach der Tür ihm gegenüber. Ich habe doch vorhin eben gehört ...

MARIANNE die Unwiderleglichkeit dieses Beweises fühlend; mit dem Bestreben, ihn etwas davon abzubringen. Du hattest mich so erschreckt, ich ... Relativ ganz nahes, trompetenhelles Auto. war so erregt, daß ich im ersten Augenblick wirklich ... Von der Tür rechts nach der großen Mitteltür blickend; unfähig weiter zu sprechen.

ONKEL LUDWIG der ihren Blick bemerkt hat; warnend seinen großen, linken Zeigefinger hebend und ihn langsam schüttelnd. Mariannchen, Mariannchen! Du bist mir seit dieser letzten Zeit, wo wir unsre Sitzungen ja allerdings ... ich gebs zu ... wenn meist auch durch den Übereifer Georgs ... so doch vielleicht schließlich auch nicht ganz mit ohne meine Schuld, etwas forciert hatten ... fast permanent von einer ... wie soll ich da gleich sagen ... beinahe exaltierten ... Erregtheit und Sensibilität ...

MARIANNE ihn unterbrechend; aus tiefster, innerlichster Zerquältheit. Unter der ich selbst ... Aufgescheuchte Amsel; geller Warnruf. am allerschwersten leide! Ich habe vor diesem Etwas ... das sich »Afra« nennt ... ein solches Grauen ... ich empfinde ... seit sie euch, wie ihr mir versichert, »erscheint« ... vor den Experimenten, mit denen ihr mich quält ... wo ich jeden Zusammenhang mit mir verliere und von nichts mehr weiß ... eine so unerklärliche Abneigung ...

ONKEL LUDWIG durch ihren Ausbruch, auf den er in diesem Augenblick nicht gefaßt war, ganz erschreckt; ihre Atempause benutzend; vollkommen ratlos. Ja, was soll man denn da ...[309]

MARIANNE von ihm kaum unterbrochen; in ihrem selben Satzgefüge fortfahrend. Mich schüttelt oft ein so ... Bei diesen Worten, wie ganz am Anfang, wieder entsetzt auf die Meduse starrend. unbestimmtes Angstgefühl ... daß ich wünschte ... eure schreckliche Schlußsitzung ... die ihr alle beide so herbeisehnt ...

ONKEL LUDWIG der ihrem Blick gefolgt war; von ihrer Erregung fast angesteckt. Was ... kuckste denn da?

MARIANNE die Augen noch auf der Meduse. Ich hatte diese Nacht ... obs nun eine Halluzination oder ...

ONKEL LUDWIG ganz erschreckt-überrascht. Doch nicht etwa wieder ... Geste. die Meduse?

MARIANNE nickend; schwer. Ja! ... Die Meduse!

ONKEL LUDWIG Bewegung mit der Linken unbestimmt hinter sich nach oben. Du ... warst doch aber ...

MARIANNE ganz erschöpft; mit Mühe nur sich sammelnd. Ich weiß ganz bestimmt! Ich lag und schlief! Und doch ... war ich hier unten! Müde und fast automatische Geste nach dem Zuschauerraum. Mitten im dunklen Musiksaal! ... Die Tür vor mir, lautlos, geht auf ... und ich trete, wie von einer unwiderstehlichen Kraft ... gezogen ... in diesen Raum! Wieder betreffende mechanische Verdeutlichung, wie vorhin. Links die Bibliothek ... rechts das chinesische Zimmer. Alles, wie sonst. Die Fenster ... kohlschwarz ... die großen Glasflügel ... kaum schimmernd ... und nur aus dem Gorgokopf über ihnen ... während aus der Orgel ... hinter mir ... wie von unsichtbaren Händen gespielt, eine mir seltsam altvertraute Melodie ertönte ... ein merkwürdig flimmerndes ... fahl zitterndes Mondlicht! ... Und da sah ich deutlich: die grünen Schlangen drum ... Vor ihrem Erinnrungsbild zusammenschauernd. wanden sich wieder! ... Wie damals! ...

ONKEL LUDWIG aus einer halben Betäubung, in die ihn die Lebhaftigkeit ihrer Schilderung versetzt hat, noch nicht wieder recht zu sich gekommen. Sonderbar! Während eine Melodie ...?

MARIANNE seine Wiederholung bestätigend. Während aus der Orgel gleichzeitig eine Melodie erklang ... die ich sicher schon oft ...

ONKEL LUDWIG noch halb zweiflerisch-ungläubig sich vergewissernd. Und du meinst ... daß dieser Traum ...[310]

MARIANNE schmerzlich-bestimmt; aus innerster Überzeugung und Gewißheit. Es war mehr als das!

ONKEL LUDWIG durch ihren Tonfall betroffen; fast scheu um sich blickend. Du kannst einen ... beinahe ...

MARIANNE in wieder schnell wachsender, steigender Erregung. Schon heute ... ganz früh! ... Ich war einen Augenblick, fröstelnd ... auf den Balkon getreten ... der Garten unter mir wie im Nebel, das große, rote Tulpenbeet noch fast grau ... niemand wach ... Pferdegetrappel. da fühlte ich es bereits und wußte Allerschmerzlichst und schwer. dieser Tag ...

ONKEL LUDWIG erst jetzt wieder ganz zu sich gekommen; ihren qualvollen »beinahe Monolog« unterbrechend; äußerste, teilnehmendste Besorgnis. Aber Kind!! Kindchen! ... Hätte ich vor zirka drei Jahren geahnt ... als ich meine großartge Entdeckung hier machte, was du für ein wunderbarstes Medium bist ... wunderbarer als alle Eusapia Palladinos und wie die Weibsbilder alle heißen mögen, zusammengenommen ... hätte ich damals vorausgesehn, daß das für dein spätres Gemütsleben mal von solchen Folgen begleitet sein würde ... ich glaube ... trotz Afra ... und so wenig ich mir nu ... diesen ... späten Seelentrost aus meinem Leben auch wieder wegdenken möchte ... ich hätte meine Weisheit ... für mich behalten!

MARIANNE die sich inzwischen, wenn auch nur einigermaßen, wieder gefaßt hat. Hättest dus doch!

ONKEL LUDWIG durch diese unverhohlne Zustimmung, die ihm bei all seiner väterlichonkelhaften Liebe zu Marianne doch absolut nicht in den Kram paßt, jetzt fast entrüstet. Waas? Das mutest du mir zu? Eine so kostbarste Gotteskraft, eine Offenbarungsmöglichkeit, wie sie unter Millionen noch nicht einem Einzigen beschert wird, für die jeder, der sie ... wenn vielleicht auch nicht grade empfangen, so doch ... gefunden ... dem Allmächtgen auf Knien danken sollte ... Dunkles Auto: nur ein einziger, langgezogner Laut. eine solche Gabe hätte ich verkümmern lassen sollen? Ich? Der ich nun schon fast drei Menschenalter an meinem »System« arbeite?

MARIANNE trotz ihrer innerlichen Zerquältheit jetzt doch über seinen primitiven Egoismus und seine drollige, ihm völlig unbewußte Naivität, wenn auch trübe, etwas lächelnd. »Mundus explicatus![311] Das gelöste Welträtsel oder der durchhaune gordische Knoten!« Ich weiß, Onkelchen, ich weiß!

ONKEL LUDWIG durch diese offenbare »Unbotmäßigkeit« erbittert; sich mehr und mehr wieder in Eifer schwatzend. Nichts weißte! Das war damals bloß meine Habilitationsschrift, die mir der Hohlkopf, dein seliger Herr Großvater ...

MARIANNE achselzuckend; seine Redseligkeit unterbrechend. »Hohlkopf!« Du hast mir ... mehr als einmal selbst ...

ONKEL LUDWIG das ihm beanstandete Wort seiner Gewohnheit gemäß, mit noch größerem Nachdruck wieder ergreifend; von seinem gefällten Urteil jetzt noch überzeugter. Die mir der Hohlkopf, dein seliger Herr Großvater, mein ehmaliger Hauslehrer, nachdem er sich hier ins warme Nest gesetzt und durch das angeheiratete Geld meines verstorbnen, armen Vaters zu staatlich sanktioniertem, amtlichem Rang und Nimbus gekommen war, mit seiner übrigen Zunftbruderschaft, die er natürlich dazu bestempelt hatte, abgelehnt hat!

MARIANNE die diese alte Beschwerde bereits kennt. Du willst doch damit nicht sagen ...

ONKEL LUDWIG der sie nicht ausreden läßt. Nichts will ich damit sagen! Als was ich dir schon oft gesagt, und was ich dir immer wieder sagen werde! Daß n königlich preußischer Armeelieferant, der mit seiner ersten Frau, trotzdem se keine Kinder gehabt ... oder vielmehr vielleicht grade, weil se keine gehabt ... was man so nennt, »glücklich« gewesen war, nicht die Erzdummheit hätte begehn sollen, sich mit schon halb kahl gewordnem Schädelbein, nachdem er die Nummer eins sozusagen optima forma auf dem regulär üblichen Wege unverdient los geworden war, nu auch noch ne zweite auf n Hals zu laden! Zumal, wenn diese zweite so praeter propter vierzig Jahre jünger war, als er, und ihre anmutige Erziehung nicht in irgendeinem tugendsamen Fräuleinsinstitut, sondern beim hiesigen ... Kurzes fernes Radfahrersignal. Berliner Corps de ballet genossen!

MARIANNE die seinen Wortschwall mit Geduld ertragen; gegen die mehr als eigentümliche Form seines rabiaten Schlußverdikts, sich jetzt aber doch auflehnend. Was konnte Großmutter dafür, wenn sie als arme Tochter eines bürgerlichen Offiziers ...[312]

ONKEL LUDWIG verächtlich-wegwerfend; als ob ihm so was nicht imponieren könne. »Offiziers«!

MARIANNE ihre Verteidigung fortsetzend; in ihrem selben Satz weiter. Der sein Leben in den Befreiungskriegen gelassen ...

ONKEL LUDWIG sie wieder brüsk unterbrechend; noch ungenierter. Man heiratet nicht aus Liebe mit siebzehn einen alt gewordnen Geldsack, der außer damals drei Millionen und sieben Zahnlücken ...

MARIANNE die kaum ihren Ohren traut. Du sprichst ... von deinem leiblichen ...

ONKEL LUDWIG mit erhobner Stimme; sie znrechtstupsend. Ich spreche von der Dame, verwitwete Brodersen, emeritierte Tänzerin, die noch keine zehn Monate nach dem Hinscheiden meines Vaters ...

MARIANNE ironisch, bitter. Dem du ein dankbar Andenken ...

ONKEL LUDWIG auch dadurch wieder noch keineswegs, auch nur um einen Millimeter, aus seinem Konzept gebracht. Dem ich ein dankbares Andenken ... du kannst kakeln, was du willst ... nie verweigern werde ...

MARIANNE nickend-amüsiert. Wie das Exempel ...

ONKEL LUDWIG von der absoluten Richtigkeit seiner vorgebrachten Behauptung aufs tiefste überzeugt; fast grob; die letzte »Syllaba« schon mehr im Posaunenton. Wie das Exempel beweist!!

MARIANNE da sie weiß, daß sich gegen diesen Ton bei ihm nicht ankämpfen läßt. M! ... Sarkastisch. Also du sprichst von der »Dame« ...

ONKEL LUDWIG erst jetzt seinen ganzen und, wie er glaubt, höchst gerechten Zorn in dies Schlußwort packend; mit von neuem und abermals erhobner Stimme. Von der Dame, die als kaum eben erst fröhlich Hinterbliebne, mit stark dreiunddreißig, deinen um mehr wie sieben Jahre als sie selbst jüngeren Großvater geehelicht hat!

MARIANNE ihn, ganz verwundert, groß anblickend. War das ... ein Verbrechen?

ONKEL LUDWIG mit Emphase ausholend; in ungeheuerlichster Naivität; argloser und unschuldiger als ein neugebornes Kind. Wenn ich nicht befürchten müßte, dir damit ... wenn auch noch nicht die Sache selbst, so doch wenigstens schon ihren eigentlichen und Hauptpunkt ... so gewissermaßen zu verraten, ich würde dir jetzt drauf antworten, das »Verbrechen« hatte bereits vorher gelegen!

MARIANNE in ihrem Sessel fast zurückgeprallt. Onkel!![313]

ONKEL LUDWIG triumphierend; seine gemachte »Andeutung«, wie er glaubt, zur Genüge und hinlänglich damit »dementierend«. Das heißt ... ich habe dir aber noch nichts verraten!

MARIANNE durch diese Art seines »Dementis« nichts weniger als beruhigt; ihre Augen garnicht von ihm lassend; stockend. Entweder ... ich muß dich eben ... nicht recht verstanden haben, oder ...

ONKEL LUDWIG seine bereits unter ihm wankende Position durch einen möglichst drohenden Tonfall aufrechtzuerhalten suchend. Wieso?!

MARIANNE ihre entsetzt fragenden Augen auf ihm wie vorhin; noch forschend-eindringlicher. Du sagtest ... Verbrechen!

ONKEL LUDWIG mit einem letzten, noch gesteigerten Versuch, sich zu »salvieren«. Ich?? ... Verbrechen?!

MARIANNE die sich dadurch nicht abbringen läßt; äußerst bestimmt. Das kann ... in diesem Zusammenhang ...

ONKEL LUDWIG der sich anders nicht mehr zu helfen weiß. Dummheit! Unsinn! Quark! Fabulei! ... Mit seiner überflüssig verräterischen Schwatzhaftigkeit so unzufrieden, daß er sich am liebsten eine usw. Hör nicht zu, was dir so n alter ...

MARIANNE trotzdem sie in der Hauptsache eigentlich schon längst alles weiß. Du hattest mir doch aber ... schon vorhin ...

ONKEL LUDWIG in der, wie er mit Schmerz und Zorn fühlt, vergeblichen Absicht, alles damit wieder zuzudecken. Nichts hatt ich dir »vorhin«! Nichts!!

MARIANNE noch eindringlich-inquirierender. Du hattest mir ... von jener Nacht ... wo dein Vater ...

ONKEL LUDWIG ganz hilflos; wie verdattert; in noch gesteigerterem Zorn auf sich selbst. Hab ich dir ...? Hatt ich dir ...? Da siehst du ... wie schon mein Hirn ...

MARIANNE erschüttert; mit mehr und mehr wachsendem Mitleid mit ihm. Daß dich diese ... schreckliche Erinnrung noch immer so ...

ONKEL LUDWIG kaum noch fähig, sie mit ihrer Anteilnahme von sich abzuwehren. Laß! ... Laß! ... Es genügt ... Abbrechend; wieder mit nochmals gesteigertem Ingrimm auf sich selbst. Hätt ich doch mein altes ... Ratternd und puffend sich in Bewegung setzendes Auto. unbedachtes Plappermaul ...

MARIANNE schwer ausatmend, mit innerlichem Entschluß, das andeutungsweise durch ihn Gehörte nach Kräften wieder zu vergessen, und[314] so, falls ihr dies möglich sein sollte, damit fertig zu werden. Es ist auch wohl schließlich ... vielleicht besser ...

ONKEL LUDWIG ihren begonnenen Satzanfang mit Eifer aufgreifend und ihren Ideen- und Gedankengang, von sich aus, eine Strecke weiter fortführend. Daß ein so junges ... unschuldges ... von all dem wüsten, unflätigen Schlamm und Schmutz ... dieser satanischsten ... ruchlosesten ... gottverlassensten Welten noch so rührend unbeflecktes, reines und lautres Geschöpf wie du ...

MARIANNE schmerzlich; als wolle sie sich damit, heimlich, irgendwie selbst anklagen. »Wie ...«

ONKEL LUDWIG auf diesen Ton gar nicht achtend; in letzter, verzweifelter Steigrung, mit der flachen Rechten, während seine Augen sich einen Moment lang schließen, wie erschöpft vor die Stirn fassend. Wenn das aber einem so hier ... ohne daß man etwas dagegen kann ... im Wachen und im Traum, im Traum und im Wachen ... nun schon seit fast einem dreiviertel Jahrhundert ... immer wieder dieselben ... unreinen, widrigen, sumpfschillrigsten Blüten und Blasen auftreibt ... daß man sich oft ... und manchmal ... selbst wie son ... Verbrecher ... Abbrechend; fast wie irr vor sich hin. Die eigne Mutter! ... Die eigne ...

MARIANNE ihre durch seinen Anblick in diesem Moment grausige, innerliche Stimmung mit aller Gewalt von sich abschüttelnd. Du sprichst ... in Rätseln!

ONKEL LUDWIG allmählich wieder zu sich kommend; dann sich »ermannend« und schließlich ganz wieder der Alte. Hat mir dein hochmütiger ... stolzer ... auf seine gepriesne, siegende Mannsschönheit mit Recht eingebildeter Herr Großvater ... als er mir als wohlbestallter Dekan seiner sich »philosophisch« schimpfenden Fakultät meine bahnbrechende Ephebenarbeit mit dem bekannten impertinenten, einem das Blut in die Schläfen treibenden Augurenlächeln wieder ein- und zurückhändigte, auch orakelt! Damit glücklich wieder auf sein, in normalen Anständen bevorzugtestes Thema gekommen. Was dem Heftige, zornige Vogellaute. Zopfgelichter nicht in seinen langweiligen, ledernen, hergebrachten Kram und in sein Handwerk paßt, Entsprechende, energische Geste. wird abgemurkst! ... So wars schon immer, und so isses noch heut! ... Wenn die Entwicklung der Menschheit,[315] ganz gleich auf welchem Gebiet, mal wieder um einen tüchtigen Ruck vorwärts gedreht wird, so steht an der Kurbel nicht einer aus jener anmaßlichen, sich überhebenden, hoffärtigen Koterie und Klicke, sondern einer von uns Autseidern! Das hat schon damals dem ollen Sokrates den Giftbecher gekostet und mir ... fast zwei Dutzend Säkula später, respektive postea ... die Venia legendi!

MARIANNE die kaum auf ihn hingehört hat; mit ihren Gedanken halb noch immer bei der ihr von ihm gemachten »Andeutung«. Gewiß! Gewiß! Allerdings! Nur ... ich meine wirklich ...

ONKEL LUDWIG aufbegehrend-mißtrauisch. Hm?!

MARIANNE einlenkend; in ihrem Satz weiter. Du hättest zum regelrechten Universitätsprofessor ...

ONKEL LUDWIG mit gespitzten Ohren; scharf. Hä?

MARIANNE wie vorhin; nur noch behutsamer. Schon rein deiner ganzen ... autonomen Eigenwilligkeit und Eigenart nach ...

ONKEL LUDWIG beruhigt. Freilich! Freilich!

MARIANNE durch seine Unterbrechung erst jetzt imstande, ihren Satz zu seiner Zufriedenheit zu beenden. Doch wohl schließlich ... auch kaum gepaßt!

ONKEL LUDWIG der sich inzwischen machtvoll in sein »Sacktuch« geschneuzt hat. Wie n Seeigel zum Nastuch! ... Das Institut wieder wegpackend. Hast recht! ... Aber gesteckt soll das der Bagage noch mal werden! »Mein System!« Ich bin noch nicht achtzig. Also erst nicht ganz junger Mann! Mit hundertundzwanzig hab ichs fertig! Doktor Ludwig Adrian Brodersen! Der Name wird noch mal mit goldnen Lettern in die Weltgeschichte geschrieben werden! Wenn andre Leute längst ... Zusammenzuckend; die rechte Seite macht ihm im Moment offenbar heftigst zu schaffen. Verdammt!

MARIANNE besorgt-teilnehmend. Du hast wieder Schmerzen?

ONKEL LUDWIG die Hand noch immer an der Hüfte. Hol sie der Kuckuck! Seit ich mich an diesem ... nichtswürdigen, niederträchtigen Möbel von Stock rumkräpeln muß ...

MARIANNE durch die »Mannhaftigkeit«, mit der er die Zähne zusammenbeißt, sich nicht täuschen lassend; noch gesteigert. Du klagst jetzt öfter![316]

ONKEL LUDWIG sich wieder zusammenreißend. Eh! Wird schon vorübergehn! Alter, ausgetrockneter Kohlstrunk, wie ich ...

MARIANNE noch immer lebhaft besorgt um ihn; vorsichtig. Ich weiß, wie du über Ärzte ...

ONKEL LUDWIG verachtungsvoll-aufgebracht; zugleich fast wie von einer Stecknadel gepiekst. Ärzte!

MARIANNE nicht nachlassend. Trotzdem ...

ONKEL LUDWIG noch ganz ergrimmt; sie keinen Laut weitersprechen lassend. Schickt doch lieber gleich nach dem Totengräber!

MARIANNE ihren Satz wieder aufnehmend. Trotzdem würde ich an deiner Stelle ...

ONKEL LUDWIG sie unterbrechend; knurrend. Nu empfiehl ... und rekommandier mir ...

MARIANNE seinen Gedankengang bereits erratend; begütigend. Es brauchte ja nicht grade ausgerechnet ...

ONKEL LUDWIG ihr wieder ins Wort fallend; wütend nickend. Dein Vater zu sein! ... Höhnisch- mißtrauisch; aber auch hier, wie überhaupt bei allen Stellen, wo er, direkt oder indirekt, scheinbar »unsympathisch« wirkt, mit einem konstant festgehaltnen Unterton, der alles entwaffnet. Meinst, n andrer Arzt, Schlächtermeister und Krebsspezialist tuts auch!

MARIANNE die sich damit in ihrem innersten Befürchten von ihm durchschaut sieht; mit dem Versuch, ihre begangne Unvorsichtigkeit wieder wett zu machen. Wer ... spricht von ...

ONKEL LUDWIG ihr alles weitre kurz abschneidend; auch dieses Thema damit »abtuend«. Na also, was redste? ... Nachknurrend; trüb-melancholisch. Wenn man das so bedenkt ... Automobilgetute und Vogelgezwitscher. daß man mal nich mehr sein soll ... Fern ein Kuckuck. und das geht hier alles so weiter ...

MARIANNE von seiner plötzlichen Stimmung angesteckt; meditativ-schwermütig vor sich hin; »a« kurz. Ja ...

ONKEL LUDWIG in seinem Trübsinn weiter. Die Vögel singen ... die Sonne scheint ... das schöne, grüne Blätterspiel ...

MARIANNE sich aufraffend. Du solltest dir solche Gedanken ...

ONKEL LUDWIG wie vorhin; nur noch gesteigert. Und sich denn da unten sagen müssen ... »Kuckuck ... Kuckuck«.

MARIANNE ebenso gesteigert. Du darfst wirklich ...[317]

ONKEL LUDWIG auf sie gar nicht achtend. Gelebt. was man so »leben« nennen kann ... hat man doch eigentlich ... Abbrechend.

MARIANNE in ihren Kleinmut dadurch wieder zurückgefallen; freudlose Geste. Wer ...

ONKEL LUDWIG ihren Satz aufnehmend und zu Ende führend. Wer ... »lebt« überhaupt?

MARIANNE stockend; trostlos. Jedenfalls ... wir ...

ONKEL LUDWIG sich mit Gewalt zusammenruckend; wieder »Herr seiner selbst«; von neuem veränderter Tonfall. Bloß einen hab ich gekannt! Der hat gelebt! Und tuts wahrscheinlich auch noch! ... Von dem Racker hab ich dir schon oft erzählt! Der hat sich um den letzten, grauen, kreuzvermaledeiten Rätselurgrund aller Dinge nie bekümmert! In Rom und Paris, in London und Neuyork, in Konstantinopel und Kalkutta: überall traf ich den Halunken! Totus mundus in femina! Der Welt einzger Sinn ist das Weib!

MARIANNE die sich in der Zwischenzeit wieder gefaßt hat; nur um jetzt etwas zu sagen; leis-verächtlich vor sich hin. Auch ... eine Philosophie!

ONKEL LUDWIG der auf ihre Bemerkung nur mit halbem Ohr geachtet hat; sich für den von ihm in seiner Rückerinnrung Bewunderten mit immer größerer Verve und Wärme ins Zeug legend. Den hatte unser alter, lieber, kluger Gott Vater in seinen großen, bunten Wundergarten nicht umsonst reingesetzt! Heut n junges, kaum fünfzehnjähriges, kreolisches Milliardärsbaby, morgen dafür schon ne um so ausgewachsnere, klassisch gebaute, englische Lady, wo dann der so lange kaltgestellte Herr Gemahl über beide pflichtschuldigst den mit taubenei-großen Brillanten besetzten Sonnenschirm balanzieren durfte, übermorgen, als Intermezzo, eine, die vor womöglich noch erst acht Tagen, da so hinter Temesvar oder Bukarest rum, auf wildem, ungesatteltem Hengst mit nackten Beinen über die Pußta gejagt war ... und so die ganze Skala! Und verrückt waren all die verdrehten Frauenzimmer, Weibsbilder und Luders in den verdammten Sakramenter, verrückt ...

