1.
Ballade

[53] Kennt ihr das Lied, das alte Lied

Vom heilgen Hain zu Singapur?

Dort sitzt ein alter Eremit

Und kaut an seiner Nabelschnur.


Er kaut tagaus, er kaut tagein

Und nährt sich kärglich nur und knapp,

Denn ach, er ist ein grosses Schwein

Und nie fault ihm sein Luder ab!


Rings um ihn wie das liebe Vieh

Wälzt sich zerknirscht ganz Singapur

Und »Gott erhalte«, singen sie,

»Noch lange seine Nabelschnur!«


Denn also geht im Volk die Mähr

Und also lehrt auch dies Gedicht:

Wenn jene Nabelschnur nicht wär,

Dann wär auch manches Andre nicht.[53]


Dann hätte beispielsweise Lingg

Nie völkerwandernd sich verrannt

Und Wagners Nibelungenring

Wär stellweis nicht so hirnverbrannt.


Uns hätte nie Professor Dahn

Urdeutsch dozirt von A bis Z

Und kein ägyptischer Roman

Verzierte unser Bücherbrett.


Wolffs Heijerleispoeterei,

Kein Baumbach wär ihr nachgetatscht,

Und Mirzas Reimklangklingelei

Summa cum laude ausgeklatscht.


Dann schlüge endlich unsrer Zeit

Das Herz ans Herz der Poesie,

Das Rütli schwüre seinen Eid

Und unser Tell wär das Genie.


So aber so – frei, fromm und frisch

Kaut weiter jener Nimmersatt;

Sein eigner Schmerbauch ist sein Tisch,

Sein –wisch ein Bananenblatt.


Und um ihn wie das liebe Vieh

Wälzt sich zerknirscht ganz Singapur

Und »Gott erhalte«, singen sie,

»Noch lange seine Nabelschnur!«[54]


Quelle:
Arno Holz: Buch der Zeit. Berlin 21892, S. 53-55.
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