1. Gute Herzen.

[163] Sechzehn Jahre vor dem Zeitabschnitte, in welchem sich gegenwärtige Geschichte ereignete, war an einem schönen Morgen des Sonntags Quasimodo, nach der Messe in der Kirche Notre-Dame ein lebendes Wesen auf dem Bettgestelle niedergelegt worden, das im Vorhofe, links gegenüber dem »großen Bildnisse« des heiligen Christoph sich befand, welchen die in Stein gemeißelte Figur eines knieenden Ritters, des Herrn Anton Des Essarts, seit 1413 anblickte, als man auf den Gedanken gekommen war, den Heiligen und den Frommen dort hinzustellen. Es war nämlich Gebrauch, auf diesem Bettgestelle die Findelkinder der allgemeinen Mildthätigkeit auszusetzen. Von hier nahm sie weg, wer wollte. Vor dem Bettgestelle befand sich ein kupfernes Becken für die Almosen.

Die Art lebenden Wesens, welches auf diesem Brette am Morgen des Sonntags Quasimodo, im Jahre des Herrn 1467 lag, schien im hohen Grade die Neugierde der ziemlich beträchtlichen Menschenmenge zu erregen, die sich um das Bettgestell herum angesammelt hatte. Die Gruppe war zum großen Theile aus Personen des schönen Geschlechtes[163] gebildet: es waren fast nur alte Weiber. In der ersten Reihe, und ganz auf das Lager niedergeneigt, bemerkte man vier, an deren grauem Kuttenkleide, einer Art Soutane, man errieth, daß sie irgend einer geistlichen Genossenschaft angehörten. Ich sehe durchaus nicht ein, warum die Geschichte die Namen dieser vier verschwiegenen und achtbaren Bürgerfrauen der Nachwelt nicht überliefern sollte. Sie hießen Agnes La-Herme, Johanne de la Tarme, Henriette La-Gaultière und Gauchère La-Violette, alle vier Witwen, alle vier Ordensfrauen der Kapelle Etienne-Haudry, die mit Erlaubnis ihrer Oberin und den Vorschriften Peter d'Ailly's gemäß ihr Stift verlassen hatten, um die Predigt anhören zu gehen.

Wenn diese guten Nonnen übrigens für den Augenblick die Vorschriften Peter d'Ailly's beobachteten, so übertraten sie jedoch in der Freude ihres Herzens diejenigen Michaels von Brache und des Cardinals von Pisa, die ihnen so grausam Schweigen auferlegten.

»Was in aller Welt ist denn das, liebe Schwester?« sagte Agnes zu Gauchère, während sie das kleine ausgesetzte Geschöpf betrachtete, welches kreischte und sich, von so viel Blicken in Schrecken versetzt, auf dem Bettgestelle wand.

»Was soll noch aus uns werden,« sagte Johanne, »wenn jetzt solche Kinder wie dieses in die Welt gesetzt werden?«

»Ich verstehe mich nicht auf Kinder,« entgegnete Agnes, »aber es muß eine Sünde sein, dieses da anzusehen.«

»Das ist kein Kind, Agnes.«

»Es ist ein verunglückter Affe,« bemerkte Gauchère.

»Es ist ein Wunder,« entgegnete Henriette La-Gaultière.

»Dann ist es,« erwiderte Agnes, »das dritte seit Sonntag Lätare; denn vor kaum acht Tagen haben wir das Wunder mit dem Pilgerspötter gehabt, der durch Unsere liebe Frau von Aubervilliers göttliche Strafe erlitt; und das war das zweite Wunder im Monate.«

»Es ist ein wahrhaft abscheuliches Ungethüm, dieses angebliche Findelkind,« nahm Johanne das Wort.

»Es brüllt, um einen Cantor taub zu machen,« fuhr Gauchère fort. »So schweige doch, kleiner Schreihals!«[164]

»Und noch zu behaupten, daß es Seine Hochwürden der Bischof von Reims ist, der Seiner Hochwürden dem Bischofe von Paris dieses Ungethüm schickt!« fügte La-Gaultière hinzu und schlug die Hände zusammen.

»Ich glaube,« sagte Agnes La-Herme, »es ist ein Vieh, ein thierisches Geschöpf, das ein Jude mit einer Sau gezeugt hat, – kurzum ein Etwas, das nicht Christ ist und das man ins Wasser oder Feuer werfen soll.«

»Ich hoffe doch,« entgegnete La-Gaultière, »daß von niemandem nach ihm gefragt werden wird.«

»O mein Gott!« rief Agnes, »die armen Ammen im Findelhause da unten am Ende des Gäßchens, wenn man den Fluß hinabgeht, ganz dicht neben Seiner Hochwürden dem Herrn Bischofe! Wehe, wenn man ihnen dies kleine Ungethüm zum Stillen brächte! Ich würde lieber einem Vampyre die Brust reichen.«

»Was die noch unschuldig ist, diese arme La-Herme!« entgegnete Johanne; »Ihr seht nicht, liebe Schwester, daß dieses kleine Scheusal mindestens vier Jahre alt ist, und daß es weniger Appetit nach Eurer Brust, als nach einem Bratenwender haben dürfte.«