MARIANNE die schon kaum mehr auf ihn hinhört; fast nur noch wie mechanisch. Dein »Homme de fer«, wie du ihn immer nennst. Dein Neo-Don- Juan![318]

ONKEL LUDWIG bereit, in dieser schönsten seiner Erinnrungen ganz und gar aufzugehn. Der einzge Mensch, den ich in meinem Leben beneidet habe! Weiß der Deubel, wie er das immer gemacht hat! Unsereins ... Auto; drei kurze ungehaltne »Buh« laute.

MARIANNE ihn plötzlich unterbrechend. Einen Augenblick! Verzeih! ... Ihre Züge haben auf einmal einen aufmerksam, gespannten Ausdruck angenommen. Wie sah dieser moderne, internationale Abenteurer, Liebesritter und Frauenheld, der einen so gewaltigen, fabelhaften, fast mythischen Eindruck auf dich gemacht hat, aus?

ONKEL LUDWIG verblüfft. Aus? Wie soll er ausgesehn haben? Mensch, wie jeder andre! Etwas über mittelgroß, schlank, aber dabei doch kraftvoll ...

MARIANNE fortfahrend. Blühende, leicht gebräunte Gesichtsfarbe ...

ONKEL LUDWIG im selben Satz weiter. Blond ...

MARIANNE im gleichen Tonfall. Blond ...

ONKEL LUDWIG mit der Absicht, seinen Satz jetzt zu schließen. Und der heute allgemein übliche ...

MARIANNE seinen Satz beendend und sofort weiter. Kurze, modisch amerikanisch geschnittne Schnurrbart! Unter der linken Schläfe ein kleiner, kaum merkbarer Schmiß ...

ONKEL LUDWIG ganz fragend-verwundert; als bezweifle er, recht gehört zu haben. Kaum ... merkbarer Schmiß? ...

MARIANNE ihre Beschreibung jetzt schließend. Jetziges Alter ungefähr Anfang dreißig und alles in allem, sagen wir Typ eines eleganten, ehemaligen Offiziers aus irgendeinem bevorzugten Reiterregiment! Bonner Husaren, Potsdamer Ulanen Auto; höchst fröhlicher Natur. oder Berliner Dragoner!

ONKEL LUDWIG vor Erstaunen ganz paff. Hast du am Ende ... gar heute seinen Doppelgänger gesehn? Genau so!

MARIANNE die innre Erregung, in die sie wieder geraten, vergeblich zu kaschieren versuchend. Ich kam in unserm offnen Zweispänner ... vor noch nicht einer halben Stunde ... von Unter den Linden her ... als ein Automobil ... das uns aufdringlich gefolgt war ... dicht am Rolandsbrunnen unmittelbar hinter uns ... während wir den Platz noch grade hatten passieren können ... mit einer aus der Bellevuestraße heranrasenden Dampfspritze zusammenstieß! ... Der Chauffeur ... wie ich mich umsehe ...[319] in weitem Bogen bewußtlos auf den Asphalt geschleudert ... dem einen Pferd der Feuerwehr ... das schlotternd dastand ... armbreit die ganze Brust aufgerissen ... das Blut, kaskadenartig ... stürzte und plätscherte nur so ... die Menschen schreiend ... und die Schutzleute um den Fahrgast herum ... den sie als Zeugen ... Zwei sich kreuzende Autos; ziemlich unwillig. wie es schien, festbehielten!

ONKEL LUDWIG der ihrer lebhaften Schilderung mit größtem Interesse und immer stärkerer innerer Anteilnahme gefolgt war. Und dieser ... Fahrgast ... du glaubst ...

MARIANNE sich von neuem steigernd. Da der Kutscher alle Augenblicke ... wie um die Aufmerksamkeit auf seinen Wagen zu lenken, die Signalhupe gedrückt hatte ... was er in dieser auffälligen Manier ... doch sicher nicht ... aus eignem Antriebe getan ... und was mich in der Tat veranlaßt hatte ... mich im ersten Anfang einmal umzudrehn ... worauf der Fremde ... als ob er mich kenne, grüßte ... hatte ich das bestimmte Gefühl ... Wieder fast mit dem ursprünglichen Ausdruck ihres jähen Erschrecktseins nach der großen, weit offnen Mitteltür blickend. und habe es auch jetzt noch ...

ONKEL LUDWIG aus der halben Erstarrung, in der er ihr zugehört, dadurch wieder zu sich kommend. Herzchen! Zuckerle! Du redest dir doch nicht etwa ein ... du nimmst doch nicht gar an ... daß du von einem dir gänzlich Unbekannten ... Fernes Auto. was man so nennt ... verfolgt wurdest?

MARIANNE mit aller Bestimmtheit. Ja!

ONKEL LUDWIG der in seiner alten Ehrbarkeit von Anno dazumal an diese ihm denn doch etwas zu seltsam vorkommende Deutung ihres »Abenteuers« noch immer nicht recht glauben will. Auf offner Straße? Per Automobil? Während du selbst ...

MARIANNE ihrer Sache absolut sicher; seine umständliche, vorsichtige Vergewisserung ihm bestätigend. Und zwar von einem Mann ... der wie der eben Beschriebne aussah!

ONKEL LUDWIG von der Tatsächlichkeit ihrer Annahme jetzt endlich überzeugt; über die offenbare Verworfenheit unsrer heutigen reichshauptstädtischen Zustände aufs höchste sittlich entrüstet und empört. Dieses neumodische, sittenlose Berlin heut ...?![320]

MARIANNE noch immer bei ihrer Rückerinnerung an den ihr gänzlich Unbekannten; mit wieder neu einsetzender Erregung. Schon in der ganzen Art seines Grußes ... trotz einer gewissen betonten Korrektheit ... hatte eine so chevalereske Vertraulichkeit gelegen ...

ONKEL LUDWIG dem dadurch die ganze Geschichte sich jetzt plötzlich sehr simpel aufzuhellen scheint. Na, denn ist das doch sehr einfach! Dann kann der Betreffende dich doch bloß ...

MARIANNE in seinen unterbrochenen Satz fast wider Willen einfallend und ihn überzeugt zu Ende führend. Für Mariette gehalten haben!

ONKEL LUDWIG dem das Exempel damit restlos gelöst vorkommt. Nu ja also!

MARIANNE letzte Bestimmtheit; immer erregter. Davon bin ich überzeugt! Das kann überhaupt gar nicht anders sein!

ONKEL LUDWIG verwundert-vorwurfsvoll. Und dann regst du dich so darüber auf?

MARIANNE fast wie zu sich selbst; auf Onkel Ludwig kaum noch achtend; irritiert-fragender Tonfall. Ein Bekannter des Hauses ... ein Freund meines Vaters oder Georgs ... ein uns irgendwie Nahestehender ... und der es noch nicht wissen sollte ... daß Mariette schon seit drei Jahren tot ist ...?

ONKEL LUDWIG der das alles noch sehr leicht nimmt; sie unterbrechend; »a« kurz. Gott, na!

MARIANNE gequält-grübelnd vor sich hin; die gestreckten Finger der Rechten vor ihrer Stirn; fast als ob diese sie schmerze. Hinter diesem Rätsel ...

ONKEL LUDWIG dem das nun doch »zu viel« wird; vorwurfsvoll-aufgebracht. Rätsel! ... Rätsel!! ... Bei dir und Georg scheint nun wirklich bald alles, was auch im entferntesten mal mit Mariette zusammengehangen hat ... Sich unmutig unterbrechend und sofort von neuem beginnend. der Mann hat sie eben ... zu ihren Lebzeiten gekannt ... war wahrscheinlich hocherfreut ... als er sie heut in dir wiederzusehn glaubte ... und so ist es vielleicht bloß zu bedauern ... Erster, leiser Wolkenschatten. daß da die unglückliche Katastrophe ...

MARIANNE mit starren Augen, plötzlich, wie somnambul vor sich hin. Ich empfinde und weiß ... ich verspürs mit einer instinktiven, elementaren, mir ganz zweifelsfreien, innersten Sicherheit und Gewißheit ...[321] daß dieser Mensch ... der mit unserm Leben durch irgend etwas Geheimnisvolles schon verknüpft sein muß ... dessen Gedanken jetzt in diesem Augenblick um uns sind ... und der jeden Moment ...

ONKEL LUDWIG der ihrem Blick, den sie bei den letzten Worten wieder nach der offnen Tür gerichtet hatte, unwillkürlich gefolgt war; ihre Atempause benutzend; von ihrer Erregtheit bereits angesteckt. Aber Goldkindchen! Herzblatt!

MARIANNE durch seine Zwischenworte wie aus einem Traum erwacht; veränderter Tonfall; erschöpft schließend. Daß von diesem Menschen ... für uns alle ein vielleicht schon ganz nahes ... letztes ... größtes ... und schwerstes Unheil heranzieht!

ONKEL LUDWIG einer gewissen, innerlichen, dunklen Angst sich jetzt ebenfalls nicht länger erwehren könnend. Du kannst einen ... Wieder hellster Sonnenschein. wahrhaftig wirklich ...

MARIANNE mit dem Versuch sich wieder zusammenzuraffen. Ich hätte bei meiner Rückkehr ... eigentlich unbedingt auf einige Minuten ... auch noch zum Vater und der Großmutter mit rangehn müssen ... war aber so erschöpft, daß ich kaum wußte ... wie ich mich durch den Garten fand! Und als du mich dann vorhin ... ohne daß ich dein Kommen gehört ... plötzlich ... so unvermutet ansprachst ... hatte ich für den Bruchteil einer Sekunde fast die schreckhafte Illusion ...

ONKEL LUDWIG der ihrem Blick, der wieder unruhig nach der großen Mitteltür geflackert war, wieder unwillkürlich gefolgt war; als könne er die Möglichkeit, die Marianne damit andeutet, unter keinen Umständen annehmen oder gar an sie glauben. Durch ... diese ... Tür? ... Du hast geglaubt ... du hältst es für ... möglich ... daß dieser freche ... Patron ...

MARIANNE vollkommen erschöpft und wie nach einem Paroxysmus. Durch diese ... oder durch irgendeine andre!

ONKEL LUDWIG dagegen sich »denn doch« auflehnend; mit aller autoritativen Empörung. Na, das ... In diesem Augenblick ertönt von links her sehr laut und unterbricht ihn energisch eine elektrische Klingel.

MARIANNE die zuerst zusammengeschreckt war und dann sofort aufgehorcht hat; halb nach der Tür links zurück. Georg![322]

ONKEL LUDWIG nachdem auch er sich inzwischen wieder beruhigt hat; nachdenklich das greise Haupt schüttelnd. Seltsam! ... Nachgrübelnd. Es könnte allerdings sein ... es wäre ja schließlich ... vielleicht nicht ganz ausgeschlossen ... daß jener merkwürdge Mensch ...

MARIANNE mit ihrer Aufmerksamkeit, seit das Klingelzeichen ertönt ist, immer wieder nach der Tür links; ihn ungeduldig unterbrechend; mit dabei fast schmerzlich zusammengezogenen Brauen. Unsinn! ... Dein abgeschmackter Seladon und Mariette!

ONKEL LUDWIG der sich so leichten Kaufs von seinem »Merkwürdgen« nicht abbringen läßt. Nein, nein, du!

MARIANNE noch gesteigerter als vorhin. Reden wir nicht mehr darüber!

ONKEL LUDWIG hartnäckig. Ich versichre dir!

MARIANNE wie etwas Unsichtbares von sich abschüttelnd. Es war eine ganz willkürliche, lächerliche Kombination!

ONKEL LUDWIG von seinem »Merkwürdgen« noch immer nicht lassend. Die Beschreibung, die du mir gemacht, paßt auf ihn so akkurat ...

MARIANNE jedes weitere Wiederdaraufzurückkommen ihm damit abschneidend. Du tust mir einen Gefallen!

ONKEL LUDWIG dem jetzt nicht recht etwas andres »übrig« bleibt; so gern er bei ihrer »ganz willkürlichen und lächerlichen Kombination« auch noch »des längeren verweilt« hätte; »a« lang, »o« kurz; beide betont. Ja, no! ... Zögernd; Spatzen und Buchfinken. Wenn du meinst ...?! Definitiv damit abrüstend; sein letztes Resümee ziehend. Wär ja auch ... noch doller! ... Sich in seinen Sessel zurücklehnend; epikuräisch-asketisch. Integer vitae scelerisque purus! Reinen Lebens und frei von Schuld! Der einzge Kantus ... Pferdegetrappel und Auto. den ich mir wie eine Art Wahr- und Wahlspruch ...

MARIANNE die plötzlich starr aufgemerkt hat. »Integer ... Mit einem Blick nach der Meduse. vitae«?

ONKEL LUDWIG der diesen Blick bemerkt hat. Was hast du? ... Was ist?

MARIANNE in schnell wachsender Erregung; die Linke leicht vor der Stirn; zuletzt, wie entsetzt, wieder nach der Meduse. Das ... war die Melodie! Jetzt ... erinnre ich mich! Deutlich ... Unter ihren getragnen ... feierlichen Klängen sah ich ... wie in dieser furchtbaren Nacht ...[323]

ONKEL LUDWIG besorgt-angstvoll; von ihrer Erregung wieder angesteckt. Sieh nicht hin! Sieh nicht hin ... Du wirst uns noch nächstens ...

MARIANNE mit geschloßnen Augen wegblickend. Grauenhaft!

ONKEL LUDWIG der sie mit aller Gewalt ablenken will. Ein Nervensystem ... mehr als eins ... hat man doch nu mal nich! ... Diese Melodie ... oder ne andre! Du legst der Sache ...

MARIANNE wie aus einem innersten Schauder. Mariettes Lieblingsmelodie!! ... Mariettes ...

ONKEL LUDWIG sie nicht weitersprechen lassend; seine Uhr ziehend; ein vorsündflutliches Gehäuse aus der Urgroßvaterzeit; mit Gewalt auf ein andres Thema; brummig-grollend. Fünf Minuten vor zwölf hat er nu geklingelt! Erst jetzt das Morgenfrühstück! Son Unverstand! ... Um eins, zwei werden wir ja dann wohl das Vergnügen haben, den Herrn Professor ... begrüßen zu dürfen!

MARIANNE ganz überrascht-erstaunt. Hast du denn wirklich ... ganz vergessen, was wir heute ... Ein melancholisches Rotkehlchen. für einen Tag haben?

ONKEL LUDWIG erst jetzt auf ihr Kostüm aufmerksam; dann wieder auf den Hut und die Blumen blickend; aus tiefstem Innern; fast erschüttert. Kindchen! Du warst ...

MARIANNE die Stimme etwas leiser. Ich war ... bei Mariette.

ONKEL LUDWIG wieder auf den Strauß blickend. Und die bunten ... paar Blumen hier?

MARIANNE die Stimme noch immer etwas gesenkt. Darf ich sie dir schenken?

ONKEL LUDWIG die Hand, die sie nach den Blumen ausgestreckt hat, ihr streichelnd. Deine arme, arme Schwester! ... In seinen Sessel wieder zurückgelehnt; vor sich hinnickend. Drei ... Jahre nu schon! Wieder, fern, ein Auto.

MARIANNE schwer vor sich hin. Drei ... Jahre! Auto noch ferner und leiser.

ONKEL LUDWIG leichte, fragende Kopfbewegung nach der Tür ihm gegenüber. Und du ... mutmaßt, daß wir ihn heute deshalb ...

MARIANNE sich mit aller Kraft zur äußersten Ruhe zwingend. Es wäre das erste Mal, daß er an diesem Tage ... aus seinen Zimmern käme.

GEORG in diesem Augenblick durch die Tür links; schlanke, nervöse Erscheinung; in ihrer ganzen Haltung den ehemaligen Offizier noch verratend; das dunkle Haar an den Schläfen bereits stark[324] ergraut; Schnurrbart noch dunkel, die Augen hellgrau und durchdringend. Guten Morgen!

MARIANNE herzklopfend aufgestanden; ihn groß anstarrend; sie hat unwillkürlich versucht, die Blumen etwas zu verbergen. ...

GEORG unruhig, dabei eine Zigarette rauchend, auf und ab; seine Sprechweise ist hastig knapp. Du brauchst die Dinger nicht zu verstecken! ... Laßt euch nicht stören!

ONKEL LUDWIG die Blumen ergreifend und sie vor sich hinlegend; ruhig. Gib sie mir, Kind. Ich werde sie mir oben auf meine stille Stube stellen.

MARIANNE die sich erst jetzt etwas gefaßt hat; stockend; zu Georg. Hat dir der Diener ... deinen Tee schon gebracht?

GEORG durch dessen Ton fast permanent etwas wie Unruhe, federnde Unzufriedenheit oder Gereiztheit klingt. Danke. Ich rauche! ... Hatte nur so aus Gewohnheit geschellt. Reflexbewegung! Kann ihn wieder wegtragen. Pferdegetrappel.

ONKEL LUDWIG ablenkend; nach dem Garten hin. Eine Hitze draußen ...

GEORG kurz; sachlich. Ja.

ONKEL LUDWIG der dunkel die Verpflichtung fühlt, das Thema, das er aufgegriffen, nicht gleich wieder fallen zu lassen. Und das wollen nu die Eisheilgen sein! Der einzge Raum hier ... Leichte Atempause einer erneuten, kleinen Seitenbeschwerde wegen. wo mans noch aushalten kann!

GEORG der sich fast nur im Hintergrund nach dem Garten zu aufhält; stehnbleibend. Liebe Schwägerin ... setz dich! Du weißt, daß mich solches Rumstehn ... Abbrechend; seinen Gang immer gereizter, wieder aufnehmend; höhnisch nach den vier Büsten. Aristoteles, Plato, Leibniz und Voltaire! Unsre vier lieben Idioten! Flüchtig zur Decke hoch. »Kampf des Lichts mit der Finsternis!« Die lauter herrlichsten Symbolika! ... Warum unterhaltet ihr euch nicht weiter? ... Ich brauche bloß aufzutauchen, und alles wird stumm! –

ONKEL LUDWIG während Marianne sich still gesetzt hat; nachdem er mit ihr einen Blick gewechselt. Wir haben uns hier von nichts unterhalten! Fernes Auto; Spatzen.

GEORG bissig-sarkastisch; mit heimlicher, kaum noch unterdrückter Eifersucht auf die von ihm schon längst gehaßte und im Stillen[325] von ihm beneidete, freundschaftliche Vertraulichkeit zwischen den zweien. Nein, nein! Ihr seid mal heute ausnahmsweise ohne euern üblichen Schwatz geblieben! ... Ihr unterhaltet euch ja hier nie von was! ... Ihr habt hier die ganze Zeit, Dabei schnell, aber doch sehr auffällig, als wolle er etwas Bestimmtes damit andeuten, nach der Meduse blickend. alle beide wie versteint dagesessen!

MARIANNE die seinem Blick gefolgt war; ganz überrascht-befremdet. Warum blickst du ...

ONKEL LUDWIG ebenfalls zu Georg; ähnlich wie sie. Du tust ja ...

GEORG zu Marianne; ihn gar nicht mehr beachtend; wieder stehngeblieben. Hast du diese Nacht ... es muß ungefähr gegen zwei gewesen sein ... hast du da einen Traum gehabt? Irgendeine Vision? Oder Erscheinung? ... Da Marianne ganz perplex ihn nur mit großen Augen anstarrt. Und zwar, genauer präzisiert, dieselbe ...

MARIANNE die ihn noch immer, wie ganz entgeistert, anstarrt; ihn unterbrechend; während Onkel Ludwig, nicht minder erstaunt, »Nase, Mund und Ohren«, aufsperrt. Woher ... weißt du das?!

GEORG Stellung wie vorhin; den ersten Satz, fast wie sich gegen dessen Inhalt wehrend, zornig durch die Zähne; das übrige zerfetzt-abgehackt. Mediumität ... oder, wie du dies nennen willst, steckt an! ... Ich war um die Zeit noch wach ... kramte zwischen alten Briefschaften und Papieren rum ... als ich plötzlich ... mir unerklärbar ... Nach den rechten Worten ringend. ich kanns nicht anders ausdrücken ... aber ich fühlte deutlich und wußte: du tratst in diesen Raum ... ich sah ... wie du nach der Meduse blicktest ... deine Züge verzerrten sich ... auf der Orgel nebenan spielte das Integer vitae ... du wanktest ... ich stand wie gelähmt ... ich konnte nicht zuspringen ... und in dem gleichen Moment ... schoß es mir durch den Kopf: dich durchzuckt jetzt dieselbe Halluzination ... die du hier schon einmal ... und als Kind gehabt!

ONKEL LUDWIG zu Marianne, die in ihrem inneren Aufruhr von Georg kein Auge läßt; rausplatzend. Aber doch auch ganz haargenau, wie dus mir eben ...[326]

MARIANNE ohne Onkel Ludwig beachtet zu haben; zu Georg; noch immer innerlich ganz aufgewühlt. Du hast, soviel ich weiß ... bisher auch nur Ähnliches noch niemals ...

GEORG noch immer in der gleichen Stellung; eben falls wieder zu Marianne. Um so befremdlicher! Kurz, knapp, sachlich. Du warst damals dreizehn, man fand dich ohnmächtig, mit einer klaffenden Kopfwunde auf dem rechten Scheitel, von der dir, unter deinem Haar, noch heute die kleine Narbe blieb ...

MARIANNE die nicht recht begreift, warum er ihr dieses alles in diesem Augenblick nieder ins Gedächtnis ruft. Ja, warum ...

GEORG von ihrer Zwischenfrage kaum unterbrochen; mit erhöhtem Nachdruck in seinem selben Satz weiter. Das einzige Merkmal, an dessen Fehlen ich dann später dein Phantom, wenigstens in seinem frühsten Erscheinungsstadium, von dir zu unterscheiden vermochte, der Vorfall hatte sich am hellichten Tage abgespielt, und das erste sich einstellende Resultat war dann ein wochenlanges, schwerstes Nervenfieber gewesen!

MARIANNE die noch immer nicht versteht, worauf er damit hinaus will. Ich habe dir alles ... bereits ...

GEORG noch im selben Tonfall. Ich rekapituliere nur! Ich möchte mich im Moment nur nochmal vergewissern, ob das, was ich in deiner Vorgeschichte über diesen Komplex niedergeschrieben habe, nicht bloß en bloc stimmt ... was ich für selbstverständlich halte ... sondern auch bis in gewisse, letzte, charakteristische Einzelheiten! Entsinnst du dich noch des Monats und des Datums?

ONKEL LUDWIG da Marianne, nachdenkend, nicht sofort auf diese Frage antwortet; erst zu Georg rüber, dann zu Marianne. Täuscht mich nicht meine »Magie der Zahlen« ... dann muß es an einem Dreizehnten gewesen sein!

MARIANNE aus ihrem Nachdenken zu Georg aufblickend. Es war an einem Maitag ... Nach dem Garten hin, aus dem in diesem Augenblick eine Amsel pfeift. wie heute! ... Es ... Jetzt zu Onkel Ludwig; langsam. war an einem Dreizehnten!

ONKEL LUDWIG zu Georg triumphierend. Siehst du?

GEORG der sich solange nicht von der Stelle bewegt hatte; zu Marianne. Davon hast du mir nie ...[327]

MARIANNE da er seinen Satz, durch ihre Eröffnung überrumpelt, nicht zu Ende gesprochen hat; noch immer langsam, als kehre ihr erst jetzt wieder das Gedächtnis daran zurück. Es war ... drei Tage nach meinem ... Dunkles, fernes Auto. und Mariettes gemeinsamen Geburtstag gewesen!

ONKEL LUDWIG wieder zu Georg; in seinem Triumph noch gesteigert. Hab ichs dir nicht gesagt?

MARIANNE vor sich hin; leise. Ich hatte es ... vergessen.

GEORG wie mit einem Entschluß ringend; wieder dabei, einmal, auf und ab. Gut. Um so besser!

ONKEL LUDWIG diesmal erst zu Marianne, dann wieder zu Georg rüber. Also vor heute genau dreizehn Jahren! Wenn mir das nicht mein ganzes Pythagoraskapitel bestätigt!

GEORG wieder gar nicht auf ihn achtend; von neuem stehngeblieben; zu Marianne; jedes Wort wie dozierend und bestimmt. Du hattest bis dahin in diesem alten Hause, und zwar nur in diesem alten Hause, etwa schon von deinem fünften Lebensjahr ab, lediglich Halluzinationen rein friedfertiger Natur gehabt. Um nicht zu sagen, geradezu angenehmer!

MARIANNE die betreffenden Erinnerungsbilder jetzt wie aus ihrem Gedächtnis holend. Eine alte Dame in einer verschoßnen Goldhaube, die meine Puppen streichelte ... ein Herr mit Puderzopf und besticktem Frack, der immer bloß um die Abenddämmrung kam ...

GEORG durch diese Details schon wieder ein ganz klein wenig ungeduldig; dabei fast wie aus einer leisen Skepsis. M!

MARIANNE in ihrem selben Satz, immer »weltferner«, weiter. Ein mir etwa gleichaltriger, blondgelockter, kleiner Junge, der verträumt auf einer Glasharmonika spielte, deren Töne ich nie hörte ...

GEORG mit zusammengezognen Brauen; fast wie in nachträglicher »Eifersucht«; ihre Aufzählung abschneidend. Kurz und gut, jene mehr oder minder nebulose Gestaltenreihe, die wir aufgezeichnet haben! Du hattest diese seltsamen Schattenwesen mit der Zeit immer lieber gewonnen, und da du dunkel befürchtetest, man könne dich eventuell von ihnen trennen, hattest du zu niemand etwas davon gesagt!

MARIANNE bestimmt. Zu niemand![328]

GEORG trotzdem sich doch noch vergewissernd. Auch zu deiner ... Unwillkürlich etwas zögernd. Schwester nicht!

MARIANNE: Auch zu ... Den Namen, den er nicht ausgesprochen, nur schwer über die Lippen bringend. Mariette nicht!

GEORG in seiner Ausführung weiter; jetzt auf den für ihn wichtigsten Hauptpunkt kommend. Und nachdem dann jene Nervenkrisis überstanden war, hatten diese Erscheinungen, die den exzeptionellen Grad deiner Medialität jedem Wissenden schon damals verraten hätten, radikal aufgehört!

MARIANNE die ihn solange, fast mit verhaltnem Atem, scheu fragend angeblickt; schwer stockend. Bis ... auf jenen einen Fall ... vor drei Jahren in Genf ... wo mir Mariette ...

GEORG ihrem Blick nicht ausweichend; ihren Satz, fast hart, vollendend. In ihrer Todesnacht erschien!

ONKEL LUDWIG mit gewichtigster Bestätigung. Fast Schlag zwölf ... Ziemlich nahes Auto; dumpfer, kurzer Laut. mit den deutlichen Worten ...

MARIANNE in seine Atempause; aus innerstem Grauen; die Worte jener Nacht, noch wie sie ihr im Ohr klingen, den Kopf etwas zurück, die Augen geschlossen, unwillkürlich, langsam, wiederholend. »Noch drei ... Jahre!«

ONKEL LUDWIG überzeugt-eifrig. Ein dir damals ... nach meiner hier später sofortigen Deutung ... in allerangenehmste, erfreulichste Aussicht gestelltes, ganz besondres Glücksdatum ...

MARIANNE zu Onkel Ludwig; mit einem gequält- flackernden Blick nach Georg rüber, der für dieses angebliche »Glücks«datum früher im geheimen genau die gleiche, allerschwerste Deutung, wie sie selber, gehabt hatte. Du weißt ...

ONKEL LUDWIG über ihren kaum noch begonnenen Einspruchsversuch bereits wieder weiter und hinweg. Dessen Eintritt wir heute ...

GEORG der ihm jetzt mit einer leichten, abwehrenden Geste ins Wort fällt; zu Marianne rüber. Auch ich möchte mich jetzt ... wenigstens bis zu einem gewissen Grade ... einer solchen, eher antipessimistischen Auffassung und Auslegung nicht mehr verschließen!

ONKEL LUDWIG durch diesen unverhofften Beistand noch ermutigter. Das für uns alle eigentliche, große Haupt- und Zentralfaktum ...[329]

GEORG wieder ähnlich wie vorhin; nur noch bestimmter. Durch dessen Mitteilung du mich veranlagest, diesem gesamten, einschlägigen Komplex überhaupt näherzutreten, das aber hier und im Moment für mich nichts mehr zur Sache tut! Sich von ihr abwendend und seinen Gang wieder aufnehmend.

ONKEL LUDWIG verdutzt ihm nach. »Nichts mehr ...«?

GEORG resümierend-geschäftsmäßig; wie um jeden etwa dagegen möglichen Widerstand von vornherein und diskussionslos abzuschneiden. Wir werden also unsre letzte Sitzung, auf die wir nun schon seit vierzehn Tagen warten, heute abend ...

MARIANNE ihn unterbrechend; wie von einem tödlichen Schreck betroffen; die linke Hand am pochenden Herzen und ihn ganz entsetzt anblickend. Heute ...?

GEORG seine letzten Worte nachdrücklich nochmals wiederaufnehmend und seinen Satz, scheinbar ganz gleichgültig, schließend. Heute abend abhalten! Ja!

ONKEL LUDWIG als hätte er nicht recht gehört; zu Georg rüber; empört. Und die versprochne Botschaft? Die Auffordrung dazu? Der deutliche Wink aus jenen andren Sphären, der uns so bestimmt vor her ...

GEORG scharf; den Schluß seiner Frage garnicht abwartend. Das fragst du?

ONKEL LUDWIG durch diesen Ton ganz perplex; von einem zum andern blickend. Ja, war ich denn nu eigentlich ... an jenem Abend mit dabei ... oder nich?

GEORG trocken. Mir scheint, ja! Wie vom ersten Anfang an, doch wohl bei allen unsern Sitzungen!

ONKEL LUDWIG durch diese Art, die ihm bei einem Manne wie ihm und noch dazu in einem solchen Augenblick denn doch nicht am Platz zu sein scheint, immer pikierter. Darf ich dann ... wenn der Herr Professor gestatten ... jetzt vielleicht auch mal ... »rekapitulieren«?

GEORG achselzuckend. Wenn dir das irgendwie eine Genugtuung oder Beruhigung gewährt ...

ONKEL LUDWIG ausholend. Ich möchte nur Euer Hochwohlgeboren ...

MARIANNE unter ihrem Disput wie unter einem körperlichen Schmerz leidend. Warum streitet ihr?[330]

GEORG prononciert-gleichgültig; die Schuld auf Onkel Ludwig wälzend. Der Kampfhahn Onkel Ludwig!

ONKEL LUDWIG seinem »jungen Widerpart« nicht gerade liebreich gesinnt. Ich hatte mir nur erlauben wollen ... den Herrn Professor zuvörderst und submissest darauf aufmerksam zu machen ... daß nicht er es war, auf dessen Initiative oder Urheberschaft ... diese ganze phänomenale Untersuchungsreihe ... die ihn jetzt nachträglich, wie es scheint, mit so gerechtem Stolz erfüllt, zurückzuführen ist ... sondern mit Verlaub ... Ihm den Hieb wieder zurückgebend. auf den »Kampfhahn!«

GEORG der bei dem »gerechten Stolz« nur mit Mühe an sich gehalten; nachdem er sich inzwischen wieder bezwungen; »kühl«. Was bereits vor anderthalb Minuten, wenn du gestattest, nicht bestritten wurde!

ONKEL LUDWIG mit seiner Eloquenz, respektive bereits deren erstem Resultat, höchst zufrieden. Freut mich! ... Nachdem wir so ... dank den aufopfrungsvollen Bemühungen Jetzt einen Augenblick zu Marianne gewandt, die geniert-peinlich seinen Redeschwall über sich ergehn läßt. unsres verehrten Dritten ... ohne dessen überlegne, superiore Kraft wir noch heute ohnmächtig im Dunklen tappten ... vorsichtig und schrittweise bis zu der vollkommensten Materialisation gelangt waren, die die Geschichte des Spiritualismus bis jetzt aufzuweisen gehabt hat ... oder doch wenigstens keine vollkommnere ... hat uns nun Afra ... dies transzendentale, überirdische Seelenwesen aus jener andern Welt ... deren Wunder uns ja nicht für ewig verschlossen bleiben werden ...

GEORG der diese zuversichtliche Hoffnungsarie Onkel Ludwigs bereits bis zum Überdruß kennt; ungeduldig-abwehrende Geste; nervös-schnalzender Zungenlaut; seinen Gang dabei nicht unterbrechend. Ttt ...!

ONKEL LUDWIG fast im gleichen Moment aufgefahren; grimmig; wie von einer faustgroßen Tarantel gestochen. Wie?!

GEORG in der Hoffnung, seinen demosthenischen Erguß dadurch wenigstens etwas abzukürzen. Du meinst »verlassen« ...

ONKEL LUDWIG in Georgs Tonfall fortfahrend. Verlassen ... Und, jetzt wieder zu Marianne gewandt, die dieser Bevorzugung krampfhaft[331] standhält, sein kunstvolles Wortgebäude mit der bereits längst vorbereiteten Kuppel krönend. mit dem Bedeuten ... daß ihr Medium erschöpft sei!

GEORG schnell; fast überstürzt; allem noch drohend Weiteren damit bereits vorsorglich zuvorkommend. Aber falls wir dies wünschten, könnte sie noch mal wiederkommen, und sie würde uns vorher zu diesem Zweck ein Zeichen geben! Ich finde, so was läßt sich in drei Worten sagen!

ONKEL LUDWIG durch diese so ganz und durchaus gegen seinen Willen erfolgte respektlose »Abkürzung« in seinen heiligsten »Rechten« gekränkt; in seinen Sessel zurückgelehnt; mit seinen Brauen gewitternd. Cher neveu! Wenn ich rede, habe ich das Wort! Und wenn ich das Wort habe, rede ich!

GEORG gemacht-nachlässig; den Rest seiner Zigarette durch den großen Mittelflügel in den Garten schleudernd. Bitte.

ONKEL LUDWIG in der triumphierenden, sichern Erwartung, seinem Gegner damit den entscheidenden Knacks beizubringen. Also und wo ist jetzt das Zeichen?!

GEORG ohne ihn dabei anzublicken; sich eine neue Zigarette rausholend. Wenn es dir noch nicht zum Bewußtsein gekommen?

ONKEL LUDWIG nach einem Augenblick des verblüfftesten Stutzens; zu Marianne rüber. Wirst du draus ... klüger als ich! Pferdegetrappel.

MARIANNE:... Hilfloses Achselzucken.

GEORG zu Marianne; stehngeblieben; die Zigarette sich anzündend; seinen Gedankengang erst jetzt aufdeckend. Daß die eklatante Traumwiederholung jener exzeptionellen Halluzination, die damals ein erstes, vorläufiges Ende deiner Mediumschaft angezeigt hatte, jetzt, wo wir doch ganz zweifellos abermals vor einer Art Abschluß stehn ... noch dazu mir gleichzeitig auf diese auffällige Weise signalisiert ... ein bloßer »Zufall« gewesen ... Seinen Gang wieder aufnehmend. ich hätte wirklich gedacht ... über eine solche primitive Erklärungsmethode wären wir doch alle bereits längst ... Abbrechend.

MARIANNE die ihm, mit erhobnem Kopf, groß nachgeblickt hatte; nachdem sie ihn voll verstanden. Und wenn du dich mit diesem ... Deutungsversuch Fernes, helles, lang hingezognes Hupensignal. irrst?

ONKEL LUDWIG ebenso; ihr lebhaft zu Hilfe kommend. Wenn deine hypothetische[332] Annahme, trotz meiner Drei- und Dreizehnzahl, doch bloß ... »Zufall« war?

MARIANNE die Georg noch immer anblickt. Oder wenn mein Traum ... vielleicht einen ganz andern Sinn und eine ganz andre Bedeutung gehabt hat? ... Wenn er dich und mich ... vor etwas uns Drohendem ...

GEORG mit zusammengezognen Brauen; ohne sie anzublicken; mit Mühe sich beherrschend. Dann nehme ich die Folgen ...

ONKEL LUDWIG ihn unterbrechend; ganz empört und ergrimmt. »Folgen!« Sich beschwerend zu Marianne rüber. Mir altem Praktikus wirft dies jugendliche ...

GEORG sich mit der Linken zornig-erbittert ins ergraute Schläfenhaar fassend; kurzer, höhnisch- nasaler Lachlaut. Hä!

ONKEL LUDWIG wie vorhin; von Georg kaum unterbrochen; in seinem Satz weiter. Kaum erst flügge gewordne Semester, bei jeder Gelegenheit, oder hat es doch wenigstens immer getan, »dilettantische«, »unwissenschaftliche«, und wie der präzise Herr Professor behauptet, »alle Augenblick übers Ziel schießende Phantasterei« vor, und jetzt, wo er auf einmal selbst ...

GEORG ihm ins Wort; scharf; schneidend; ja, gradezu heftig; dabei wieder stehngeblieben und ihn, eigentlich zum erstenmal, anblickend. Die unsinnige Frage, auf die du eben anspielst, und zu der ich mich vor vierzehn Tagen allerdings habe hinreißen lassen ...

ONKEL LUDWIG ärgerlich-trotzig. Na also!

GEORG von ihm kaum unterbrochen; in seinem Satz weiter. Diese törichte und von mir längst bedauerte Frage wird und soll selbstverständlich heute aber auch nicht mehr die geringste Rolle spielen!

MARIANNE Georg groß anstarrend; während Onkel Ludwig sich damit »begnügt«, ihm nur mit einer ungläubigen Miene und Geste zu replizieren. Darauf gibst du mir ... dein Versprechen?

GEORG sich wieder in Bewegung setzend; ihrem Blick ausweichend; in der Heftigkeit seiner Ablehnung noch gesteigert. Ich gebe dir auf gar nichts mein Versprechen! Der strikt-umfassend durchgeführte, zum erstenmal endlich einwandfreie, exakte Nachweis menschlicher, leibhafter Phantombildung, ganz gleich, wie man[333] sich zu dieser Tatsache als solcher dann auch stellen mag, ist für mich der weitaus wichtigste, wertvollste und wesentlichste Bestandteil unsrer gesamten, mühseligen Untersuchungsergebnisse! Und es fällt mir nicht ein, ich denke gar nicht daran, es wäre überhaupt eine Lächerlichkeit und Absurdität sondergleichen, wenn ich mir jetzt kurz vorm Ziel durch irgendeine Verhaltungsmaßregel die Hände binden, oder gar eine bestimmt abgesteckte Marschroute vorschreiben lassen wollte!

MARIANNE die ihm so lange unruhevoll nachgeblickt hat; fast wider ihren Willen; gespannt- angstvoll. Und wenn du mit deinem beendeten Werk ... dann vor die Öffentlichkeit treten wirst ... mein Vater?

ONKEL LUDWIG durch diesen Einwurf plötzlich wie von einer meterlangen und vielleicht zum Überfluß auch noch gar vergifteten Stecknadel angepiekst; fragend-mißbilligend zu Marianne. »Vater??!«

MARIANNE zu Georg; ohne Onkel Ludwig zu beachten; zum erstenmal mit leisem Vorwurf. Er hätte es vielleicht immerhin ... um dich verdient ...

GEORG der schon bei dem Wort »Vater« wieder stehngeblieben; mit zusammengezogenen Brauen; durch die Zähne; aggressiv-heftig. »Verdient???«

MARIANNE einlenkend; wenn auch bloß äußerlich, rein formal und nur bis zu einem gewissen Grade; durch seinen Tonfall gegen ihren Vater aufs peinlichste berührt. Also wenn schon nicht deinet- ... so doch wenigstens meinetwegen!

ONKEL LUDWIG zu Marianne; noch immer ihre Riesenstecknadel im Gedärm; plötzlich ganz ihr Gegner. Ich möchte wissen ...

GEORG wieder auf und ab; noch ausfälliger als vorhin. Warum rückst du nicht schließlich gleich ... auch noch deine liebe Großmutter gegen mich ins Feld?

MARIANNE sich gegen beide jetzt gleichzeitig wehrend. Ihr vergeßt ...

ONKEL LUDWIG aufgebracht-zornige Geste nach dem Garten hin. Was uns die ganze Gesellschaft da drüben überhaupt angeht?

MARIANNE in ihrer Verteidigung weiter. Es ist mir nicht zu verdenken, ihr dürft mich nicht ausschelten, wenn ich meinen Vater ... Bei seiner grade jetzt ... in diesem Jahr ... so doppelt exponierten, wissenschaftlichen Position und Stellung ...[334]

ONKEL LUDWIG sich in Positur werfend. Du lieber Gott! Aufgeplusterter als ein Truthahn, prahlerischer – notabene alles dies aus seiner »Seele« – als der Großtürke und selbstherrlicher als der Papst. Was schon unsereinem ... dies bißchen mittelalterlicher, antiquierter Brimborium und purpurner Dalailamamantel ...!

MARIANNE noch gesteigerter als vorhin; unwillkürlich mehr und mehr »geschulte Wissenschaftlerin«. Seine ganze, prinzipiell ultrarationalistische ... extrem antimetaphysische Denkart und Weltauffassung ... der jederlei transzendentaler Idealismus ...

GEORG der so lange nervös an sich gehalten; wieder stehngeblieben; scharf; fast schneidend. Traust du mir zu, bildest du dir ein, hast du die edle Befürchtung, es liegt in meiner Absicht, mich ihm Person gegen Person ...

MARIANNE sich nochmal für den Abwesenden in die Bresche stellend; eindringlich. Es würde ihn doch aber aufs tiefste ...

ONKEL LUDWIG tapsig; unbekümmert-zuhauend- grob. Nu wenn schon!

MARIANNE noch immer zu Georg; fast bittend. Grade von uns beiden!

GEORG Ton wie vorhin; seine Augen in ihren. An diese Unabwendbarkeit, die sich für mich ... perspektivisch, bereits von allem Anfang ergab ... denkst du erst jetzt?

MARIANNE ausholend; dann sofort wieder abbrechend und beinahe flehend. Nicht »erst jetzt«, aber ... Nochmals das melancholische Rotkehlchen von vorhin. Wenn du dir jene Zeit zurückrufst ...

GEORG wieder auf und ab; unterdrückt-ungeduldig. Du mußtest dir doch klar sein ...

MARIANNE noch gesteigerter als vorhin; fast rührend-hilflos. Dein ganzer Lebensmut lag so zerbrochen ... Arbeit ... existierte für dich nicht mehr ... alle meine ehrlich und bestgemeinten, wiederholten Anläufe und Ansätze ...

GEORG brüsk; sie mitten in ihrem Satz unterbrechend. Weiß ich! Weiß ich!

MARIANNE in ihrem Satz, zögernd, weiter. Dich durch zunächst ... und vorläufig mal erst für mich selbst ... und allein angestellte Versuche in deinem Laboratorium ...

GEORG sie wieder unterbrechend; jetzt schon fast feindselig. Du konntest nicht erwarten ... es war etwas naiv von dir, zu verlangen ... daß ich durch deine hausmütterlichen Bemühungen bis[335] zu Tränen gerührt ... in alte, defekte, kaputt gegangne Eierschalen wieder zurückkroch!

ONKEL LUDWIG zu Marianne; mitleidig; für die so zurechtgestupste unwillkürlich, wenn auch auf seine Weise, Partei ergreifend. Nönöh! ... Nöh, du! ... Wirklich nich! ... Bestätigend zu Georg. Dann trat ich dazwischen ...

GEORG zu Onkel Ludwig; ohne ihn anzublicken; dann zu Marianne; ebenso. Dann tratst du dazwischen ... sehr richtig ... gleich die ersten Experimente ... so von vornherein bocksbeinig widerwillig ich mich auch mit ihnen befaßte ... ergaben die verblüffendsten Resultate ... alles, was mir bis dahin absolut feststehend, unantastbar und durch nichts zu erschüttern gegolten hatte, kam ins Kippen und Wanken ... ich konnte mich gegen das Neue, das vor mir aufstieg, nicht mehr wehren ... und damit schien dir ... mein auf den Grund geratnes Wrack ...

MARIANNE da er in seiner Erregung kaum noch fähig ist, weiterzusprechen; ihn unterbrechend; aus tiefstem Herzen. Ja! ... Ich war so froh, als du für irgend etwas, das außer dir lag, überhaupt wieder ein gewisses, geistiges, wachsendes Interesse zeigtest, daß ich mir Gedanken ... wirkliche, ernstere Gedanken ... über die uns jetzt plötzlich ... so erschreckend nahgerückten ... drohenden ... notwendig schweren Konsequenzen ... eigentlich ... noch nie bis jetzt ... gemacht habe!

ONKEL LUDWIG mit dem Versuch, in dieser prekären Situation gegen sein eignes Gewissen den ehrlichen Makler und Vermittler zu spielen; von einem zum andern. Ja, was ist da ...? Was ... e ... läßt sich da ...? Pferdegetrappel. Könntest du eventualiter ... und schlimmstenfalls ... deine beabsichtigte Publikation ...? Radfahrer: kurz, heftig.

GEORG wieder stehngeblieben; zu ihm rüber; höhnisch; die einzelnen Akzente scharf schneidend betont. Du meinst und schlägst mir vor, ich soll mein dickleibiges, fünf oder sieben Pfund schweres Bibelbuch, meinen zehntausend Seiten langen Wälzer, erst dreißig Jahre nach meinem Tode rausgeben? Mit Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist? Nachdem meine Knochen inzwischen längst verschimmelt sind?

MARIANNE durch seinen Ton schmerzlich getroffen. Wenn natürlich selbstverständlich[336] auch nicht das! Aber ... Sich wieder zusammenraffend. vielleicht wartest du wenigstens ab, bis Vater ...

GEORG wieder gereizt-nervös auf und ab; trotzdem jedes Wort äußerst klar und bestimmt. Ich weiß mich deinem Vater ... dessen in ihrer Art ... vorkämpferisch-kulturelle Bedeutsamkeit nach außen hin ich schätze ... so manches mich jetzt ... auch allerdings von ihm trennt ... in meinem Innern noch immer erkenntlich ... daß er vor nun ... ja wohl nächstens bald acht Jahren ... rein aus wissenschaftlichem Überzeugungseifer ... noch bevor ihn mit mir auch nur die geringste persönliche Beziehung verband, meine Berliner Berufung veranlaßt und sie dann, allem sonst üblichen akademischen Firlefanz zum Trotz, auch energisch vertreten und durchgesetzt hat! Aber er kann dafür heute nachträglich unmöglich das Opfer meines Intellekts verlangen! ... Mit letzter Steigrung. Meine Geduld, aber auch mit allem, ist durch diese letzte, gräßliche, mir einfach aufgezwungene Untätigkeit erschöpft, ich sehe nicht den mindesten Grund ein, meine Qual noch zu verlängern, und ich werde daher die Sitzung Bei diesen Worten stehngeblieben; heftige, energische, allen und jeden Widerstand abschneidende Geste mit der Linken. noch heute mit dir abhalten!

ONKEL LUDWIG vor dieser Entschiedenheit endgültig sein letztes Segel einziehend; paktierend zu Marianne; zwei sich mißtönig durcheinander schlingende Hupensignale. Da bleibt uns doch schließlich ...

MARIANNE die sich kaum noch aufrecht erhält; beschwörend zu Georg. Tus nicht! Ich bitte dich! Ich bitte dich flehentlich! Diese letzte, furchtbare ... nächtliche Vision ...

GEORG aus seine eigne Andersauslegnng dieser damit wieder zurückkommend; trotzdem einen kurzen Augenblick fast wankend. Ich habe dir doch bereits ...

MARIANNE in ihrem selben Satz, noch verstärkt- eindringlicher, weiter. Grade vor diesem Tag ...

ONKEL LUDWIG mit ihrer Argumentation nichts weniger als einverstanden; halb unwillig. »Vor diesem ...«

MARIANNE sein letztes Wort unwillkürlich wiederholend; noch immer in ihrem selben Satz; schon fast verzweifelt. Diesem schrecklichen ...[337] lächerlichen ... sogenannten »Glücks«tag, den ich mir ganz anders deute ...

ONKEL LUDWIG sie unterbrechend; wie vorhin. Ja, wenn man alles ...

GEORG noch unsichrer; wenn auch mit äußerlich wieder betonter Energie; aus der Absicht, sie daran zu erinnern, daß er für jene damalige Prophezeiung ja jetzt inzwischen bereits zu einer gänzlich andern Ausdeutung gekommen. Ich kann dir ... nur wiederholen ...

MARIANNE ansprechend; halb wie hysterisch; fast mit jedem Rhythmen- und Atemstoß sich steigernd; neuer Wolkenschatten. Redet mir vor, was euch beliebt! Wiederholt, was ihr wollt! Jene entsetzliche, unheimliche, grauenerregende Prophezeiung ... die mich gepeinigt hat und gequält ... unter der ich gelitten, im stillen, die ganze Zeit ... Abbrechend und wie irr um sich blickend.