Und in Wahrheit war es kein Neugeborenes, dieses kleine Scheusal. (Wir würden uns selbst durchaus nicht haben enthalten können, es anders zu nennen.) Es war eine kleine, sehr eckige und mächtig zappelnde Masse, die in einem leinenen, mit dem Namenszuge des Herrn Wilhelm Chartier, damaligen Bischofs von Paris, versehenen Sacke steckte, so daß nur der Kopf herausguckte. Dieser Kopf war ein ziemlich mißgestaltetes Etwas; man sah daran nur einen Wald von rothen Haaren, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund schrie und die Zähne schienen nur nach dem Beißen zu verlangen. Das Ganze zappelte im Sacke zum großen Erstaunen der Menge, die unaufhörlich zunahm und sich ringsherum ansammelte.

Frau Aloïse von Gondelaurier, eine reiche und adlige Dame, die einen langen Schleier am goldenen Horne ihres Kopfputzes trug und ein hübsches Mädchen von ohngefähr sechs Jahren an der Hand führte, blieb im Vorübergehen vor dem Lager stehen und betrachtete einen Augenblick lang[165] das unglückselige Geschöpf, während ihre reizende Enkelin Fleur-de-Lys von Gondelaurier, die ganz in Seide und Sammet gekleidet war, mit ihrem niedlichen kleinen Finger die an dem hölzernen Lager stets befestigte Tafel, welche die Aufschrift »Findelkinder« trug, buchstabirte.

»In der That,« sagte die Dame, während sie sich mit Abscheu wegwandte, »ich glaubte bis jetzt, daß man hier nur Kinder ausstellte.« Sie wandte den Rücken, warf dabei einen Silbergulden in das Becken, welcher unter den Hellern erklang und die Ordensfrauen von der Kapelle Etienne-Haudry mit großen Augen aufschauen ließ.

Einen Augenblick darauf ging der Protonotar des Königs, der würdevolle und gelehrte Robert Mistricolle mit einem ungeheuern Meßbuche unter dem einen und seiner Gattin (Frau Guillemette La-Mairesse) an dem andern Arme vorüber, so daß er also seine beiden Führer, den geistlichen und weltlichen, zur Seite hatte.

»Findelkind!« sagte er, nachdem er den Gegenstand betrachtet hatte, »bist offenbar am Gelände des Flusses Phlegeton gefunden!«

»Man sieht nur ein Auge an ihm,« bemerkte Frau Guillemette; »über dem andern hat es eine Warze.«

»Das ist keine Warze,« warf Herr Robert Mistricolle ein, »das ist ein Ei, welches einen andern ganz ähnlichen Dämon einschließt, der ein anderes kleines Ei trägt, das einen zweiten Teufel enthält und so fort.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte Guillemette La-Mairesse.

»Ich weiß es ganz bestimmt,« antwortete der Protonotar.

»Herr Protonotar,« fragte Gauchère, »was prophezeiet Ihr von diesem angeblichen Findelkinde?«

»Die größten Unglücksfälle,« antwortete Mistricolle.

»Ach! mein Gott!« rief eine Alte aus der Zuhörerschaft, »obendrein hat voriges Jahr eine große Pest stattgefunden, und man erzählt, daß die Engländer beabsichtigen, bei Harefleu in großen Trupps zu landen.«[166]

»Vielleicht wird das die Königin abhalten, im September nach Paris zu kommen,« versetzte eine andere, »der Handel geht schon so schlecht!«

»Ich bin der Meinung,« rief Johanne de la Tarme, »daß es besser für die Insassen von Paris sein würde, wenn man den kleinen Hexenmeister da lieber auf ein Reisigbündel, als auf ein Bett gelegt hätte.«

»Ein hübsches brennendes Reisigbündel,« fügte die Alte hinzu.

»Das würde weit vernünftiger sein,« sagte Mistricolle.

Seit einigen Augenblicken hatte ein junger Priester die Bemerkungen der Nonnen und die Urtheile des Protonotars angehört. Sein Aussehen war streng, seine Stirn breit, sein Blick stechend und tief. Er theilte schweigend die Menge, betrachtete den »kleinen Hexenmeister« und streckte die Hand über ihn aus. Es war wahrlich Zeit; denn die ganze fromme Versammlung leckte sich schon den Bart nach »dem hübschen brennenden Reisigbündel«.

»Ich nehme dieses Kind an Kindesstatt an,« sprach der Priester.

Er nahm es in seinen Chorrock und trug es davon. Die Umstehenden folgten ihm mit bestürzten Mienen. Einen Augenblick nachher war er durch die Rothe Pforte, welche damals von der Kirche nach dem Kloster führte, verschwunden.

Als die erste Ueberraschung gewichen war, neigte sich Johanne de la Tarme zum Ohre La-Gaultières:

»Ich hatte Euch ja gesagt, liebe Schwester, daß dieser junge Geistliche, Herr Claude Frollo, ein Zauberer ist.«

Quelle:
Hugo, Victor: Notre-Dame in Paris. 2 Bde., Leipzig [1895], Band 1, S. 163-167.
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