ONKEL LUDWIG von ihrem Ausbruch ganz betroffen. Du sitzt hier vor uns ... wohlbehalten ... und gesund ...

GEORG in seinem Satz instinktiv weiter; ähnlich wie Onkel Ludwig; nur inzwischen bereits gefaßter. Ein Erdbeben ist für Berlin ... heute sicher nicht zu erwarten ...

ONKEL LUDWIG in derselben Linie weiter. Man wüßte also beim besten Willen wirklich nicht ...

MARIANNE die ihn nicht ausreden läßt; zu Georg rüber; letzte, sich noch fortwährend steigernde, überzeugteste Bestimmtheit. Wie und nach welcher Richtung du dir auch ihre häßlichen, hinterhältigen, dunklen drei Worte jetzt zurechtlegen und ausdeuten magst! Womit ihr mich auch zu beschwichtigen und zu beruhigen versucht! Ihr werdet mich durch nichts davon abbringen! Ich fühls bestimmt! Uns droht ein Unglück!

GEORG gegen alles wie taub; seinen Gang wieder aufnehmend; fatalistisch. Wenn uns eins droht ... wir werdens nicht aufhalten! Wie wirs auch anstellten ... es würde über uns hereinbrechen!

ONKEL LUDWIG der schon während der letzten Replik Mariannes, wie plötzlich von etwas interessiert, in den Garten geblickt hat; sich mit einmal aufrappelnd. Kinder ... Bereits aufrecht und durch einen heimtückischen Stich in der rechten Seite dabei gleichzeitig wieder an die scheußliche Visitenkarte erinnert, die der Imperator Mors bereits bei ihm abgegeben. der Magnifikus!![338]

MARIANNE hastig ebenfalls aufgestanden; nach dem Garten hin. Der Vater?

GEORG unwillkürlich stehngeblieben; ebenso; scharf. Wo?!

ONKEL LUDWIG fast atemlos; Zeigefinger. Dort! Durch die Taxusallee! Schon keine zwanzig Schritt mehr vom Springbrunnen!

GEORG der den Kommenden jetzt ebenfalls erblickt hat; ganz erbittert-überrascht. Wahrhaftig! ... Sich wieder in Bewegung setzend; feindselig- schadenfroh. Na!

ONKEL LUDWIG mit den Blumen, die er an sich gerafft hat; schon unterwegs nach der Tür rechts. Zum ersten Mal, seit ich hier bei euch hause! Wenn das nicht eine Explosion gibt!

GEORG der als einziger seine Fassung vollkommen wiedergewonnen hat; wie verwundert zu Onkel Ludwig. Du gehst weg? Warum bleibst du nicht?

ONKEL LUDWIG erst wieder »Stich«, dann trocken; Ton auf der ersten Silbe. Merci!

MARIANNE von ihrem Platz aus; wie festgebannt; dem Davonstelzenden nach. Du willst uns ... in diesem Augenblick ...

ONKEL LUDWIG schon fast an der Tür. Jaja! Laß man! Nochmal »Hans Mors«. Ich weiß schon! Während der Aufgetauchte im Hintergrund bereits sichtbar wird, ab; wieder prallste Sonne.

PROF. DR. DUFROY-REGNIER älterer, feingliedriger, sehr sympathisch aussehender Herr mit ausgeprägtem Charakterkopf; nicht viel größer als seine Tochter; die als Dame allerdings nicht klein ist; Haar und Bart weißgrau, der französische Kolonieeinschlag in seinem ganzen Habitus unverkennbar; er macht den Eindruck eines sehr harmonisch veranlagten Menschen, in dem aber durch irgendein schweres Erleben seelisch etwas zerbrochen ist; ohne Hut und Mantel, da er eben aus der Vordervilla nach der Tiergartenstraße zu gekommen; auf der letzten Mittelschwelle ist er stehngeblieben und blickt fragend nach der Tür rüber, durch die Onkel Ludwig eben verschwunden ist. War das nicht ...

GEORG der ihm, ebenso wie Marianne, fast bis zur Tür, entgegengegangen war; den Rest seiner Zigarette durch den großen Mittelflügel rechts wieder in den Garten schleudernd; mit verstecktem Hohn, als bereite ihm das beinahe eine gewisse, innere Genugtuung. Dein zärtlicher Stiefbruder, Herr Doktor Brodersen![339]

DUFROY der diese heimliche Feindseligkeit sofort sehr wohl verspürt; bekümmertes Kopfschütteln; noch immer nach der Tür rechts. Traurig! ... Diese ... Unversöhnlichkeit?! ... Jetzt zu Marianne und Georg rüber. Es ist ja schließlich ... nicht, daß ich darunter zu leiden habe und es so drückend empfände, als ... Unwillkürlich zögernd.

GEORG der den Sprechenden so lange nicht aus seinem Blick gelassen; ihm seinen Satz abnehmend und sarkastisch schließend. Eure gute Mutter!

DUFROY seinen Ton ignorierend; fragend-überrascht. Du kannst ihr das ... Pferdegetrappel. nicht nachfühlen?

GEORG Achselzucken; zornig-verächtlicher Gaumen- und Nasallaut. Hng! ... Sich wieder in Bewegung setzend; jetzt nach der Seite rechts. Wenn ich mir besondre Mühe geben wollte?

DUFROY zu Marianne gewandt, die durch die Art Georgs ihrem Vater gegenüber nun auch noch in dessen Gegenwart offenbar wieder aufs peinlichste berührt ist. Großmutter ... die dich nach elf erwartet hatte ... Noch immer Pferdegetrappel, Auto. schien mir durch dein Ausbleiben so beunruhigt ...

MARIANNE aufrichtig. Das tut mir aber ...

GEORG bissig. Frau Professor wird sich trösten müssen! Den üblichen, rührenden Blumengruß ... von ihrem verstorbenen Liebling ...

MARIANNE unter diesen beiden letzten Worten zusammengezuckt; fast erschreckt. Georg!

GEORG von ihrem Zwischenruf kaum unterbrochen; kurze heftige Kopfbewegung nach der Tür rechts; noch unterstrichener. Hat ihr der eben eilends Davongestürzte ... Abbrechend und sofort weiter; letzter Hohn und Grimm. Um ihn sich auf seine »stille Stube« zu stellen!

DUFROY über die ganze Art und den Ton Georgs wieder hinweg; zu Marianne, der er dabei die Hand reicht, liebevoll-gütig. Du warst auch heute wieder ... bei unsern drei ...?

MARIANNE einem plötzlichen Impulse folgend; über seine Hand gebückt und diese küssend. ...

DUFROY der seine Hand sofort, fast erschrocken, zurückgezogen. Aber Herzl! ... Ihr übers Haar streichelnd; weich-zärtlich. Du ... bist und bleibst doch die einzige! Zu seinem Schwiegersohn rüber;[340] etwas verlegen-zurückhaltend; die Rechte leicht um die Linke reibend und umgekehrt. Lieber Georg ... ich ... möchte an diesem schweren Erinnerungstag ...

GEORG kurz ablehnend; ohne sich in seinem nervösen Hin und Her dadurch aufhalten zu lassen. Danke. Ich danke dir!

DUFROY ohne jeden Vorwurf, leichte, bedauernde Geste; Schwalben. Wir haben uns ... in diesen letzten Jahren ...

GEORG ihn ungeduldig unterbrechend, seinen Satz weiter und zu Ende. Leider nicht allzu häufig gesehn! Eine Tatsache, die ich nicht in Abrede stelle.

DUFROY jetzt doch etwas befremdet; leis gekränkt. Du sprichst das in einem ... Sich bezwingend; mild-vorwurfsvoll; wieder Schwalben. Lag es an mir?

GEORG seinen Blick vermeidend; unterdrückt-gereizt. Zu freundnachbarlichem Verkehr, du mußt das schon einigermaßen begreiflich finden, war ich nicht aufgelegt!

DUFROY schonend-abwehrende Geste. Ich habe dich ... weiß Gott nicht ...

GEORG durch diese nachsichtige Milde nun doch in seinem Innern ein ganz klein wenig bedrückt und geniert; wie um nur etwas zu sagen. Hätte ich dich nicht einmal zufällig im Garten getroffen ... so würden wir uns überhaupt nicht ...

DUFROY inzwischen nähergetreten; im Raum sich umblickend; tief-schmerzlich aufseufzend. Ja ... früher ... wars fröhlicher hier! ...

GEORG seinen unruhigen Gang nicht unterbrechend; Ton jetzt noch gereizter. Da dein Besuch ... Nochmal Schwalben; schrillst. doch wohl offenbar ... nicht bloß eine verspätete und als solche ziemlich überflüssige Kondolenzvisite bedeuten soll ... möchte ich dich bitten ...

DUFROY ihm mitleidsvoll nachblickend; aus bewegtem Herzen. Mußt du in diesen Zeiten ...

GEORG brüsk abweisend; ohne ihn anzublicken; wie jede allzu intim-seelische Annäherung sich damit verbittend. Womit kann ich dienen? Was wünschst du?

DUFROY auf seinen Ton nicht reagierend; überlegen-ruhig; jetzt am Tisch etwas den Sessel rückend, in dem vorhin Marianne gesessen. Du erlaubst?

GEORG korrekt-höflich; seine »Unaufmerksamkeit« gewissermaßen redressierend. Pardon.[341]

DUFROY im Sessel Platz nehmend; von seiner Linken, die er vor sich leger in die Rechte legt, scheinbar interessiert die Fingerspitzen bekuckend; ausholend. Du erinnertest mich eben ... daß du mich einmal Aufblickend; etwas betonter. wie du sagtest, zufällig ...

GEORG nervös-ungehalten; seinen Satz, um ihn sofort schnell fortzusetzen, ihm abnehmend. An irgendeinem Vormittag in irgendeinem Juni, nicht weit von eurer kaputten Sandsteinflora, unter der alten Platane getroffen! Jawohl! Gewiß! Und aus jenem Faktum resultiert jetzt?

DUFROY der ihn jetzt nicht aus den Augen läßt. Du hattest mir damals ... auf meine wiederholte Bitte dein Wort gegeben ... du würdest deine große Arbeit ...

GEORG wieder wie vorhin; auch jetzt ohne ihn anzublicken. Über die energetische Einheit der Elemente sobald als möglich, jedenfalls aber vielleicht mal gelegentlich, wieder aufnehmen. Allerdings! Und zwar war das damals auch noch meine Absicht gewesen!

DUFROY einen Moment sprachlos; dann, nach einem fragend sich vergewissernden Blick zu Marianne rüber, die wie schuldbewußt dasteht, wieder zu Georg; als könne oder wolle er das, was dieser ihm eben indirekt angedeutet hat, noch nicht glauben. Du ... hast sie nicht wieder aufgenommen?

GEORG unterdrückt-heftig. Nein!

DUFROY nach einer kleinen Pause; ferne, erregte Stimmen; dazwischen, akkompagnierend, ein Hund; zwar bereits veränderter Tonfall, aber noch mit aller Gewalt an sich haltend. Jene Begegnung, von der du ... zu einer gewissen Verwundrung und Überraschung von mir ... anzunehmen scheinst ... daß sie nur eine zufällige gewesen ...

GEORG sofort stutzend stehngeblieben und jetzt zu ihm rüberblickend; scharf. War von dir entriert worden?

DUFROY nun doch dadurch etwas getroffen. Wenn du das ... mit dieser Vokabel, die mich in einem solchen Zusammenhang etwas sonderbar anmutet, belegen willst ...?! Wieder einen Moment lang veränderter, sich verinnerlichender Tonfall. Nachdem über dem plötzlichen Verlust ... unsrer unvergeßlichen Mariette ... zwölf[342] Monate vergangen waren ... hatte ich es für meine Pflicht gehalten ...

GEORG inzwischen hinter den Sessel rechts getreten, dessen Lehne er gepackt hält, und dem Blick seines Schwiegervaters nicht mehr ausweichend; Marianne ist in der Mitteltür, an deren linken Pfosten gelehnt, stehngeblieben, von wo aus sie der beginnenden Auseinandersetzung zwischen den beiden unterdrückt-angstvoll folgt. Ich höre!

DUFROY so schonend-rücksichtsvoll, als ihm das, einer solchen Herausforderung gegenüber überhaupt nur möglich ist. Daß du nach einem so herben Schicksalsschlag ... tatlos zusammengebrochen warst ... hatte dir niemand verübeln können! Ich weiß: du hast deinen Fuß seitdem nicht mehr aus diesem Haus und diesem Garten gesetzt! ... Aber es liegt in der Natur der menschlichen Dinge ... und es liegt Gott sei Dank in ihr ... daß auch selbst die wehste Wunde ...

GEORG ihm seinen schönen Satz mit verbißnem Hohn abnehmend und von sich aus zu Ende führend. Mit der Zeit und wenn man tüchtig Verbandwatte drauftut, und so weiter und so weiter!

DUFROY der sich dadurch noch absolut und keineswegs wieder provozieren läßt. Dieses Gesetz ... du magst darüber höhnen und spotten ...

GEORG sarkastisch. Kennt keine Ausnahme!

DUFROY auch hierin und in diesem Punkt, soweit seine Gewissenhaftigkeit ihm das erlaubt, ihm entgegenkommend. Wenigstens keine radikale!

GEORG kurz; grimmig; Auto entsprechend. M! ...

DUFROY nach einer unwillkürlich kleinen Pause; von neuem. Nach Ablauf eines weiteren Jahrs ... frug ich dich dann abermals an, und diesmal schriftlich!

GEORG der sich so ganz genau nicht mehr darauf besinnt. Und ich antwortete dir darauf?

DUFROY ihn zitierend. »Habe noch Geduld mit mir! Dränge mich nicht! Ich bin jetzt tätiger denn je!«

GEORG ungläubig sich vergewissernd. Wörtlich?

DUFROY einen Pflock zurücksteckend. Dem ... Sinne nach!

GEORG ihn quälend, wie ein Junge an einem Faden einen Maikäfer[343] quält. Und nun kommst du, nicht wahr, und frägst mich heute zum dritten Mal?!

DUFROY in der vagen Hoffnung, ihn durch eine, wenn auch nur halbe captatio benevolentiae wieder zur Räson zu bringen; ihm aber dabei doch gleichzeitig seine unbedingte und absolute Mißbilligung sehr deutlich zu verstehn gebend. Ein Mann, wie du ... hat auf kopfhängerischen Müßiggang ... und dauernde Indolenz kein Anrecht!

GEORG den scheinbar ganz Erstaunten und Überraschten spielend. Ich denke, du hast doch ... eben erst selbst gesagt ... ich hätte dir bereits schwarz auf weiß ...

DUFROY dies Katz- und Mausspiel jetzt energisch beendend. Und die Früchte deiner Tätigkeit? ... Die Ergebnisse, zu denen du gelangt bist? ... Willst du sie mir nicht vorzeigen? ... Du schweigst??

GEORG mit sich ringend. ...

DUFROY dessen »Geduld« jetzt zu Ende ist. Ja, du kannst doch nicht hier so dein ganzes Leben ... Abbrechend und sofort wieder, noch fragend-vorwurfsvoller, von neuem. Möchtest du dann nicht jetzt wenigstens endlich wieder ... mit deinen Vorlesungen beginnen?

GEORG jetzt endlich mit sich im reinen; sich unwillkürlich etwas höher reckend; sein Temperament geht mit ihm durch. Was ich vor meinem Auditorium, von meinem geweihten, hochragenden, mir von Staats wegen aufgestellten Katheder, unter dem heiligen Schirm und Schutz eurer »Universitas literaria« jetzt mitzuteilen hätte ... wäre für eure überlieferte ... professionelle Schusterweisheit ...

DUFROY der sich vor diesem Ton und Inhalt, bei dem Wort »Schusterweisheit« merkbar zurückgezuckt, von seinem Sessel unwillkürlich erhoben hat; so ehrlich zornig, daß er kaum noch sprechen kann. Zu wem ...

GEORG wieder zu sich gekommen; sich mit den Fingerspitzen der Linken leicht über die Stirn streichend. Verzeih! ... Ich war in der Form ...

DUFROY der sich mit Gewalt bezwungen hat; sich wieder setzend. Und ... e ... die Sache? ... Seine Stimme, durch die jetzt ein gerechter[344] Groll klingt, wieder anschwellend, Tonfall fast inquirierend. Die dich zu dem dir anvertrauten Lehramt ... wie ich aus deiner maßlosen Invektive unbedingt habe heraushören müssen ... in eine solche Widerspruchsstellung gedrängt hat ... daß du dich in deiner Form mir gegenüber ... derartig hast vergessen und vergreifen können?

GEORG seinen verräterischen Ausspruch zwar außerordentlich bedauernd, aber sonst und im übrigen nach wie vor nicht gewillt, vor seinem Gegenüber auch nur einen Millimeter breit zurückzuweichen. Ich bitte dich gern ... noch mal um Entschuldigung ... meine kühne, schwungvoll improvisierte Rede war ein Temperamentsausbruch ... aber es ist absolut nicht mein Vorhaben, dir schon jetzt ... mit dem Beweis, daß ich in dieser langen Zwischenzeit nicht bloß so dagesessen und die Daumen gedreht habe ... lästig zu fallen!

DUFROY in seiner Fehde gegen ihn weiter; auf eine klippe und klare Beantwortung der von ihm gestellten Frage nun unter keinen Umständen und unter gar keiner Bedingung mehr verzichtend; gehalten-eindringlich. Wir standen bisher auf demselben Boden! Wir kämpften Schulter an Schulter! Unser beider Streben, in seinem letzten, besten Sinn, war aus das gleiche Ziel gerichtet! Wäre es nach all dem Gemeinsamen, das uns auf diese Weise verband, nicht doch besser und vorzuziehn, ich erführe das, was dich mir so entfremdet ... schon jetzt? Wie bereits im voraus schon von der bloßen Möglichkeit dieser Möglichkeit aufs empfindlichste verletzt. Und nicht erst als letzter, nachdem es inzwischen womöglich die Runde bereits durch die ganze wissenschaftliche Presse gemacht hat?

GEORG ausholend; mit einer heimlich drohenden Verwarnung in seinem Ton. Mein Manuskript ... ist noch nicht abgeschlossen und fertig! Seine eigentümlich-dokumentarische, konfessionell tagebuchartige, intime Darstellungsform ... die sich mir aus meinem Fall ... als die leider einzig mögliche einfach aufzwang ... ist eine extrem individuelle!

DUFROY aggressiv-anerkennend. Das sind wir doch bei dir ...

GEORG wie vorhin; nur noch verstärkt. Das Ganze mit seinen zahllosen, bis zum Überdruß immer wieder und wieder variierten, sorgsamst[345] bis in die geringfügigsten scheinbar nur zufälligen und belanglosen Kleinigkeiten, Einzelheiten und Nebenumstände systematisch protokollierten Beobachtungs- und Versuchsreihen ... wird dich vielleicht überhaupt bloß ... wie eine überumfängliche, unnötig weitläufige, mit allerhand Persönlichstem durchspickte Materialienaufhäufung anmuten! Fernes, wie fragendes Auto.

DUFROY ganz erstaunt-verwundert. Um so angenehm-aufschlußreicher und ... interessierender!

GEORG noch eifriger; in erhöhter Bedrängnis. Allein schon die Materie selbst ... rein an sich und als solche ... Dufroy aufhorchend. dürfte dir eine so widerwärtig-antipathische sein ...

DUFROY als hätte er nicht ganz recht gehört; die Augen leicht zusammengekniffen. Ein Wissensgebiet, das mir schon rein an sich und als solches ...?

GEORG noch pointierender und deutlicher; in seiner warnenden Abmahnung jetzt ganz offen und unverhüllt. Ja, ich gehe sogar noch weiter! Und bin mir darin ganz sicher! Schon allein die abstrakte Möglichkeit, schon allein die bloße, abstrakte Existenzmöglichkeit der hier in Frage stehenden, von mir behandelten, einschlägigen Wissensmaterie muß dir, und zwar auf Grund dessen, was du für deine bisherige, unter Opfern schwer errungene Weltanschauung hältst, so sonderbar seltsam und verdächtig vorkommen, daß du sie rund und glatt, ohne dich auch nur zu bedenken, von vorne herein leugnen wirst!

DUFROY scharf aufmerkend geworden; mit leicht gerunzelter Stirn. Du mutest mir zu ... du unterstellst mir ...?

GEORG ihn fest dabei anblickend; prononciert betont. Eine »Zumutung« und »Unterstellung«, Irgendwo wird irgend etwas allerhäßlichst geklopft. für deren leider typische Berechtigung es in der Geschichte unsrer menschlichen Errungenschaften an betreffenden Vorbildern und Beispielen nur so wimmelt!

DUFROY unwillkürlich etwas vorgebeugt, als hätte sein Gegner sich damit das Unerhörteste geleistet, was menschlicher Unverstand sich überhaupt aus der Luft greifen könnte. Ein Naturwissenschaftler, ein moderner, ernsthafter Naturwissenschaftler, der aus irgendeinem Gefühls- oder Empfindungsuntergrund der[346] ersten Voraussetzung aller Forschung ... unbeschränkte Wahlfreiheit des zu bearbeitenden oder gar noch besser neu zu erschließenden Wissens- oder Erkenntnissegments ... willkürlich apriorische Grenzen stecken wollte? Wieder das Geklopfe; noch stärker.

GEORG mit seiner innersten Überzeugtheit nun nicht länger mehr zurückhaltend. Du würdest nicht der letzte sein ... wie du ... ich betone das zu meinem Bedauern scharf und nochmal ... schon nicht der erste gewesen wärst!

DUFROY leicht zurückgeprallt. Du stabilierst das mit einer Positivität und Bestimmtheit ...

GEORG ironisch-zuvorkommend. Es würde mir ein erlesenster, ausgesuchtester Genuß sein, verlaß dich drauf ... und es scheint mir fast überflüssig, das hier noch hervorzukehren ... wenn es sich zu meiner Überraschung ergeben sollte, Mit versteckter, seinen Gegner offenbar ganz besonders peinlich berührender Anspielung. daß sich auch bei dieser Gelegenheit »Theorie« und »Praxis« für dich decken!

DUFROY den Kampf damit beenden wollend; mit aller Gewalt sich zur Ruhe zwingend. Darf ich dich nun ... um deine epochale ... »Materie« bitten?

GEORG mit unwillkürlich nochmaligerWarnung. Wenn du darauf ... bestehst?

DUFROY eigensinnig-hartnäckig; nur noch mit Mühe beherrscht. Ich bestehe darauf!

GEORG nochmals; mit letzter Ansich- und Zurückhaltung. Ich befürchte allerdings ... du wirst diesmal an meiner »suprakritischen, hyperskrupulösen Präzisionsmethodik«, die dich mir ursprünglich mal so gewann ... nur wenig Freude erleben!

DUFROY der langen Diskussion satt; in seinem heimlichsten Eigenstolz durch all das ihm Entgegengehaltne auf das empfindlichste gekränkt. Nach dieser Richtung ... glaube ich ... hast du mich jetzt bereits zur Genüge vorbereitet.

GEORG mit plötzlichem Entschluß; die Hände von seinem Sessel lassend. Schön! Da du mich fast dazu zwingst ... Bereits nach seinen Zimmern hin. Ich werde dir also meine einstweilige, vorläufige Unterlage ...[347]

MARIANNE die von ihrem Platz aus der erregten Debatte mit wechselndem Mienenspiel gefolgt war; mit einer ihr im Moment kaum selbst zum Bewußtsein kommenden Bewegung, als wolle sie Georg noch im letzten Augenblick von seinem Vorhaben abhalten. Ich denke ... deine Papiere ... Gurrender Wildtauber. Ich sah da noch gestern alles so verstreut ...

GEORG schon nach den ersten Schritten stehngeblieben. Du hast allerdings recht! ... Zaudernd-zögernd zu Dufroy. Wäre es nicht dasselbe ...

DUFROY autoritative, Einspruch erhebende Geste; fast bereits ungehalten. Nicht erst morgen! Gleich! Wie du es mir eben versprochen! ... Nun zuerst halb auch noch zu Marianne rüber; gegen alle beide nicht ohne einen gewissen, sich beschwerenden Vorwurf. Es dauert ja schließlich ... keine Ewigkeit!

GEORG dem jetzt etwas andres nicht mehr übrigbleibt; an Marianne vorüber, deren Blick er leicht streift, auf die Tür links zu. Also einige Minuten! Ab, während beide ihm nachblicken, nochmal der jetzt wie blödsinnig gewordne Wildtauber.

DUFROY nachdem er sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt und gesammelt hat; aus einem in ihm aufgestiegnen, unbestimmten Verdacht zu Marianne rüber. Bist du über diese ... »einstweilige, vorläufige Unterlage«, mit der er mir jetzt kommen will ... informiert?

MARIANNE erst jetzt, trotz aller Besorgtheit, mit der sie dem nun unausweichlich Kommenden entgegensieht, von einem innern Alpdruck wie befreit, von ihrem Platz sich loslösend; alle ihre Kraft zusammennehmend. Ich ... glaube, ja! Langsam näher auf den Tisch zu. Und ... ich bitte dich deshalb allerherzlichst schon jetzt ...

DUFROY sie erregt unterbrechend; sich in seinem Sessel dabei wieder breit zurücklehnend. Und darüber hast du mir ... so oft du bei uns drüben warst, auch nicht die leiseste Andeutung gemacht? Hast du mir nie auch nur das geringste Sterbenswörtchen gesagt?

MARIANNE in den Sessel rechts sich jetzt ebenfalls niederlassend; ihre Worte so vorsichtig als nur irgend möglich; schonend-behutsam. Die Dinge ... mit denen Georg sich in diesen letzten[348] Jahren beschäftigt hat ... liegen deiner Anschauung so fern, die Ergebnisse, zu denen er gelangt zu sein glaubt, waren zum Teil ... oft auch noch selbst für mich so befremdlich überraschende ...

DUFROY der sie so lange angeblickt hat; fast bestürzt. Ihr sprecht ja beide ...

MARIANNE seinen Blick jetzt erwidernd; in nur noch schwer und mühsam verhaltner Erregung. Es wäre für mich das Schrecklichste, wenn nach allem, was uns betroffen ... Fernes, tiefes Auto. jetzt auch noch zwischen dir und Georg ...

DUFROY mit stärkster Selbstbeherrschung sich bezwingend. Du darfst völlig beruhigt sein! ... Schon allein ... um deinetwillen ... werde ich nichts unversucht lassen, um einen Konflikt ... Abbrechend und sofort, auf ihre Antwort offenbar lebhaft gespannt, wieder von neuem; das Auto von vorhin näher gekommen. Hast du ihm bei seiner Arbeit ... etwa ähnlich, wie schon damals, während deiner Genfer Studienzeit und Dozentur ... wieder irgendwie welche Beihilfe geleistet?

MARIANNE ausweichend; fast wider ihren Willen mit einer kleinen, leisen Sophistik. Bei seiner eigentlichen Arbeit diesmal ... nein!

DUFROY sich nochmal, obgleich ihn diese Antwort ganz selbstverständlich nicht befriedigt hat, mit Rücksicht auf die Situation bezwingend und beschwichtigend; das Auto unmittelbar vorbei. Nun ... ich bin neugierig! ... Nach einer kleinen Pause; veränderter Tonfall; den Kopf grübelnd in die rechte Hand gestützt, deren tastende Fingerspitzen nervös-suchend vor der Stirn. Seit diesem Unglück mit Mariette ist Georg gegen mich von einer Feindseligkeit ...

MARIANNE schnell; fast wie erstaunt-überrascht. Gegen dich? ... Zerquält-bitter. Gegen alle und alles!

DUFROY ungeduldig. Mag sein! Aber gegen mich ... In plötzlich nachträglich in ihm aufsteigender Gekränktheit und Erbittrung. wenn du eben Ohren gehabt hast, zu hören ... Noch einmal das Auto von vorhin; bereits wieder in der Ferne. in einer Zuspitzung ...

MARIANNE die dies zu ihrem eignen, schmerzlichsten Bedauern nicht leugnen kann; mit dem Versuch, ihm und sich darüber hinwegzuhelfen.[349] Ich ... räume ein, ich kann dir da leider ... nicht völlig widersprechen, aber ...

DUFROY noch gesteigerter als vorhin. Als ob ich ihm mal irgendwie, ich weiß nicht recht ... Jetzt zu ihr aufblickend; mit zurückerhobnem Haupt, den Ellenbogen noch gestützt, als hätte er das Gesuchte, wenn auch vorläufig nur erst im Prinzip, plötzlich aufgestöbert. das allerschwerste, persönliche Unrecht getan!

MARIANNE in dem instinktiven Bemühen, Georg, und sei dies auch nur bis zu einem gewissen Grade, vor ihm zu entlasten. Du mußt eben ... Georg ...

DUFROY von der unbedingten Richtigkeit der von ihm verfolgten Fährte jetzt bereits fest überzeugt; immer hartnäckiger. Und ich kann ihn verstehn! Ich begreife und billige sogar vollkommen seinen Gedankengang!

MARIANNE die diesen »Gedankengang« aus seinen Augen und seinem Mienenspiel vergeblich zu erraten versucht. Falls du ... so gut sein willst ...

DUFROY: Mariette hat ihre Tat ... Auf eine gegen diese Auffassung und namentlich deren Bestimmtheit unwillkürlich protestierende Geste Mariannes; fast heftig. Jawohl, ihre Tat! Davon bist du überzeugt, wie Georg! ... Erbittert weiter, während Marianne sich gegen diese der Wahrheit nur allzu entsprechende Feststellung nun nicht mehr aufzulehnen wagt. Mariette hat ihre Tat in hellem Wahnsinn begangen! ... Auf eine jetzt plötzlich ganz naiv stutzende Bewegung Mariannes, die deutlich ihren Unglauben an diesen »Wahnsinn« verrät. In hellem Wahnsinn!! Und wer will ihm beweisen, durch nichts könnte man ihm jetzt doch schließlich ausreden, daß dieser Fast jede Silbe nachdrücklichst betont. Wahnsinn nicht bereits vorbedingt gelegen in der psycho-physischen Gesamtkonstitution ihrer Mutter?!

MARIANNE mit »großen Augen«; allereifrigst. Du irrst dich! Ich ... glaube bestimmt ...

DUFROY unwillig. Verlaß dich drauf! Von seiner Überzeugung immer durchdrungner. Er trägt es mir nach ... und ich mache es mir ja jetzt schließlich selbst zum Vorwurf ... daß ich vor fünfunddreißig Jahren ...[350]

MARIANNE die ihn erst jetzt ganz begreift. Du traust Georg ... eine solche Ungerechtigkeit zu? ... Mit größter Entschiedenheit. Nein! ... Da bist du ganz ...

DUFROY vor diesem Ton, durch ihre absolute Sicherheit irritiert, etwas einlenkend. Das sage ich mir ja allerdings ... auf der andern Seite wieder auch! Nur ...

MARIANNE noch bestimmter. Und dann und ... vor allem! Sich nochmal vergewissernd; als verstünde sie gar nicht, wie er auf einen solchen Verdacht ernstlich überhaupt gekommen sein könnte. Mariette und ... »wahnsinnig«? Im regulär üblichen Sinne zuletzt wahnsinnig? ... Das ist doch von dir ... bloß eine Annahme?!

DUFROY aus stärkster selbstquälerischster Überzeugtheit; fast verzweifelt. Es ist keine Annahme!! ... Leiden Gottes! Nein!!

MARIANNE an ihrer Gegenüberzeugung festhaltend. Solange du mir nicht ...

DUFROY unruhig-ausholend. Es fällt mir ... etwas schwer, dir das anzudeuten, aber ... durch einen mir beruflich befreundeten Gynäkologen, den deine Schwester noch keine vierundzwanzig Stunden vor jenem entsetzlichen Schreckensbegebnis konsultiert hatte, weiß ich mit aller Bestimmtheit ... und zwar bereits seit Jahr und Tag ... daß sie sonst in absehbarer Zeit ... Da er jetzt merkt, daß er bereits verstanden wird; seinen Satz, schnell anders gedreht, endend. es hätte sich eben gerade ... noch um sieben Monate gehandelt!

MARIANNE über diese Eröffnung fast fassungslos. Das? ... Das hat dir der Mann ...?

DUFROY hart nickend. Das!

MARIANNE noch ganz betroffen-entsetzt; als könne sie an das Gehörte noch immer nicht recht glauben; in diesem Augenblick ganz die »Tochter ihres Vaters«. Eine medizinische Kapazität ... der notorisch angesehenste, berühmteste unsrer Berliner Frauenkliniker ... denn in der betreffenden Annahme irre ich mich doch wohl nicht? ... und von einer ... derartigen Indiskretion?

DUFROY herb-bitter. Indiskretion! In einem solchen Fall und unter Kollegen! ... Die ihm angetane Schmach und Marter sich nochmal, fast wie in seelischer Selbst-Vivisektion, zurückrufend. Der[351] Mensch sah mich in meiner Trostlosigkeit und in meinem Schmerz, und es war ihm zweifellos ein Genuß, durch seine »vertrauliche Mitteilung« unter dem Siegel der »brüderlichen Amts-Verschwiegenheit« die Qualen, die ich litt, Gelbspötter. »Grüß di Gott! Grüß di Gott!«. nun noch erst recht ... Abbrechend; letzte, schmerzlichste Verachtung. »Kollegen!«

MARIANNE die sich in der Zwischenzeit wieder etwas gesammelt hat: auch jetzt noch nicht überzeugt. Auch der erfahrenste Fachmann ...

DUFROY ihren Satz fort- und zu Ende führend. Kann sich mal ab und zu irren! Gewiß! Nur in diesem fraglichen Zustand ... sind die Symptome so sichre, jede Möglichkeit einer trügerischen Diagnose meist von einer so apodiktischen Unwahrscheinlichkeit ...

MARIANNE die bei ihrem Unglauben bleibt, noch gesteigert. Mariette und »Wahnsinn!« ... Daran glaube ich nicht! Das halte ich für ganz und gar ausgeschlossen! Und wenn du mir dafür noch hundert ...

DUFROY sie groß anblickend, fast gespannt-erwartungsvoll; die einzelnen Akzente scharf-nachdrücklich betont. Du kannst mir für Mariettes Grauentat ... Wieder Wolkenschatten; etwas dunkler. irgendeinen andern ... zureichenden Grund ... Auto: hoher, lang gezogner, doppelter Fanfarenlaut. nicht geben!

MARIANNE die heimliche Brücke, die er ihr damit gebaut, unwillkürlich betretend. Der noch einzig möglich andre ...

DUFROY sie sofort von diesem Weg wieder zurückreißend. Ist für uns beide von einer solchen Indiskutierbarkeit ... daß es mir, ehrlich gesagt, nicht recht verständlich ist, wie du überhaupt ...

MARIANNE wieder zur Besinnung kommend. Du hast recht! ... Wie durfte ich auch nur einen Augenblick ...

DUFROY versteckt-mißtrauisch; von neuem. Oder hat dir ... vielleicht Georg ...?

MARIANNE erstaunt aufhorchend. Georg??

DUFROY sich fast wider seinen Willen noch einen Schritt weiter wagend. Es würde mir dadurch manches ...

MARIANNE noch verwundert-befremdeter; leicht abweisend. Georg ... hat sich zu mir ... über derartiges nie ...

DUFROY nicht recht mit sich im klaren, welche Taktik er jetzt in diesem[352] Augenblick ihr gegenüber einschlagen soll; den Kopf hin und her. Hm ... hm ... hm ... hmm!!

MARIANNE aus ihrer Zurückhaltung beinahe offensiv. Es scheint mir aber fast ... Zankende Spatzen. als ob gradezu du ...

DUFROY nun zu einer näheren Erläuterung und Erklärung seines wiederholten, vorsichtigen Fühlhörnerausstreckens so gut wie gezwungen. Etwas befremdend berührt und ... eigentlich schon damals lebhaft beunruhigt ... hatte mich allerdings eine Mitteilung ... die mir bald nach jener fürchterlichen Entsetzensnacht ... gleich, ob mit, oder ohne besondre Absicht, deine Großmutter gemacht hat!

MARIANNE ganz erstaunt. Großmutter?

DUFROY nicht ganz angenehm davon berührt, daß sie ihn durch ihre verwunderte Frage nun auch noch in diesem Punkt zu einer Art Kommentar drängt. Gelegentlich einer ... ihrer damals ersten ... religiösen, bedauerlich selbstquälerischen Gemütsdepressionen, die bei ihr seitdem ...

MARIANNE in jetzt auf einmal plötzlicher Erinnrung an das erst vor so ganz kurzem nach dieser Richtung von Onkel Ludwig Gehörte ihm seinen Satz unwillkürlich schnell schließend. So erschreckend häufig geworden sind! Ich weiß! Ich weiß!

DUFROY immerhin froh, seinen gesuchten Anfang damit nun wenigstens glücklich gefunden zu haben. Wie unser alter Hauswart ihr damals nachträglich anvertraut hatte, muß Mariette ... das genaue Datum ließ sich zu meinem Bedauern nicht mehr feststellen, jedenfalls aber bereits eine geraume Reihe Wochen vorher ... fast eine ganze Nacht, und zwar ohne sich in der Begleitung Georgs oder einer andern, mir bekanntgewordnen, verläßlichen Person zu befinden, irgendwie außerhalb des Hauses verbracht haben!

MARIANNE die ihm aufmerksam zugehört. Diese bloße Tatsache allein ...

DUFROY der sie nicht ausreden läßt; alle »Indizien« sorgfältigst unterstreichend. Sie wird auch dir vielleicht etwas sonderbar und eigentümlich vorkommen, wenn ich dir die Eröffnung mache, daß erstens deine Schwester damals das Haus nicht, wie sonst ausnahmslos, in ihrer Equipage verlassen haben konnte, da sie bei ihrer späten Heimkehr in einem ganz gewöhnlichen, üblichen[353] Mietsauto vorgefahren kam, zweitens, daß der dadurch mitten aus seinem Schlaf Geschreckte, dem es bei seinem Gang mit ihr durch den Garten auffiel, daß sie als Kopfputz nur einen leichten Schleier um hatte ... aus welchen Gründen weiß ich nicht, ich erwähne das nur ... daß dieser Alte zu seiner weiteren Verwundrung die Haustür hier hinten dann sperrangelweit offen und das kleine Gartenpförtchen nach dem Kanal zu, das er selbst, Punkt zehn Uhr, ordnungsgemäß geschlossen hatte, nur leicht angelehnt fand ...

MARIANNE ihn sehr ruhig unterbrechend. Daraus ginge doch bloß hervor ...

DUFROY ihren Satz fortsetzend und beschließend; die sich auch für ihn als notwendig ergebende Schlußfolgerung wie die verwerflich-auffälligste Tatsache von der Welt betonend. Daß Georg auf seine Frau ... wahrscheinlich ... bereits stundenlang gewartet hatte!

MARIANNE scheinbar ganz verwundert. Nun ja, und?

DUFROY durch ihren seltsam passiven Widerstand fast gereizt. Um so befremdlicher, daß diese dann ... Ein großer, ganz zweifellos schwarzer Hund irgendwo bellt. offenbar in der Absicht ... ihren Mann zu vermeiden ...

MARIANNE jetzt ebenfalls etwas nervös; ungeduldig. Kombination! Wie willst du wissen ...

DUFROY wie ihre »oberflächliche Leichtfertigkeit« nicht begreifend. Kombination? Kombination, wo Mariette, drittens, und da unterbrachst du mich vorhin, dem Alten, für seine ja doch schließlich nur ganz selbstverständliche Pflichtleistung, gradezu eine Barsumme angeboten hatte, ein Schweigegeld, das er ehrlich genug gewesen war, abzulehnen?

MARIANNE in ihrer Verteidigung der durch ihn so Verdächtigten verharrend. Wir können trotzdem ...

DUFROY beeilt; unwillkürlich. Gott sei Dank nicht! Gott sei Dank noch nicht!! Von neuem Sonne.

MARIANNE die feinen Brauen leicht zusammengezogen. Und doch ... nimmst du ... gradezu an ...?

DUFROY heftig; sie mit ihrem anklagenden Vorwurf nicht erst ausreden lassend. Verbrechen oder nicht ... Wahnsinn!! Der schwarze »Pluto« von vorhin noch intensiv-ungehaltner. In jedem Fall Wahnsinn!! Schon immer in ihr latent gewesner, konstitutionell-hereditärer,[354] plötzlich, jähkatastrophal-eruptiv, nach außen hin durchgebrochner Wahnsinn!! Wie hätte sonst eine Frau, eine gebildete, feine Frau, die erzogen war, wie Mariette ...

MARIANNE die an diese Annahme und Auslegung von ihm noch immer nicht glauben will. »Wahnsinn!« ... »Wahnsinn!«

DUFROY noch gesteigert. Aber ganz ohne jede Frage!

MARIANNE wie vorhin. Ich ... kann dir da ...

DUFROY hartnäckig; fast eigensinnig. Laß dir das versichern! Von allen übrigen Beweisen, Symptomen und Anzeichen meinetwegen sogar mal einen Augenblick grundsätzlich abgesehn! Allein bereits jene sinnlose, krankhafte, mir stets unerklärbar gewesne Eifersucht auf dich, die, kaum daß Georg in unser aller Leben damals aufgetaucht war ... ohne, daß er dich je, und zwar noch dazu auf deinen eignen, ausdrücklichen, persönlichen Wunsch, auch nur eine einzige, halbe Sekunde lang zu sehn bekommen ... sofort eingesetzt hatte, die, obgleich du dann doch die ganzen, nächsten Jahre, bis zum unglücklichen Tode Mariettes, ununterbrochen abwesend warst, sich wahrhaft bis zur Unerträglichkeit steigerte, und die nicht eher geruht hatte, als bis ... Schleppdampfer vom Kanal her; Hamburger Hafenklangfarbe.

MARIANNE durch sein Wiederaufwühlen so vieler vergangener Dinge, wie sie glaubt, unnütz von ihm gequält. Nun ja, ja, ja, aber ...

DUFROY in seiner Begründung weiter. Das allenfalls einzige, kärgliche, kümmerliche Bißchen und Stückchen Untergrund und Anlaß dafür, eure auffallende, irritierende, absolute Ähnlichkeit ...

MARIANNE in seine plötzliche Pause; schwer vor sich hin. Ein Schicksalsgeschenk, für das wir Schwestern beide ...

DUFROY fast unwirsch. Wenn jedes Schwesternpaar ...

MARIANNE ganz erstaunt-überrascht. Du ... nimmst das so leicht?

DUFROY ihren Vorwurf zurückweisend. Leicht! Leicht! Dem von ihr so plötzlich in den Vordergrund gerückten Problem nun nicht länger mehr ausweichend. Ich habe mir ja oft auch über dieses Faktum und Fatum, über diese launisch seltsame, merkwürdige Zufallsfügung, zum mindesten aber und namentlich in diesen letzten Jahren, die wiederholt bizarrst grüblerischsten, absonderlichsten Gedanken gemacht![355]

MARIANNE müde, resigniert-schmerzliche Geste. Was hilft jetzt alles nachträgliche ... Spintisieren und Rückwärtsrechnen ... wenn sich dadurch ... Pferdegetrappel.

DUFROY sich jetzt gewissermaßen selbst Rechenschaft ablegend; mit jedem neuen Detail immer interessierter. So amüsant reizend und drollig, als ihr noch Kinder wart, die immer wiederkehrende Verwechslungskomödie zwischen euch, die Großmutter und mich oft in die ratlos komischsten Situationen und Verwirrungen brachte, auch auf alle Welt wirkte, und natürlich und selbstverständlich am weitaus meisten und elementarsten auf uns selbst: bereits euer erster Eintritt in die Gesellschaft, als ihr in weißen Blütenkleidern, jede sie selbst und zugleich, durch ein seltenstes, erlesenstes, wunderlichstes Naturspiel, auch wieder die andre, Arm in Arm durch die sich überrascht und erstaunt vor uns öffnenden Reihen in den großen, festlich erleuchteten Saal der Philharmonie tratet, machte mich stutzen! ... Ein sanft tirilierendes Rotschwänzchen. Und als dann auch auf den nächsten Bällen, so unbestreitbar eure junge, strahlende, fremdartige Schönheit auch überall den Mittelpunkt bildete, grade die ernsthafter in Frage kommenden jüngeren Herren Adoleszenten und allenfallsigen Aspiranten, nach deutlich sich auf ihren Gesichtern verratenden Seelenkämpfen, zu eurer innerlich nicht geringen Erheitrung, Belustigung und Ergötzung, immer wieder tapfer kehrtmachten, wurde auch Großmutter ... nachdenksam!

MARIANNE apathisch ablehnend. Das ist ja alles ...

DUFROY noch immer lebhaft bei seinem »Problem«. Die Tragödie begann erst ...

MARIANNE durch diese Wendung, mit der er in seinem immer farbig-spezifischer gewordnen Memorial fortfahren will, plötzlich ergriffen; unwillkürlich in seinem Satz weiter. Als in meiner Abwesenheit Georg ...

DUFROY eifrig nickend; Ton noch verstärkt. Als in deiner Abwesenheit Georg ...

MARIANNE ausbrechend; aus seinem langen Exkurs jetzt das für sie resultierende Fazit ziehend. Mariette ... hätte sich nie das Leben genommen ... und ich selbst käme mir nicht rein dadurch, daß[356] ich existiere und existierte ... jetzt fast wie halb schuldbeladen vor ... wenn ein mitleidigeres Geschick ...

DUFROY wie vorhin; ihren Satz schließend; fast bedauernd-feierlich. Eure Körper so verschieden wie eure Seelen geformt hätte!

MARIANNE in ihrem Resümee von neuem. Dieser böse Fluch ...

DUFROY noch verstärkt. Diese Danaergabe in Verbindung und im Verein mit ihrer unglücklich ererbten, seelisch morbiden, traurigen Veranlagung und Prädisposition ... scheint in der Tat deine arme Schwester, wie ich zugeben muß, mit der Zeit und auf die Dauer ... speziell gegen dich ... ich will und möchte ja nicht geradezu sagen und behaupten, auf erotomanischer Grundlage, aber ... »Explodierendes« Auto. jedenfalls mit einem Zorn, einer Abneigung und einem Haß erfüllt zu haben, Nach dieser eleganten Kurve auf seine unterbrochne Beweisführung wieder zurückkommend; fast jede Silbe steigend betont. der die auch nur entfernteste Möglichkeit irgendeiner psychologisch hinlänglichen Andersausdeutung für jeden Sachkenner und Fachmann von vorne herein und a priori ausschließt!

MARIANNE in ihrem Widerstand einen Augenblick nun doch fast wankend. Ich fand allerdings ... nach ihrem Tode hier Aufzeichnungen vor ... die für deine Ansicht ...

DUFROY aufhorchend-neugierig. Aufzeichnungen? Was für ...?

MARIANNE der ihre kleine »Indiskretion« offenbar schon halb wieder leid tut. Ausbrüche, Klagen und Anklagen, die ich dir nicht vorenthalten hätte, wenn sie mich nicht in ihrer erbitterten, Plötzlich, ganz gegen ihren Willen die denkbar stärksten Worte wählend und so ihre Position, die sie so lange mühsam aufrechterhalten, einen Moment fast preisgebend. bösartigen, ich muß gestehn, fast monströsen Vehemenz ... Radfahrer.

DUFROY einfallend; triumphierend-heftig; alles übrige ihr damit abschneidend. Das genügt! ... Das genügt mir! ... Das genügt für mich und mein Urteil ... vollkommen!!

MARIANNE achselzuckend; noch immer, trotzdem, nicht überzeugt. Für ... mich und ...

DUFROY über ihre Worte hinweg; aus tiefster, innerster Selbstqual; sich schnell und bis zum Schluß steigernd. So ... hat sich jetzt jene Handlungsweise, die ich damals für die altruistischste meines[357] Lebens hielt, daß ich von deiner Mutter nicht ließ, daß ich ihr, allen vernünftigen Gegengründen zum Trotz, die ich sämtlich sah, die sich mir einer nach dem andern aufdrängten und von denen jeder für mich infallibel war, zu einem Bunde die Hand reichte, der in diametralem, unüberbrückbarem Widerspruch mit meinem letzten, innersten Wissen und Gewissen als Mensch und als Forscher stand ... so hat sich das nun ... gerächt! ...

MARIANNE zart, weich, aus überquellendstem Mitleid; ihren eignen Kummer fast vergessend. Du mißt dir eine Schuld bei ... wo du doch grade ...

DUFROY in seiner Selbstanklage nun noch erbitterter. Ein Arzt, ein durch unsre ganze, neuzeitliche Schulung gegangner Physiologe, der gläubigste, glühendste Propagandist und Apostel für die praktische Notwendigkeit einer absolut lückenlosen Vererbungsmathematik ... und in seinem eigenen Tun und Nichtlassen ... Abbrechend und sofort nieder von neuem. Das mußte ja ... zu irgendeiner Wiederwettmachung ... und Vergeltung führen! Diese gerechte Strafe ... Die Stimme versagt ihm fast. habe ich doch auch bloß ... verdient!!

MARIANNE sich jetzt immer mehr und mehr auf seine Seite stellend. Da du, grade als Arzt ... damals genau wußtest ... daß diese Heirat für Mutter ... die so schwärmerisch zu dir aufblickte ... die so exaltiert an dir hing ...

DUFROY einlenkend-zugebend. Das ist ja wahr! Ich stand vor der Alternative, ein Wesen, das ich liebte und das mich ... armen Menschen selbst ... gradezu vergötterte ... in schneller Frist rettungslos ... entweder vor mir hinsterben zu sehn oder ... mich eben zu entschließen ...

MARIANNE ihm schnell zur Hilfe kommend; jetzt ganz auf seiner Seite. Und du entschloßt dich so selbstlos, daß ich mir eine noch selbstlosere Handlungsweise überhaupt gar nicht vorstellen kann!

DUFROY abwehrend; schmerzlichst. Wäre ich damals selbstlos gewesen ... ich würde mir heute ... vielleicht keinen Vorwurf machen! Daß ich von deiner Mutter nicht ließ, daß ich auf diese kurze, glücks- und schmerzensreiche Vereinigung mit ihr nicht verzichtete, einfach nicht verzichten konnte, daß ich dazu nicht die Kraft besaß ... Seinen Satz unterbrechend; erläuternd. ich hatte damals[358] extra, um mir selbst zu entfliehn, kaum drei Monate nach dem so überraschend plötzlich erfolgten Hinscheiden meines Vaters, meine große, langjährige, südostasiatische Reise unternommen ...

MARIANNE nickend. Ich weiß!

DUFROY verstärkt; noch in seiner selben Erläutrung. Vergeblich ... Erst jetzt seinen Satz schließend. grade das war die höchste, denkbar ausgesprochenste, raffinierteste Form meines Egoismus gewesen!

MARIANNE vor so viel Selbstbezichtigung ganz starr. Ja, aber ... auf diese Art ... und in dieser Weise ...

DUFROY einfallend; eifrig. Läßt sich sogar auch die heroischste Selbstverleugnung ... Ausbrechend; fast verzweifelt. Es gibt keinen »Altruismus!« Es gibt für uns nur Entscheidungen unsres Verstands oder unsrer Gefühle! Und es scheint ... Letzte, tragischste Erkenntnis, als ob er sich jedes Wort blutend aus seiner Seele risse. als führte ... durch die oft unsagbare Schmerzlichkeit dieses Lebens ... nur die kälteste, grausamste Berechnung zum Ziel!

MARIANNE bis in ihr Innerstes erschüttert. Und zu dieser Anschauung ... zu dieser trostlosen Anschauung ...

DUFROY der sich mit Gewalt wieder gefaßt hat; nach einem schnellen Blick rechtsrum auf die Tür, hinter der Georg vorhin verschwunden war. Es ist mir eine wahre Beruhigung, daß wenigstens du ... bei dem steten, unveränderlichen Gleichmaß deines Naturells ... bei deiner ganzen ... Gemütsart und Charakterveranlagung ...

MARIANNE die seinen Blick wahrgenommen; zögernd; unsicher. Ich ... weiß nicht ... ob du mich da nicht ... Pferdegetrappel.

DUFROY nach einem nochmaligen, hastigen Blick auf dieselbe Tür; veränderte, etwas beschleunigtere Sprechweise. Georg ... muß leider jeden Augenblick eintreten. Ich würde dieses Thema sonst nicht berühren! Ich berühre es auch nicht meinetwegen, liebe Tochter! Deine Anwesenheit in diesem Hause hat, soweit ich darüber informiert bin, längst aufgehört, einen beliebten Gesprächsstoff unsrer gesellschaftlich sogenannt besseren Kreise zu bilden! Aber du weißt, oder wirst doch wenigstens bereits bemerkt haben ...[359]

MARIANNE die schon fast nach seinen ersten Worten unruhig zurückgestutzt war; ihn unterbrechend; abkehrender, beinahe harter Tonfall. Du kommst ... auf Wunsch ... um nicht zu sagen, im direkten Auftrag von Großmutter?

DUFROY der sie groß anblickt; ganz unwillig-überrascht. Es muß ... zwischen dir und Georg ... doch mal endlich ... Wildenten.

MARIANNE aufgestanden; ihm gegenüber; ihren Hut, den sie vom Tisch genommen, in der starrkrampfhaft herabhängenden Rechten. Wenn du willst ... verlasse ich dies Haus ... mit dir schon jetzt ... Blick nach der Tür ihr gegenüber. und noch ehe ...

DUFROY der sich sofort, halb mechanisch, ebenfalls erhoben hatte und nun ihrem Blick gefolgt war; besorgt-angstvoll. Ihr seid euch in diesen Jahren ... nicht einen Schritt näher gekommen?

MARIANNE ihre innere Erregung mit aller Kraft zu verbergen trachtend; ihn nicht anblickend; nur langsam den Kopf schüttelnd. ...

DUFROY unwillkürlich; durch seinen Ausruf klingt es jetzt fast wie Schrecken. Marianne!

MARIANNE an ihm vorbei wie ins Leere blickend. Wir haben in diesen ganzen Jahren Dinge, die uns angingen, noch nie auch nur mit einem einzigen Wort berührt!

GEORG bevor Dufroy, von dem ihm Eröffneten, noch ganz starr, Marianne etwas darauf erwidern kann, zurück durch die Tür links; in der Rechten ein ziemlich starkes Foliomanuskript in dunkelbuntem Lederumschlag. Ich habe dir gleich den ganzen Schwamm ... Einen kurzen Moment stutzend und die Situation überblickend. Eine kleine Aussprache?

DUFROY sich zusammenraffend und, etwas nach Marianne zu, hinter den Tisch getreten. Oh ... nur ganz harmlos und nebenbei! ... Nach dem Manuskript hin, mit dem Georg jetzt näher gekommen. Das corpus delicti?

GEORG durch diesen Ton, den er nicht recht vertragen kann, bereits wieder heimlich irritiert. Jawohl! ... Seinen Packen wuchtig auf den Tisch legend. Der neue »codex argenteus!«

DUFROY seiner seelischen Erregtheit noch nicht ganz Herr geworden; maskiert ironisch. In einem flexiblen Umschlag ...

GEORG den Satz ihm abnehmend und ihn in seinem Tonfall noch überbietend. Aus echtem, kokett krokodilnem, pfauenbunt irisierendem[360] Japanleder! Von neuem, diesmal nach links, wieder auf und ab. Wenn du dich seines dürftigen Inhalts erbarmen willst?

DUFROY das Manuskript aufs Geratewohl halb aufklappend und interessiert in ihm blätternd; ganz verblüfft. Acht- oder neunhundert Folioseiten auf dünnstem Übersee, ohne jede Durchstreichung und Rasur, in deiner haarschmalen, steilscharfen, Spatzen. fast mikroskopisch kleinen Schrift ...

GEORG in seinen Satz schnell einfallend; noch schärfer als vorhin. Aus geschliffnen, vergifteten Dolchspitzen! Jawohl!

DUFROY mit leicht zusammengezogenen Brauen nach ihm aufblickend. Du solltest nicht ... von dir selbst ...

GEORG Achselzucken; durch den so prompt zurückerhaltnen Hieb noch nervös-gereizter. Nicht eben jeder kann, seiner großzügigen, breitbasigen, edleren Charakterveranlagung entsprechend ... Unwillkürlich stockend.

DUFROY kühl; abwartend. »Entsprechend ...«

GEORG mit seinem ganzen, angesammelten Ärger jetzt rausplatzend. Gutmütig parfümierte Löwenklauen aufs Papier setzen!

DUFROY ruhig; überlegen. Gewiß nicht! ... Wie um jedes etwa obwaltende Mißverständnis zu beseitigen; sofort nochmal und etwas schneller. Übrigens lag es mir durchaus fern ...

GEORG sarkastisch; ihn nicht ausreden lassend. Aber ganz selbstverständlich! ... Grob nachhinkend; hinterdrein. Mir gleichfalls! ...

DUFROY nach einer kurzen Pause; irgendwo Kinder; in seinem Innern durch die ganze, aus lauter Widerhaken bestehende Art Georgs nun doch leis pikiert; die Rechte wieder auf dem Manuskript. Darf ich mal in das Fazit ... deiner anerkennenswerten, fleißigen Ameisentätigkeit ...

GEORG schnell; stehngeblieben. Einen flüchtigen, provisorischen Einblick nehmen? Nein!

DUFROY unwillkürlich einen halben Schritt, unmutig, zurück. Du dekretierst und ... befiehlst ...?

GEORG nach dem Zuschauerraum zu hinter dem Sessel links; veränderter Tonfall; dabei ab und zu mißtrauisch nach Marianne rüber, die, seine Blicke vermeidend, die Augen meist auf den Vater, etwas nach dem Hintergrund zu, hinter dem Sessel rechts steht. Im Gegenteil! Du tätest mir einen besondern Gefallen, und ich[361] bitte dich darum, Wort für Wort, Satz für Satz und Zeile für Zeile zu lesen! Mit dem Anfang zu beginnen und erst mit dem Schluß, soweit von einem solchen bereits die Rede sein kann, aufzuhören!

DUFROY mit gesteigerter Verwunderung; noch wie vorhin. Du verlangst ...

GEORG der sich jetzt ganz gesammelt hat; die Linke neben sich auf der Lehne seines Sessels; unwillkürlich sich etwas höher richtend. Ja! Denn diese Blätter, so gering und so im letzten Grund trotz allem mich nicht überhebend ich schließlich auch von mir denke, dienen einem Problem oder wollen ihm doch wenigstens dienen, von dessen endgültiger Lösung für mich das Wohl und Wehe ... und zwar nicht bloß intellektuell, sondern überhaupt ... das Wohl und Wehe unsrer ganzen, gesamten, kultur-stolzen, modern zivilisierten, weltherrschenden Rasse abhängt!

DUFROY als hätte er ihm eine Rede in Volapük gehalten. »Unsrer ... ganzen ...«?

GEORG seine letzten Worte wiederholend und mit noch erhöhterem Nachdruck weiter. Unsrer ganzen, gesamten, kulturstolzen, modern zivilisierten, weltherrschenden Rasse, die trotz aller ihrer äußeren, riesenhaften, gewaltigen Fortschritte, Erfolge und Errungenschaften bereits längst einem innern, tiefen, stetig weiter um sich greifenden Verfall entgegengeht!

DUFROY vor dem hohen, getragnen, gradezu fast priesterlichen Ernst seiner Worte stutzend. So ... feierlich?

GEORG noch immer sich steigernd, jetzt hinter den Sessel getreten, dessen Lehne er, ähnlich wie in der Szene vorhin, gepackt hält. Ja! Denn es gilt den feierlichsten, folgenschwersten Gerichts- und Wahrspruch, zu dessen Verkündigung man ... das Wort, nebenbei, stammt nicht von mir, aber ich reiße es aus seiner schon halben Vergessenheit und werfe es weiter ... Mit unwillkürlich noch erhobnerer Stimme. zu dessen Verkündigung man die Wissenschaft ... je aufgefordert hat!

DUFROY mild abgeklärt-bitter. Die Wissenschaft, mein lieber Sohn, hat schon viele »Wahrsprüche« verkündigt! Und noch alle haben sich bis jetzt ... als falsch erwiesen!

GEORG herb; hart. Um so schlimmer ... für diese »Wahrsprüche«!

DUFROY fast mitleidig auf das Manuskript hin. Und mit diesem halben[362] Arm voll Papier glaubst du jetzt endlich den richtigen zu verkündigen!

GEORG noch immer wachsend. Als Letzter ... und wenn ihrer auch noch nicht wert und würdig ... als Letzter einer Reihe der erlauchtesten und selbstlosesten Geister! Ja! Den Sessel lassend und beiden den Rücken drehend; wieder nach links.

DUFROY unwillkürlich sein ergrautes Haupt schüttelnd. Beneidenswerte Zuversicht!

GEORG sofort, höhnisch, mit einem Ruck nach ihm zurückgedreht; aggressiv-feindselig; fast verächtlich. Beneidenswerter jedenfalls, als die »männliche Entsagung«, mit der du dich aus unserm alten, ehrwürdigen, unleugbaren »Ignoramus«, »Wir wissen es nicht«, bis zu diesem neuen, an- und vorgeblich noch selbstbescheidneren, in Wahrheit und Wirklichkeit aber blasphemischen, hoffärtigen, hochmütigen »Ignorabimus«, »Wir werden es nie wissen«, aufgeschwungen hast ...

DUFROY mit jetzt »schnellender Zornader«; in seinem Satz, den er ihm unwillig unterbrochen hat, sich schnell steigernd, weiter. Und das, trotz deiner, wie mir ernstlich vorkommen will, im Moment noch ungleich hoffärtigeren Gemütsverfassung, ganz sicher und gewiß auch du nochmal ... Ganz nahes, schnell und mehrfach scheußlichst aufschnarrendes Auto.

GEORG ausbrechend-wuchtigst. Lieber krepieren und ein verfaulender Hund sein ...

MARIANNE fast angstvoll. Georg!

GEORG von ihrem erschreckten Ausruf kaum unterbrochen. Als von dieser feigsten, waschlappigsten und ruchlos oberflächlichsten ...

DUFROY vor seinem fanatischen »Radikalismus« gradezu wie entsetzt. »Ru ...«

GEORG verbissen sofort zurückhakend und in letzter, wütendster Steigrung. Ruchlos oberflächlichsten aller sogenannten »Weltanschauungen« je wie der auch nur das kärglichste, verschimmeltste Stückchen Ideen- oder Gedankenbrot beziehn!

DUFROY sich bezwingend und seinen ganzen Grimm, als wäre ihm dieser in die Kehle geraten, in sich runterschluckend. Hmhm!

GEORG mit nochmaligem Paukenschlag; wie ein Tier im Käfig wieder auf und ab. Beziehn ... oder beziehn müssen![363]

DUFROY der sich mit aller Kraft und Gewalt wieder gefaßt hat; dasselbe Auto; bereits fern. Dann wünsche ich dir ... und zwar von Herzen ...

GEORG kurz; brüsk; ohne sich nach ihm auch nur umzudrehn. Danke! ...

DUFROY nach einer kleinen Pause; zögernd vor sich hin. Hm! ... Ja! Und ... e ... Zu Marianne rüber; veränderter Tonfall. was ich dir noch sagen wollte! Ich habe Onkel Ludwig ... Zwar noch etwas stockend, aber doch mehr und mehr wieder »Herr der Situation«. in letzter Zeit wiederholt ... und auch erst heute morgen wieder ... aus meinem Gartenfenster gesehn! Er scheint mir doch kränker, als er es euch in seinem Eigensinn ... Leise, wehmütige Vogellaute.

MARIANNE in seine jetzt unwillkürlich wie etwas abwartende Atempause; ganz seiner »Diagnose«. Die böse Befürchtung ...

GEORG ohne sich in seiner Promenade dadurch aufhalten zu lassen. Galle! Beginnender schwerster Ikterus! Lebenslänglicher Ärger, der nach innen geschlagen!

DUFROY zu Marianne; ohne auf ihn, scheinbar, zu achten. Sein Vater ... starb mit neunundsechzig an Leberkrebs! Könntest du ihn nicht bewegen, daß er sich mal schließlich ... von mir untersuchen ließe?

MARIANNE ganz erstaunt; als hätte sie eine solche Frage von ihm überhaupt gar nicht für möglich gehalten. Onkel ... Ludwig?

GEORG einen Augenblick stehngeblieben; zu Dufroy rüber; durch die von diesem in die Luft gemalte Perspektive fast wie grimmig belustigt. Dieser durchtriebene alte Satan, der dich damals in seinem Hospiz ...?

DUFROY durch seinen »gelaunten Sarkasmus« nicht gerade angenehm berührt. Nachdem Großmutter doch nun damals gewünscht hatte, daß ich nach seinem derzeitigen Aufenthaltsort amtlich diskrete Ermittlungen und Erkundigungen anstellen ließ, und die Rückkunft meines Bruders, zu meiner eignen, außerordentlichen Überraschung, mir dann bekannt geworden war, war es doch wohl nur selbstverständlich ...

GEORG »grausam- unbarmherzig«; wieder auf und ab. Diese obskure, christliche Herberge in der Naunynstraße und der Wirkliche Herr Geheime Oberregierungsrat, Exzellenz, de- und wehmütigst[364] Audienz nachsuchend, um von seiner Zerlumptheit, dem heimgekehrten Dulder Odysseus, Herrn Doktor Ludwig Adrian Brodersen ... Kleine, »wohlgezielte« Kunstpause. nicht vorgelassen und empfangen zu werden! Tableau!!

DUFROY dem alle diese Worte, wie ebenso viele Dolche, »mitten durch die Seele« gegangen waren. Es war mir ja gewiß ... schmerzlich und ... schließlich auch allerdings etwas peinlich, aber ... Abbrechend; zu Marianne; vorsichtig tastend. Hat er sich mal ... über seine Motive geäußert? Da er aus ihrer unsicher ausweichenden Haltung unbedingt den Schluß ziehen muß, daß Onkel Ludwig dies irgendwie getan. Über den Grund seines Grolls? ... Jetzt mit einem halben Blick auch noch nach Georg rüber. Es muß euch doch auffallen, daß er noch nach so viel Jahren ...

GEORG der, ohne nach ihm hinzusehn, schon rein aus seinem etwas zögernd-veränderten Tonfall, diesen Blick »gefühlt« hat; versteckt-spitz. Meinst du?

DUFROY zu Marianne; irritiert-indezis fragender Nasallaut. N?

MARIANNE die nicht recht weiß, wie sie, namentlich in Gegenwart Georgs, in diesem Moment sich aus der Affäre ziehn soll. Seine Anspielungen ... sind so merkwürdig, seine Andeutungen ... so dunkel, daß ich ...

GEORG der sofort »die Ohren gespitzt« hat; stehngeblieben; zu Marianne rüber. »Daß du ...?

DUFROY zu Marianne. Nun, es ... Beruhigende, ablenkende Geste. wird sich ja vielleicht ... schon noch alles ...

GEORG sarkastisch-bitter. Eine rührende Gutgläubigkeit und ein Optimismus ...

DUFROY einen kurzen Moment sich gegen ihn zur Wehr setzend und sich verteidigend. Mit dem ich in meinem Leben ... Vor seinem höhnischen Blick abbrechend; stockend. Übrigens ... ehe ich ... jetzt deine »gastliche Schwelle« ...

GEORG kurz. Bitte?

DUFROY Ton jetzt fest. Eine kleine Anfrage! ... Stimmfall noch verstärkt. Eine offne, ehrliche Anfrage!

GEORG scheinbar ganz erstaunt-überrascht. Eine ... »Anfrage?«

DUFROY so schwer, ja so fast bitter diese Frage ihm in diesem Augenblick auch fällt. Was hast du gegen mich ... persönlich?[365]

GEORG ausweichend; als verstünde er ihn gar nicht. Ich?

DUFROY noch gesteigerter als vorhin; jeder Iktus betont. Eine Animosität, die ich mir durch dein ... du verzeihst ... durch dein Unglück allein ... nicht erklären kann!

GEORG dem dieses direkte »Gestelltsein«, namentlich aber und vor allem auch in Gegenwart Mariannes, nun denn doch etwas unbehaglich und peinlich zu werden beginnt. Lieber Schwiegervater ...

MARIANNE ihm sofort wieder entgegenkommend; Geste. Wenn du wünschst ...

GEORG der sich dadurch nur noch mehr und erst recht »in die Ecke gedrückt« vorkommt; scharf. Ich wünsche gar nichts, sondern ziehe vor ... Unwillkürlich, wie für seine Worte nach einer Rechtfertigung und Stütze suchend, die Augen einen Moment lang nach seinem Manuskript hin. diese Interpellation, auf die ich im Augenblick nicht recht gefaßt war ... Abbrechend; Pferdegetrappel.

DUFROY achselzuckend; eine kleine Pieke sich nun ebenfalls nicht versagen könnend. Sollte es dir lieber sein, sie mir erst nach Genuß ... deines unsterblichen Meisterwerks zu beantworten, so ...

GEORG ironisch-dankbar; als hätte er ihm damit einen allergrößten Gefallen erwiesen; aber dabei doch, unwillkürlich, etwas aufatmend. Du nimmst mir einen »Stein vom Herzen«!

DUFROY das Manuskript jetzt an sich nehmend, tadellos »höflich«. Was mir stets ... Sich unterbrechend und zu Marianne rüber; heimlicher Beziehungsfaden zum Schluß der voraufgegangenen Szene zurück. Also, liebes Kind ... du läßt dich mal bald wieder ...

GEORG hellhörig-bissig; ihm seinen Satz vollendend; wieder auf und ab. Bei deiner Großmutter sehn!

MARIANNE zu ihrem Vater; Georg gar nicht mehr anblickend. Gewiß!

DUFROY beeilt-schnell. Ja! Darum möchte ich dich doch ... Nochmal der diesmal noch stärker geknüpfte »Beziehungsfaden«. recht sehr bitten!

GEORG noch unterdrückt heftiger als vorhin; für das von ihm aufgefangne seelische Marconitelegramm mit einem ebensolchen eignen quittierend, von dem er um so befriedigter ist, als er[366] ganz genau fühlt und weiß, daß es von den beiden bis ins letzte unmöglich dechiffriert werden kann; wieder ohne sich in seinem Gang dadurch aufhalten zu lassen. Ich werde mich bemühn, dafür Sorge zu tragen, daß sies nicht vergißt! Dufroy aufhorchend.

MARIANNE ihrem Gefühl plötzlich wieder folgend und ihm den Mund zum Kusse bietend. Adieu, Papa!

DUFROY nachdem er ihr nur leicht die Stirn geküßt. Adieu, Liebling! ... Bereits zurückgewandt; wie nur so leicht nebenbei. Über die andere Sache sprechen wir dann noch!

MARIANNE nickend. ...

DUFROY zu Georg rüber; »versöhnlich«. Nicht wahr? Auf morgen!

GEORG stehngeblieben; finster; ohne sich von seinem Platz zu rühren. Auf morgen!

DUFROY noch einen kurzen Moment, bevor er geht, zögernd, dann, wie in der Absicht, sich und die beiden möglichst zu beruhigen. Es ... wird ja schon so schlimm nicht sein! Durch die Mitteltür in den Garten ab; in diesem angelangt, sich nochmals halb umdrehend und beiden mit der erhobnen Linken freundlich-liebenswürdig zurückwinkend; dann, hinterm Springbrunnen, zwischen dem hohen Taxushalbrund verschwindend.

GEORG der so lange gewartet hat; nachdem er inzwischen zu Marianne, die ihrem Vater wortlos nachgesehn, einigemal nervös-argwöhnisch rübergeblickt hat. Diese überströmenden, überflüssigen Zärtlichkeiten ...?! ... Da Marianne ihm nicht antwortet, sondern sich nur auf die Unterlippe beißt, sie jetzt direkt, sehr bestimmt und energisch fragend. Was war das für eine »andere Sache«, über die er dann ... noch mit dir »sprechen« wollte?

MARIANNE ausweichend; mit der Linken die Lehne des Sessels glättend. Es ist für dich wirklich ... von keinem Belang.

GEORG mit unterdrückt steigender Heftigkeit. Ist er besorgt für deine Zukunft gewesen? Paßt es ihm nicht, daß du hier den Haushalt führst? Oder wünscht er vielleicht am Ende gar ... daß du dich nach drei Jahren »glücklicher Muße« ... alte Herren sind oft ab und zu wunderlich ... jetzt unter seinem väterlichen Patronat als erste Berliner Privatdozentin etablierst?

MARIANNE nervös-gequält; von ihm abgewandt. Frag mich nichts ...[367]

GEORG durch ihr Ausweichen gereizt; in seinem Teil des Raums wieder unstet auf und ab; nach einer kleinen Pause, schroff-abgehackt, mit plötzlich durchbrechendem Entschluß. Ich werde seine Rückkunft ... morgen vormittag gar nicht erst abwarten!

MARIANNE ganz bestürzt-überrascht. Du willst ... weg?

GEORG mühsam; sich diese »Konfession« wie abringend. Das einzge ... was mich in diesem Hause ... jetzt nur noch hält ... ist unsre Sitzung! ...

MARIANNE nach einer erneuten kleinen Pause; fernes Auto; stockend. Hast du ... diese Idee ...

GEORG schnell; scharf; den von ihr unausgesprochen Schluß ihrer Frage als Antwort. Schon seit langem!

MARIANNE nachdem sie, kurz, abermals gestutzt hat; als befürchte sie bereits mit Bestimmtheit die betreffende Bestätigung. Und du würdest ... dann am Ende gar noch heute ...?

GEORG hart; noch immer ohne sie dabei anzublicken; mit einer geheimen Wut auf sich selbst. Soll ich mich etwa mit deinem Vater, nachdem ich eben die Riesendummheit besessen, ihm mein Manuskript ...

MARIANNE die sich inzwischen wieder gefaßt hat. Eine mündliche Aussprache ...

GEORG sie unterbrechend; wie um mit aller Gewalt sich schon jetzt darauf festzunageln. Ich würde mich ... zu irgendeiner Debatte über diese Dinge ... unter keinen Umständen ...

MARIANNE mit dem geheimen Bestreben, ihn, falls das noch angängig, von seinem gefaßten Entschluß abzubringen; in ihrem Satz fort und zu Ende. Eine solche ... auch für mich und mein Empfinden gänzlich überflüssige Diskussion ... brauchte ja gar nicht Platz zu greifen!

GEORG einen Augenblick stehngeblieben und zu ihr rüber. Wo wir mit ihm ... Kurze, unwillige Kopfbewegung nach dem Garten hin. beinahe unter dem gleichen Dache wohnen?

MARIANNE Geste; unterdrückt-ungeduldig; Tonfall fast erstaunt. Ihr habt euch so gut ... wie die ganzen Jahre nicht gesehn ... es würde sich also einrichten lassen ...

GEORG sich hastig wieder in Bewegung setzend. Und selbst wenn, wenn, wenn! Hast du geglaubt, mutest du mir zu, ich könnte nach[368] eröffnetem Kampf, wo ich mir doch ganz genau sagen muß, daß an der Spitze meiner erbittertsten Widersacher hier in Berlin ... niemand anders ... als eben grade dein Vater stehn wird ...

MARIANNE die ihn nicht ausreden läßt; noch entschiedner als vorhin. Weder sein Amt ... noch seine sonstige ... wissenschaftliche Stellungnahme und Tätigkeit ... verpflichtet ihn, gegen dich öffentlich ...

GEORG »alles ablehnend«; erst ruckweis und stockend, dann ausbrechend und zuletzt in konzentriertester zugleich Qual und Energie. Ich kann ... und will mein Leben ... aus dem sich jetzt ... vielleicht doch noch wieder ... etwas schaffen und gestalten läßt ... nicht, wie ein gefangnes Tier, in diesem entseuchen Käfig verbringen! Entsprechender »Blick«. Zwischen diesen Wänden, wo mich alles ... aber auch alles ... an Stunden und Dinge erinnert ... auf die immer wieder zurückgestoßen zu werden, ich einfach nicht mehr ertragen kann!

MARIANNE die ihm stumm nachgeblickt hat; sich ihre Worte jetzt fast wie aus dem »Herzen« reißend. Wenn du allerdings ... das Gefühl hast ... daß deines Bleibens hier nicht mehr ist ... geh!

GEORG einen Augenblick wieder stehngeblieben; nach ihr zurückgedreht; in seinem Innern, einen Moment, fast schon wieder wie wankend; maskiert höhnisch. Und du? ... Wirst dir eine weiße Schürze umbinden und in irgendeinem Laboratorium als Assistentin hospitieren? ... Oder warten, bis Onkel Ludwig dich in sein phantastisches Millionenkloster als lebenslängliche Äbtissin einsetzt?

MARIANNE die ihn nicht anblickt; letzte, mit aller Gewalt zurückgehaltne Bitterkeit und Trauer. Um mich brauchst du dich nicht ... zu bekümmern! ...

GEORG der seinen Gang wieder fortgesetzt hat; nach einer kleinen Pause; veränderter Tonfall. Du hättest Onkel Ludwig ...nachdem er die noblen, wiederholten Anerbietungen deines Vaters so brüsk abgelehnt hatte ... zumal ihr euch damals noch gar nicht bekannt wart ... nicht auf offner Straße ansprechen ...und zu uns ins Haus fordern sollen!

MARIANNE über diese plötzliche, nachträgliche Ungerechtigkeit fast empört.[369] Nachdem er jeden Tag ... um dieselbe Stunde ... Leichte Kopfbewegung nach dem Zuschauerraum. sich uns hier gegenüber aufgestellt ... und sehnsüchtig nach seinem alten Giebelfenster geguckt hatte ... Vergnügter Zaunkönig. hinter dem mal sein Jungensparadies gelegen? ... Da hätte ich ja ein Herz aus Stein haben müssen!

GEORG als hätte sie ihre Replik überhaupt gar nicht gesprochen; in der von ihm nun einmal gefaßten »Sündenbock«-idee zäh weiter. Nur ihm ... verdanken wir jetzt diese Trennung ... Auf eine unwillkürlich Einspruch erhebende Geste von ihr; womöglich noch verbissen-erbitterter. jawohl, diese Trennung, an die keiner von uns ... weder du, noch ich ... trotz allem und allem, je gedacht haben würde ... wenn nicht seine alberne, herausfordernde, kopfverdrehende Transzendentalistik ... Radfahrer; Auto.

MARIANNE ihn unterbrechend; »stark«. Es ist besser ... unsre Trennung ... erfolgt schon jetzt ... und in dieser Weise ...

GEORG in ihrem Satz weiter; sich dadurch mit einmal ganz auf ihre Seite stellend. Als daß sie durch das ... was hinter uns liegt ...

MARIANNE ihren Satz schließend. Vielleicht ... Letzte, mühsam verhaltne Kraft. sowieso erfolgen müßte!

GEORG mit unwillkürlich erhobner Stimme; zornig, grollend, grimmig; zum Schluß fast knirschend vor sich hin. »Noch drei Jahre!« Dieser Zeitraum war uns gesteckt, und heute abend ... elf Uhr neunundfünfzig, Kurzer Kopfruck nach der Tür links. ich hatte für alle Fälle bereits nachgesehn, fährt mein Zug ... fast pünktlich mit dem Glockenschlag, ist diese Frist um!

MARIANNE die ganz erstaunt aufgehorcht hat. So ... hast du dir jene Prophezeiung ...

GEORG noch präzisierend-unterstrichner. So ...wenn auch erst in diesen letzten zwei Wochen ... habe ich sie mir ausgedeutet ... und so ... Letzte, grimmigste Steigrung. jawohl ... geht sie jetzt in Erfüllung!

MARIANNE durch diese vehemente Sicherheit und Bestimmtheit in ihrer furchtbaren eignen Ausdeutung einen Augenblick fast schwankend. Es ist ... möglich ... daß du ... Dumpfes, wie klagendes Auto; Wolkenschatten.[370]

GEORG plötzlich wieder stehngeblieben; im Vordergrund links; »alles« in sich »sammelnd«; mit steigender, wachsender Erregung, daß jeder Nerv nur so an ihm vibriert und jedes Wort fast in allen Nuancen und Tinten schwimmt, zu ihr rüber. Ich habe dir nie drüber ... ein Wort gesagt! ... Aber als du ... an jenem Abend damals ... dem verlassensten ... den ich in meinem Leben ... bis heute »gefeiert« ... nah schon ... dicht nah schon jenem gewissen Punkt ... in den mehr oder minder ... minder oder mehr ... jeder mal starrt ... Posten für Posten ... gegeneinander ausspielend, abwägend und aufrechnend ... laufendes Girokonto bei unserm »lieben Vater im Himmel«, ausgestellte, noch nicht eingelöste Wechsel bei seinem alten, eingefleischten Widerpart, »Wert in mir selbst« ... als du damals ... hier eintratst ... die Lichter um die beiden Bahren brannten ... aus dem Garten ... Abbrechend und von seiner Erinnerung einen Augenblick überwältigt; dann sich sofort wieder aufraffend und von neuem, noch gesteigerter, nach der Tür rechts. du kamst durch jene Tür! ... Und obgleich ichs ja gewußt! ... die ganzen langen Jahre über gewußt!! ... aber als du so dastandst ... unbeweglich ... und mich ansahst ... mich ... durchschauderte nur ein Empfinden ... nur ein Gefühl ... die wieder lebendig gewordne Tote! ... Und diesen Eindruck ... diesen furchtbaren Eindruck ... Seine Stimme versagt ihm, nur mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft ist er imstande, seinen Satz zu schließen. bin ich seitdem ... nie wieder losgeworden! ...

MARIANNE nach einer kleinen Pause; verschleierter Tonfall; leis stockend; das letzte Wort fast klagend-vorwurfsvoll; wieder Sonne. Ich denke ... du hast Mariette ... geliebt!

GEORG in seinem Gang jetzt wieder weiter; noch immer in elementarster, innerer Erregung, wenn auch, soweit als möglich, diese nach außen bereits etwas gedämpft. Ja! ... Aber unter ihrer jähen, heftigen Leidenschaftlichkeit ... unter ihren unberechenbaren, maßlosen Gemütsausbrüchen ... unter ihrem alles um sich erstickenden, zerstörenden und verwüstenden Temperament ... habe ich oft ... auf das qualvollste gelitten! ...

MARIANNE die ihm nicht sofort geantwortet hat; sich wie erschöpft in ihren Sessel setzend; sie stützt den Kopf in die Linke und starrt,[371] nachdenklich nickend, vor sich hin. Ihr wart ... beide ... nicht glücklich.

GEORG verhalten-leidenschaftlich. Zwei Schwestern ... zwei Zwillingsschwestern ... die sich so glichen ... daß die eine das leibhafte, absolut vollkommne, in nichts unterscheidbare, sinnverwirrende Spiegelbild der andern war ... und diese fundamentale ... gradezu kaum glaubliche, widerspruchsvolle Divergenz der Charaktere! Höhnisch tutendes Auto.

MARIANNE ähnlich wie vorhin. Und doch hatten sich Schwestern ... bis das Leben sie dann ... zum erstenmal, trennte ... Eine kleine Grasmücke schwätzt, piepst und zwitschert. nie inniger liebgehabt ... und nie ... besser verstanden!

GEORG fast wider Willen und wie halb zu sich selbst. Es war ein seltsamstes, sonderbarstes Verhängnis, daß deine Großmutter von euch beiden grade dich damals zu ihrer Reisebegleiterin hatte auswählen müssen, wo ihr doch sonst ... eigentlich grade Mariette ... Abbrechend und sofort wieder weiter. Oder wars, weil du als die Ältere ... soweit davon überhaupt bei euch die Rede sein konnte ...

MARIANNE in melancholisch-schmerzlicher Rückerinnrung, mit einem leisen Einschlag von leichtem, nachträglichem Selbstspott. Wir waren junge, dumme Dinger und hatten uns, ohne es zu ahnen und zu wissen, unsre Lebenslose ... durch zwei Zündhölzer bestimmt! Hätte ich, statt des linken, das rechte gezogen ...

GEORG einen Moment stehngeblieben; den Kopf mit geschloßnen Augen etwas zurück, beide Hände quer über die Schläfen weg vor der Stirn. Wenn man sich das alles so ... Zurückdenkt ...! Amsel.

MARIANNE von seinem Empfinden angesteckt; durch das allmähliche Wiederauftauchen ihrer Erinnrungsbilder immer belebter. Wir hatten uns bis dahin ... auch in Baden-Baden ... in Großmutters üblichem Sommerdomizil ... immer nur beide zusammen gezeigt! Wir wollten in unserm kindischen Übermut doch mal »sehn«, wie das Abenteuer »auslaufen« würde, sobald wir uns ... Pferdegetrappel. und richtig! Kaum war ich fort ... so war Mariettes Unglück ... bereits geschehn!

GEORG jetzt auch durch den andern Teil des Raums; stärkst und temperamentvollst einsetzend. Ich lebe den Tag ... noch wie heute![372] Ich hatte bei deinem Vater, der mich aus meiner stillen, Heidelberger Verborgenheit ... zu einer ersten, vertraulichen Vorbesprechung, in liebenswürdigster Weise zu sich nach Berlin gebeten hatte ... eben meine Antrittsvisite gemacht, ihr Ergebnis war, wie es schien, ein ihn aufs höchste zufriedenstellendes gewesen ... er hatte mich ... nicht ohne einen gewissen, verzeihlichen, geheimen Stolz auf dies Geste; beide Arme unwillkürlich ausgebreitet; Stimme wärmster Klang. unvergleichbare Besitztum, dies köstliche, wie vom Himmel gefallne, versprengte Stückchen Dorado, Handbewegung nach dem Hintergrund; »Amsel, Drossel, Fink und Star«. noch in diesen alten, prachtvollen Garten geführt ... Noch verstärkt. wir waren durch die lange, dunkle Laubenbogenallee, über die kleine Sphinxbrücke weg, in angeregt heiterstem Gespräch, grade bis zu dem großen, offnen Taxusrondell um den Springbrunnen gelangt ... Die »Vogelschau« noch lauter; einen Moment unwillkürlich stehngeblieben. als deine Schwester ... blühend und herrlich ... ein wunderbarstes Geschöpf Gottes ... aus diesem verwunschnen Haus trat! ... Schon längst wieder weiter. Aus dem beabsichtigten Besuch von einer halben Stunde wurden zwei Wochen, mein überraschtes Entzücken über dies ganze, halb verschollne, unvermutete Buenretiro und Tuskulum hier, das ich in meiner hellen Freude an jedem Raum, an jeder neuen Einzelheit einfältig und unvorsichtig genug war vor beiden zu äußern, hatte deinen Vater sofort veranlaßt, mich in seiner urbanen, gastlichen Art, gegen die es kein Sträuben gab, in diese stille, verlaßne, mitten im brandenden Treiben und Trubel der Großstadt wie weltentrückte Philosopheneinsiedelei zu laden, in der damals keine Katze mehr hauste; Tage, Stunden, Augenblicke, in die es jetzt für mich grausam wäre, mich zurückzuerinnern, folgten ... und als ich mich dann schließlich ... aus diesem Märchen wieder losriß ... in dem kaum ein Schatten das Glück zweier Menschen, deren letzte Interessen so wesensungleich verschiedne waren, getrübt hatte ... wußte ich: Du bist gefangen und gefesselt! Du bist gebunden und verstrickt! Dir hilft jetzt keine Flucht mehr! Ob du willst oder nicht ... ob du deinen Lehrstuhl erhältst oder ob deine Bewerbung um ihn eine vergebliche[373] sein wird; du kehrst wieder! ... Und ich kehrte wieder! Schon nach fünf Tagen!

MARIANNE in jene »ferne Zeit« ganz versunken. Ich habe dir nie ... Mariettes Briefe gezeigt! ... Auto. Aber schon aus dem zweiten und dritten wurde mir klar! ... Sie war damals sofort ... genau so dir verfallen gewesen ... wie du ihr verfallen gewesen warst! ... Und als du dann plötzlich ... vielleicht ... oder vielmehr wahrscheinlich ... um das, was dir damals als deine »Freiheit« und »Selbstbestimmung« vorschwebte, noch im letzten Augenblick zu retten ...

GEORG sie unterbrechend; mit ihren betreffenden Ausdrücken nicht ganz einverstanden. »Freiheit« und »Selbstbestimmung«, ich ... weiß nicht! Mir kommt vor, als ob ich schon damals ... in meinem tiefsten Innern ...

MARIANNE durch die Unsicherheit seiner Parenthese in der Fortsetzung ihrer Schildrung nicht beeinträchtigt; womöglich noch lebhafter. Jedenfalls, als du dann ... ohne auch nur den geringsten Abschied zu nehmen ... von ihr gegangen warst ... die Verzweiflung! ... Wir kamen ... so schnell es uns überhaupt möglich war, zurück ... und noch am Abend desselben Tages ...

GEORG herb, schnell; ihren betreffenden Erinnrungsabschnitt damit schließend. War dann auch dein ... und mein Unglück ... besiegelt!

MARIANNE die Linke wieder vor der Stirn; ihn wie fragend dabei anblickend. Mir ist es noch immer ... unerklärlich, wie du an jenem Abend ... Sanft lockender Hänfling.

GEORG den Rest nicht erst abwartend; in seinem Selbstbericht, sich schnell wieder steigernd, weiter. Ich war auf nur vierundzwanzig Stunden, bereits sehr spät am Nachmittag, wieder auf dem Anhalter Bahnhof eingetroffen, durfte selbstverständlich nicht daran denken, vor dem nächsten Morgen früh bei deinem Vater vorzusprechen, hatte trotzdem, da ich es in meinem Hotel nicht aushielt und das ganze übrige Berlin mir natürlich mehr als gleichgültig war, sofort den Weg nach diesem Viertel eingeschlagen und irrte nun ... das Bild ... Mariettes im Herzen ... im letzten, roten Abendschein ... ruhelos hier herum, wie in irgendeiner ... Hoffnung oder Erwartung ... ich wußte es selber[374] nicht! ... Da sehe ich euer großes Gartentor, das nach dem Kanal zu sonst geschlossen war, zufällig weit auf ... fühle das wie einen Schicksalswink ... trete ein ... Wieder stehngeblieben und ihr gegenüber; langsam, fast jede Silbe betont. und stehe mit einemmal ... ohne mir dessen bewußt zu werden ... vor dir ... statt ... vor Mariette! ... Radfahrer.

MARIANNE mit mühsam verhaltner Erregung;von ihm abgewandt; die Augen geschlossen. Du hättest ... die du für Mariette hieltst ... nicht gleich in deine Arme schließen sollen! ...

GEORG nach einer kurzen Pause; mit arbeitender Brust; noch stockend-wuchtiger; als hätte er seine Frage schon seit Jahr und Tag an sie stellen wollen. Warum hast du mir ... über meinen unglückseligen Irrtum ... nicht sofort damals die Augen geöffnet?

MARIANNE aufgestanden; unwillkürlich einen Schritt zurück; aus ihrer Liebe, so wenig sie diese vor ihm verbergen kann, lodert es eine Sekunde lang fast wie Haß; draußen plötzlich völlige Ruhe. Und du? ... Wenn ich diese Fassungskraft ... unter deinem Ungestüm ... besessen hätte? ... Du ... und Mariette? ... Mariette, deren Briefe schon damals ... von bereits beginnender versteckter Eifersucht auf mich, ich möchte fast sagen ... förmlich getropft hatten? ... Die mich flehentlich gebeten, doch ja nicht eine Sekunde früher aufzutauchen, als bis alles zwischen euch beiden glücklich im reinen und bis in die letzten, üblichen Formalitäten erledigt war? ... Die weder dir noch mir, einen solchen »Zufall«, wenn wir sie darüber aufgeklärt hätten, jemals »verziehen« haben würde? Auto.

GEORG der ihren Blicken so lange standgehalten; aufs heftigste mit sich unzufrieden; wieder auf und ab. Eine solche »Aufklärung« wäre nicht nötig gewesen! Es hätte genügt, wenn du mir wenigstens nachträglich ...

MARIANNE ihn unterbrechend; »scharf«. Unter welcher Form?! ... Da wir uns doch ... nach jenem Abend ...?

GEORG ungehalten-mißvergnügt; in seinem Tempo noch beschleunigter. Sieben Zeilen hätten mehr als auskömmlich hingereicht, um mich vor einer gefährlichen, unbewußten, arglosen Ausplauderei und Redseligkeit zu behüten, von der du doch unbedingt hättest sagen müssen, daß ich ihr über kurz oder lang ...[375]

MARIANNE abweisend; aufrecht; über seine »Zumutung« geradezu entrüstet. Mit einem solchen Geheimnis ... zwischen dir und mir ... hätte ich es je wieder wagen sollen, meiner Schwester unter die Augen zu treten?

GEORG schnell; höhnisch; fast als freue es ihn, ihr zu allem Bisherigen nun auch noch das zu versetzen. Blieb es eins weniger, wenn dus allein trugst?

MARIANNE mit aller Gewalt an sich haltend; »stolz«; aus ihrem Tonfall klingt es fast wie »Verachtung«. Ich möchte dir auf diese Frage ... Da er auf diese »Nuance« hin unwillkürlich stehngeblieben ist und nun, wie fragend, zu ihr rüberblickt; unterstrichen-langsam; den Kopf von ihm abwendend und nach dem Garten zu. keine Antwort erteilen ...

GEORG nachdem er sich sofort wieder in Bewegung gesetzt; erneut kleine Pause; ferne Stimmen, Pferdegetrappel; abermals veränderter Tonfall; »sachlich«. Mariette hatte mir erzählt ... daß ihr als Kinder ... auf einen Einfall eurer Großmutter ... damit man euch überhaupt voneinander unterscheiden konnte ... daß du um den Hals ein himmelblaues Bändchen hättest tragen müssen ... sie aber ein rosa! Als ihr dann konfirmiert wurdet und eure erste Tanzstunde besuchtet ... wurden diese Bändchen durch zwei Goldkettchen ersetzt. Beide ganz gleichartig, nur daß du deins ums rechte Handgelenk trugst, Mariette ihrs aber ums linke!

MARIANNE die ihn »verstanden«; fast triumphierend. Und da ich also ... wie du mir jetzt bestätigst ... an jenem bedauerlichen Abend durchaus nur mit Recht angenommen hatte, dir würde dies Unterscheidungsmerkmal zwischen uns ... das einzge, sehr wohl bekannt sein ... habe ich das Kettchen von meinem rechten Arm, noch bevor es an mir zum Verräter werden konnte, heimlich fallen lassen ... und du hast es mir ... kniend zugehakt um den linken!

GEORG wie um alle »Schuld« von sich »abzuwälzen«; ihre Blicke vermeidend. Hätte ich ... geahnt, daß du nicht Mariette warst ...

MARIANNE fest. Was du mir auch vorwirfst ...

GEORG unwirsch. »Vorwirfst!«

MARIANNE in ihrer Verteidigung, von seinem Zwischenruf kaum unterbrochen, weiter. Mein Gewissen ist rein! Die Eingebung, unter[376] der ich in jener Sekunde ... fast automatisch blitzschnell gehandelt hatte ...

GEORG durch die Zähne. »Fast« ...

MARIANNE wie vorhin; nur noch gesteigert. War eine halb willenlos unbewußte gewesen ... und ich sage mir noch heute ...

GEORG mit dessen »Fassung« es jetzt aus ist; ihr wieder gegenüber; wenn auch fast durch die halbe Bühne von ihr getrennt. War es auch »halb willenlos unbewußt« von dir gewesen, daß du deine so »fast automatisch blitzschnell« übernommene Rolle, vielleicht gut eine dreiviertel Stunde lang mit dem Aufwand und Aufgebot der denkbar ingeniös-raffiniertesten Geschicklichkeit und Verstellungskraft weiter und zu Ende spieltest? Daß du mich, schmeichlerisch-zärtlichst, um nicht zu sagen geradezu verführerischst, mit allen Mitteln listigster Beredsamkeit, daran hindertest, sofort und auf der Stelle, wie mir dies damals als das einzig Natürliche und Selbstverständliche erschien, vor deinen Vater zu treten, und daß du mir beim Abschied, zum Schluß, ich verstand dich damals nicht, das bindende Wort, das feste Gelöbnis, das heiligste Versprechen abnahmst, zu niemand von unsrer Begegnung ...

MARIANNE seinen zornsprühenden Blicken standhaltend; nicht wankend und nicht weichend. »Willenlos unbewußt«, oder meinetwegen auch das genaue Gegenteil ... hätte ich damals ...

GEORG sie unterbrechend; mit seiner nachträglichen »Liquidation« noch nicht fertig. Deine Berechnung ... deine mehr als gescheit-kluge Voraussicht ... daß ich bereits an jenem nächsten Tage ... in fast permanenter Gegenwart entweder deines Vaters oder deiner Großmutter ...

MARIANNE mit verstecktem Triumph; sich »sanft«- höhnisch rächend. Oder aller beider ...

GEORG mit dadurch nur um so verdoppeltem Ingrimm in seiner Abrechnung weiter. Oder aller beider ... daß ich dann also aber auch ganz unmöglich ... und zwar auf Grund meines dir gegebenen Worts und Versprechens ... deine damals »in allen Himmeln schwebende« Schwester ... durch irgendeine, und sei es nur die geringste Andeutung, die an den voraufgegangenen Abend rührte ... jäh auf diesen fragwürdigen, zweifelhaften,[377] an seinen beiden Polen flach und platt gedrückten »Sonnensatelliten« wieder runter- und zurückreißen würde ...

MARIANNE wie vorhin; seinen etwas länglich geratnen Zornausbruch schließend. War eine »rabiat richtige« gewesen!

GEORG der sich jetzt kaum noch in der Gewalt hat; in ohnmächtigstem Grimm; stärkst. Ich ... woll te ...

MARIANNE aufrecht; seinem Blick nicht ausweichend. Hätte ich damals anders gehandelt ... ich hätte Mariette ... unglücklich gemacht ...

GEORG heftig; jäh. Du hast sie unglücklich gemacht!

MARIANNE schwer; das letzte Wort will ihr kaum noch über die Lippen. Bin ich jetzt ... »glücklich«? ...

GEORG von neuem auf und ab; plötzlich; unvermittelt; beißendster, fast »giftiger« Sarkasmus. Ich vergegenwärtige mir das reizend rührende, liebliche Familienidyll nächsten Morgen um euern Frühstückstisch! Fernes, helles Hundegekläff. Die perplexe Miene deines Vaters, als er meinen Brief aufbrach, die einen Moment absolute Sprachlosigkeit Mariettchens ...

MARIANNE die ganz erstaunt zu ihm aufgeblickt hat. Hat dir ...?

GEORG kaum von ihr unterbrochen im selben Ton noch gesteigert weiter. Die natürlich den Braten, das heißt also den Zweck meines so offiziell und respektvoll bereits für zwei Stunden später gemeldeten Besuchs gleich roch, die strengen, melancholisch schwarzen Jettaugen ihrer Frau Großmama und deine wahrscheinlich sehr geschickt gespielte Überraschtheit, als wüßtest du von dem auf diese Weise so plötzlich und unvermutet angenehm wiederaufgetauchten Freier ...

MARIANNE ihn unterbrechend; sich unwillkürlich gegen ihn auflehnend. Ich ... konnte doch nicht ... erzählen ...

GEORG Hohn, Grimm, Schmerz, Selbsthaß, Verzweiflung. Nein! ... Leider nicht! ... Allerdings nicht! Autogeratter.

MARIANNE »überlegen«. Dann ist es mir ... aufrichtig ... Langgedehntes Hupensignal.

GEORG hart, scharf, schroff; in dem von ihm angeschlagnen Thema fortfahrend. Ich begreife und schätze vollkommen die Noblesse, aus der heraus du dich den Aufgeregten gegenüber erbotst, dich zugunsten deiner damals von dir über alles geliebten Schwester[378] für diesen einen Tag aus der Bildfläche eures Familienensembles vor mir auszulöschen! Ich verstehe und würdige genau und ebenso den überhasteten, vorsorglichen Feuereifer, mit dem eure Großmutter ...

MARIANNE schnell; abwehrend. »Großmutter!«

GEORG durch ihren unwilligen Zwischenruf kaum unterbrochen, in seinem Satz und in seiner Rage sofort weiter. Deinen durch nichts fundierten Vorschlag, kaum daß du ihn ausgesprochen hattest, auch bereits sofort prompt akzeptierte! Aber es will mir nicht in den Kopf, ich kapiere es absolut nicht, es ist mir völlig unverständlich, wie dein Vater ...

MARIANNE ganz erstaunt-überrascht. »Wie ...?«

GEORG wie vorhin; nur noch verstärkt. Wie dein Vater, dessen gesundes, natürliches Empfinden, dessen gerechtes Gefühl sich doch zunächst unwillkürlich und mit aller Energie gegen eine solche Familien- und Unterschlagungspolitik ... Auf eine betreffende, unwillige Geste von ihr; noch gesteigert. jawohl! Familien- und Unterschlagungspolitik, ich finde zu meinem Bedauern keinen andern Ausdruck, gesträubt hatte ...

MARIANNE ihn unterbrechend; fast verblüfft. Ist es ...

GEORG ihr sofort replizierend; Stimmfall unverlangsamt. Das und nichts anders ist es, jawohl, was mich von deinem Vater seit jenem ersten Abend, wo du hier eintratst ...

MARIANNE noch ganz »paff«. Also ... darum ... deshalb ...

GEORG der sie nicht ausreden läßt; was sie inzwischen erraten ihr bestätigend; noch immer im gleichen Tempo. Einzig und allein das und nichts andres ist es, was mich seitdem von ihm getrennt hat! Jawohl! Radfahrer.

MARIANNE protestierend. Nicht durch Mariette oder Großmutter ...

GEORG heftig; und noch immer sich steigernd. Ob durch Großmutter, Mariette oder dich ... durch keinerlei weibliche Überredungskünste hätte sich dein Vater ...

MARIANNE jetzt ganz für diesen eintretend. Du tust meinem Vater ... Sich unterbrechend. Selbst angenommen, einen Augenblick angenommen, ich wäre auf jene Idee ... für die mich die Schuld ... und die Verantwortung ganz ausschließlich und allein trifft, nie verfallen ... wie kannst du glauben ...[379]

GEORG der sie auch jetzt und diesmal wieder nicht ausreden läßt; in dem ihm peinlich-unbehaglichen Gefühl, mit allem, was er sagt und vorbringt, fortwährend und immer wieder wie gegen eine unsichtbare Mauer zu rennen. Auch ich ... bin beim besten Willen nicht imstande ... dir jetzt zu sagen und anzugeben, wie sich dann dadurch ... vielleicht alles, und zwar von Grund auf ... Jetzt auf einen Moment im Vordergrund rechts; abbrechend und wieder auf sein ursprüngliches Thema zurück; Marianne sich in den Sessel links setzend. Jedenfalls ... als dann aber später Mariette ... und zwar noch dazu in unsrer Hochzeitsnacht ... jene Szene im Garten ... an die ich sie in meiner vollständigen Ahnungslosigkeit ganz selbstverständlich glaubte erinnern zu dürfen ... nun doch und endlich erfuhr ... von dem Augenblick ... Ferne Autos. war der Friede zwischen uns aus!

MARIANNE stockend-ungeduldig; mit der Linken zuerst noch an den Rosen ihres Huts nestelnd, den sie bereits vorhin wieder auf den Tisch gelegt. Mariette hätte so gerecht ... und so verständig sein sollen ... Sich unterbrechend und sofort wieder von neuem. Statt mir noch nachträglich dafür zu danken ... statt anzuerkennen ... daß ich euch nie wieder in den Weg gekommen war ... daß ich mich im Gegenteil damals sofort von ihr mehr als hundert Meilen weit weg nach Genf aufgemacht hatte, ohne ihren zukünftigen »Mann« auch nur ein einziges Mal noch gesehn zu haben, ja, daß ich mich nicht einmal, wie doch allgemein erwartet, hatte zur Hochzeit blicken lassen ... statt mir für alles dies ... erkenntlich zu sein, überhäufte sie mich mit Vorwürfen, schrieb mir, als ob ich das größte Verbrechen an ihr begangen, und antwortete mir nicht mehr, als ich ihr in ruhigster und vernünftigster Weise ...

GEORG die trotz ihrer äußeren, nur scheinbaren Gefaßtheit doch wieder innerlich erregter Gewordne, während sie jetzt einen Augenblick zaudernd innehält, unterbrechend; noch immer auf und ab; jetzt mehr rechts. Ruhe und Vernunft, sooft ... und dann, allerdings, über alle Maßen ... Schmetternder Stieglitz. sie auch beglückend und lieb sein konnte, waren bei ihr leider nie ... Abbrechend und sofort wieder weiter. Deswegen schrieb ich dir ja auch damals gleich ... und suchte ihren entsetzlichen Absagebrief ... [380] Radfahrer; einen Moment an ihrem Tisch vorbei und in kurzer, noch nachträglich in ihm aufsteigender Wut und Empörung mit seinen Fingerknöcheln auf ihn draufschlagend. dessen Konzept sie mir ... extra auf meinen Schreibtisch gelegt hatte ... bei dir ... soweit dies ging ... abzuschwächen und ... zu entschuldgen!

MARIANNE ihm nachblickend; seine und ihre Schuld mit leisem, unbarmherzigem Hohn aufdeckend. Was du nie hättest tun sollen! ... Denn daraus entwickelte sich ... allmählich ... ein regelrechter, schriftlicher Gedankenaustausch ... der vor Mariette ... notwendig hatte geheim bleiben müssen!

GEORG mit dem halben Versuch, sich vor ihr zu verteidigen. Da du, entgegen dem ursprünglichen Wunsch deines Vaters ... dich hier in Berlin seinem Spezialfach zu widmen ... in Genf ... sofort umgeschlagen warst ... und statt Medizin Chemie studiertest ... hatten sich gewisse ... interessierende ... Anhalte ganz von selbst ergeben!

MARIANNE mit schmerzlich-bittrer, ihn in diesem Augenblick ebenso wie sich selbst anklagender Ironie. Und zwar um so mehr, als du dahinterkamst, daß meine Arbeiten, je eifriger ich fortschritt, in ihrem letzten Grunde eigentlich bloß noch deinen Untersuchungen dienten!

GEORG nervös-unbehaglich; sich immer mehr verwickelnd. Ich hätte auch sonst kaum gewußt, wie wir eine derartige Korrespondenz, die sich ohne einen solchen Berührungspunkt doch naturgemäß nie so gesteigert hätte, über einen Zeitraum ... von ganzen fünf Jahren hätten ausdehnen können! Pferdegetrappel.

MARIANNE auf seine Antwort, aber mit dem Bestreben, ihm dies möglichst nicht zu zeigen, schon im voraus lebhaft gespannt. Bist du bei Mariette ... und sei dies auch nur ein einziges Mal gewesen ... auf eine ähnliche Anteilnahme an deinem damaligen »Haupt- und Lebenswerk«, wie du es nanntest, gestoßen?

GEORG fast unwillig. Mariette! ... Wie konnte ich von einem Wesen, das in allem, was es anstellte, immer noch dreiviertel Kind geblieben war, von einem Weib ... das nichts als Weib war ... Sich unterbrechend und sich sofort selbst verbessernd. ich meine das natürlich im besten, allerprächtigsten Sinne ... von einem[381] solchen Geschöpf, dem jede ernstliche Anstrengung, außer etwa allenfalls in ihrem bißchen Musik, fast wie die überflüssigste, närrischste Zeitvergeudung schien ... von Mariette ... ich kann mir das nicht einmal vorstellen ... von Mariette hätte ich das auch gar nicht verlangt!

MARIANNE durch diese Antwort, trotz ihrer erkünstelten Sicherheit vor sich selbst, wie von einer geheimen Angst befreit. Sie war dir also die ganzen Jahre ... das gewesen ... Unwillkürlich dabei aufatmend. was ich angenommen hatte! ... Fröhliche, zärtliche Meisen und Finken. Die berückendste, entzückendste Frau, die anbetungswürdigste Mutter eurer zwei Kinder, der farbenbunteste Paradiesvogel ... von ihren gelegentlichen, zeitweiligen, kleinen Raubtierkrallen, die du mir vorhin andeutetest, schweige ich ... aber ... kein Kamerad! ...

GEORG zuerst, da dies Geständnis ihm nicht leicht fällt, fast widerwillig, dann, plötzlich, mit aller elementarsten Kraft und Energie dickst unterstrichen. Nein! ... »Kein Kamerad!« ... Und diese Unterbilanz ... hat genügt ... um ihr Leben zu zerstören ... und meins! Nahes Auto; drohend.

MARIANNE nach einer kleinen Pause; tiefer vollklingender Tonfall. Du wirst es dir wieder aufbauen!

GEORG jetzt zu ihr getreten; die linke, geballte Faust neben sich auf der Tischplatte; Marianne fest dabei anblickend; letzte Eindringlichkeit. Marianne! ... Ich frage dich! ... Hast du bis zum heutigen Tage geglaubt ... Wolkenschatten; dunkel. daß der Tod deiner Schwester ein ... »zufällig-natürli cher« war? ... Da sie, statt ihm darauf etwas zu erwidern, nur schweigt und zu Boden blickt; fast fiebernd. Ich frage! ...

MARIANNE ausweichend; mühsam. Ich kann dir darauf ... nichts antworten! Dasselbe Auto; nochmal.

GEORG nachdem er sich inzwischen wieder gesammelt; ausholend. Du hast meinen letzten Brief an dich ... den ich kaum erst begonnen hatte ... nie erhalten! Ich saß grade und schrieb an ihm ... als Mariette ... leise hinter mir eintrat! ... Ich schob das Papier ... unter ein aufgeschlagnes Buch ... und verschloß dann beides! ... Mariette ... die mich dann, etwas auffallend ... in ein längeres Gespräch verwickelte ... bis ich mich schließlich ...[382] um nicht mein Kolleg zu versäumen ... genötigt sah, zugleich mit ihr das Zimmer zu verlassen ... mußte die Aufschrift bereits gelesen haben! ... Als ich spät am Nachmittag ... schon fast mit einer gewissen Vorahnung ... wieder nach Hause kam ... fand ich sie vor meinem erbrochnen Schreibtisch ... und alles ... was ich von dir erhalten ... zwischen meinen Büchern ... auf Stühlen, über den halben Teppich ... wirr verstreut! ... Starker Straßenlärm; Radfahrer, Pferdegetrappel, Auto; in seiner Darstellung und in seinem Bericht, so sehr und mit aller Kraft er auch noch an sich hält, immer erregter. Die Schildrung der Szene, die nun folgte ... erläßt du mir wohl, bitte! ... Ich hatte mit deiner Schwester ... ja schon ... die verschiedensten kleinen Kontroversen gehabt! Aber in diesem Falle ... Abbrechend und sofort wieder weiter. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Mensch ... sich in eine solche ... Sinnlosigkeit ... rasen könnte! ... Zum erstenmal ... vielleicht verzeihlicherweise ... verlor auch ich die Geduld! ... Nie ... hatte ich bis dahin ... Zorn, Ingrimm, fast Verachtung; stark antithetisch. daß sie nur das Weib ... und ich der Mann war ... nie hatte ich sie das fühlen lassen! ... Alles hatte ich ertragen! ... Alles!! ... Aber da ... Letzte, kaum noch verhaltne, fast furchtbare Leidenschaft; seine Stimme hat einen beinahe fremden Klang. lernte sie mich kennen!!! ... Nachdem er, mit Mühe, wieder Herr über sich geworden. Das Resultat ... war ... daß sie sich oben ... einschloß! ... Als ich später ... zirka viertel zehn ... noch mal klopfte ... war das Zimmer leer ... und sie ... im ganzen Haus ... nirgends zu finden! ... Ich wartete bis elf ... zwölf ... ließ, da sie den Hausschlüssel, wie ich feststellte, nicht mitgenommen hatte, die kleine Gartentür auf ... und muß dann ... etwa so gegen eins ... in meinem Schreibstuhl ... vor Übermüdung ... denn ich hatte die Tage ... sehr schwer gearbeitet ... eingeschlafen sein! ... Als ich aufwachte ... merkte ich ... daß sie wieder in ihrem Zimmer war! ... Die Uhr ... zeigte viertel zwei! ... Wieder stärkst betont; fast wie von Marianne, die sich in ihrem Sessel kaum noch aufrecht hält, Rechenschaft fordernd; hohes, helles Auto. Wo ... war sie so lange gewesen? ... Bei ihrer Großmutter drüben ... bestimmt[383] nicht! ... Denn die hatte zufällig ... noch am selben Abend ... vergeblich nach ihr rübergeschickt! ... In der Familie meines einzigen Freundes ... Major von Usedom ... meines alten Regimentskameraden ... einige Häuser hier weiter ... war sie auch nicht! ... Vorsichtige ... sonst noch angestellte Umfragen ... blieben genau so resultatlos! ... Mariette ... wie du vielleicht weißt ... oder auch nicht weißt ... hatte die drollige Eigenart ... sich in einer besonderen Riesenvitrine ... Kurze, leicht unmutige Kopfbewegung rechts nach der Decke hoch. die dir ja oben aufgefallen sein wird ... pro Saison ... wie so eine Art Rennstallbesitzerin ... immer sieben Hüte zu halten! Nie einen mehr, nie einen weniger! ... Die ganze Garnitur ... wie ich mich zu meiner Überraschung überzeugte ... war an jenem Abend vollzählig! Sie konnte sich also nur irgendwie einen Schleier oder ein Tuch umgetan haben! In diesem Aufzug ... muß sie davongestürzt sein! Mir vollends und ganz und gar rätselhaft! ... Um sich nicht mit einem Dreihundertmarkhut ... was ihr vielleicht doch zu grotesk vorgekommen war ... Ähnlich wie vorhin; nur nach dem Zuschauerraum. noch keine fünfzig Schritt weit von hier, in den Kanal zu stürzen? ... Eine Absicht oder ein Vornehmen, das sie dann ... aus irgendwelchen Gründen ... wieder aufgesteckt haben muß? ... Ich weiß es nicht! ... Das mir noch genau erinnerliche Datum ... Marianne aufhorchend. war der siebzehnte März gewesen! ... Nach acht Wochen ... wir hatten in der Zwischenzeit ... nicht ein Wort mehr miteinander gewechselt ... Auf ein ganz erschrecktes, unwillkürliches Stutzen von ihr; noch verstärkt. Nicht ein Wort mehr ... Wir sahen uns nur noch bei den Mahlzeiten! ... Jeder hatte am andern vorübergelebt ... als ob der andere für ihn Luft wäre! Nach acht Wochen ... ohne jeden weiteren ... wenigstens mir bekannten Anlaß ereignete sich dann die Katastrophe! ... Auf sein »Fazit« los. Gewiß! Man kann einen Gashahn ... den man vorher aufgedreht hat ... aus einem unglücklichen Versehn wieder aufdrehn! ... Plötzlich scharf unterstreichend. Man kann dies aber auch absichtlich tun! ... Noch stärker. Deine Schwester ... die in allem, was sie tat ... im Guten, wie im Schlimmen ... sofort immer über alle Grenzen[384] sprang ... die kein Maß und kein Ziel kannte ... die in ihrer Leidenschaft ... Abbrechend und sofort mit noch erhobnerer Stimme wieder weiter. deine Schwester hat ihren Tod gewollt ... und ihre beiden Kinder ... Ganz fern ein kläglich heulender Hund. weil sie sie dir nicht gönnte ...

MARIANNE bei seinen letzten Worten tiefatmend aufgestanden und neben ihren Sessel rechts nach der Seite des Zuschauerraums getreten; fast verstört; erst jetzt Georg wieder ganz anblickend. Wie konnte Mariette ... vermuten oder wissen ...

GEORG sie unterbrechend; wieder auf und ab; ihren Satz fort- und zu Ende führend. Daß du nach ihrem Tode ... hier einziehn würdest? Das war nach allem Voraufgegangnen für sie so selbstverständlich und sicher, daß sie dich schon als ihre Nachfolgerin sah!

MARIANNE mit aller Gewalt sich dagegen wehrend. Hätte dein Sohn ...

GEORG zustimmend; in ihrem Satz weiter. Der arme Bengel, an dem du so hingst, nicht deiner Pflege bedurft ... ich weiß!

MARIANNE jetzt erst ihren Satz schließend. Ich wäre auch bei meinem Vater und der Großmutter drüben ... noch keine vierundzwanzig Stunden geblieben!

GEORG wieder stehngeblieben; hinter dem Sessel rechts, dessen Lehne er wieder gepackt hält; stark, eindringlich, den Sinn seiner Worte ihr wie suggerierend. Mariette ist nicht durch unsre Schuld ... sondern aus einem Irrtum über uns in den Tod gegangen! Sie hat im letzten Grunde weder dich ... noch mich gekannt!

MARIANNE unsicher; wegblickend. Mich?

GEORG wie vorhin; nur noch gesteigert. Auch ... dich nicht!! ... Nach einer kurzen, unwillkürlichen Pause; letzte, für ihn schmerzvollste Steigerung. An jenem Abend ... an jenem infamen siebzehnten Märzabend vor drei Jahren ... muß etwas gespielt haben ... was ich nicht weiß!! ... Und was ich auch nie ... unter keinen Umständen ... Auto; drei kurze, jähe Laute.

MARIANNE jetzt ebenfalls hinter ihrem Sessel; dort fast wie gegen ihn verschanzt. Dann geh! ... Geh ... ehe es nicht schon vielleicht ... Abbrechend; ihre Augen, wiederholt, angstvoll, irren nach der großoffnen Mitteltür. Jede Minute, die du hier bleibst ... jede Sekunde, die du zögerst ...[385]

GEORG ganz erstaunt-starr. Du tust ... als ob durch diese Tür ...

MARIANNE ihn unterbrechend; drängend, beinahe flehend. Geh!

GEORG der sie nicht aus den Augen läßt; stockend; mißtrauisch; in seinem selben Satz weiter. Oder als ob du ... irgendwie wüßtest ... was an jenem Abend ...

MARIANNE fast verzweifelt. Ich weiß nur ... daß hier deines Bleibens ...

GEORG der kaum seinen Ohren traut. Du ... treibst mich ja ...

MARIANNE mit aller Energie sich zusammenraffend. Es war ... deine eigene ... Überzeugung vorhin ...

GEORG seine Worte nochmal und noch stärker und gesteigerter. Du treibst mich ja ... förmlich von dir!

MARIANNE ebenso. Es war deine eigne Überzeugung ... daß eine solche Trennung zwischen uns ... genau für heute ...

GEORG veränderter, zögernd-warnender Tonfall. Wenn ich meinen Fuß ... erst aus diesem Hause gesetzt haben werde ...

MARIANNE in seinen Satz schnell einfallend. Werden wir uns in diesem Leben ...

GEORG erst jetzt ihn schließend; fast drohend. Wahrscheinlich ... nie wiedersehn!

MARIANNE mit aller Gewalt aufrecht; seinen Blick erwidernd. Ich ... hoffe es!

GEORG langsam; bitter. Ist das ... dein einzges ... Abschiedswort an mich?

MARIANNE seinem Blick ausweichend. Ich habe dir ein andres ... nicht zu geben!

GEORG mit seinem Blick den ganzen Raum überfliegend; unwillkürlich sich verschleiernder Stimmfall. Dann werde ich also ... Unterstrichen. da du dieses wünschst ... Besonders betont. ohne unsre Sitzung ... erst abzuwarten ... Sich zusammenruckend; als wolle er bereits gehn; fernes Auto. sofort und ...

MARIANNE mit dem Aufgebot ihrer letzten, sie fast bereits verlassenden Kraft. Tus!

ONKEL LUDWIG ganz aufgeregt noch im Garten, aus dem er eben auftaucht; schon von weitem winkend. Schorsl! ... Mariannl! ... Beide blicken nach ihm hin; er steigt, ganz Feuer und Temperament, an seinem Stock die drei niedrigen, breiten Stufen empor; Sonne. Kinder Kurzer, schmerzhafter Knacks rechts. isses[386] wahr? ... Ich Wieder »Knacks!«. humple eben um die alte Muschellaube, und wen seh ich da sitzen ... bis über seine Haarspitzen in unsre Akten vertieft? ... Jetzt bereits zu einem Drittel in der Mitte des Raums; ausbrechend; »selig«. Den Nochmal »Knacks«. Magnifikus! ... Ganz entzückt. Wird das jetzt n Polterabend geben! ... Da die beiden andern ihm nicht antworten; stutzend; »Vogel Bülow«. Nanu? ... Was macht ihr denn für Gesichter? ... Wie seht ihr denn aus? ... Von einem zum andern blickend; erst zuckt Georg die Achseln, dann Marianne. Onkel Ludwig bis an den Tisch nähertretend; beide stehn hinter ihren Sesseln und vermeiden es, sich anzublicken. Nochmal »Vogel Bülow«. Onkel Ludwig: andrer Tonfall; von einem zum andern. Was ist ... hier geschehn?! ... Was ist hier ... vorgegangen?! ...

GEORG nach einer kurzen Pause; wie vollkommen ruhig. Nichts ...

MARIANNE nach einer ebenfalls kurzen Pause; ebenso. Nichts ...

ONKEL LUDWIG wieder von einem zum andern blickend; langsamer, schwerer Tonfall. Das ... Ganz fernes Auto. glaube ich nicht!


Vorhang.


Quelle:
Arno Holz: Werke. Band 4, Neuwied und Berlin 1961, S. 294-387.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ignorabimus
Ignorabimus

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Catharina von Georgien

Catharina von Georgien

Das Trauerspiel erzählt den letzten Tag im Leben der Königin von Georgien, die 1624 nach Jahren in der Gefangenschaft des persischen Schah Abbas gefoltert und schließlich verbrannt wird, da sie seine Liebe, das Eheangebot und damit die Krone Persiens aus Treue zu ihrem ermordeten Mann ausschlägt. Gryphius sieht in seiner Tragödie kein Geschichtsdrama, sondern ein Lehrstück »unaussprechlicher Beständigkeit«.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon