7. »Châteaupers zu Hülfe!«

[275] Der Leser erinnert sich vielleicht der mißlichen Lage, in welcher wir Quasimodo verlassen haben. Der tapfere Taube hatte, von allen Seiten angegriffen, wenn auch nicht allen Muth, so doch wenigstens alle Hoffnung verloren, zwar nicht sich – denn er dachte nicht an sich –, aber die Zigeunerin retten zu können. Er lief außer sich vor Bestürzung auf der Galerie hin und her. Notre-Dame war der Gefahr ganz nahe, von den Bettlern mit Sturm genommen zu werden. Plötzlich ertönten die benachbarten Straßen von lautem Pferdegalopp, und mit einer langen Fackelreihe brauste eine dichte Reiterkolonne mit verhängtem Zügel und mit gesenkten Lanzen unter den wüthenden Rufen: »Frankreich! Frankreich! Hauet die Kerle zusammen! Châteaupers zu Hülfe! Profoß! Profoß!« wie ein Orkan über den Platz hin. Die bestürzten Bettler kehrten sich rasch um.

Quasimodo, der nichts hörte, sah die entblößten Schwerter, die Fackeln, die Lanzenspitzen, die ganze Reiterschaar, an deren Spitze er den Hauptmann Phöbus erkannte; er sah die Bestürzung der Gauner, den Schrecken bei den einen, die Unruhe bei den besten von ihnen, und er gewann durch diese unerwartete Hülfe wieder so viel Stärke, daß er die Ersten von den Angreifern, die schon die Galerie überstiegen, aus der Kirche zurückwarf. Es waren in der That die Truppen des Königs, welche unvermuthet auf dem Platze erschienen.

Die Bettler benahmen sich tapfer. Sie vertheidigten sich wie Verzweifelte. Von der Straße Saint-Pierre-aux-Boeufs in der Seite, und von der Straße, die zum Vorhofe der Kathedrale führt, von hinten angegriffen, an Notre-Dame gedrängt, die sie noch stürmten und die Quasimodo vertheidigte, zu gleicher Zeit Belagerer und Belagerte,[275] waren sie in der merkwürdigen Lage, in welcher sich nachher, bei der berühmten Belagerung von Turin im Jahre 1640, zwischen dem Prinzen Thomas von Savoyen, welchen er belagerte und dem Marquis von Leganez, der ihn einschloß, der Graf Heinrich d'Harcourt wieder befand:

Taurinum obsessor idem et obsessus, wie seine Grabschrift besagt.

Das Handgemenge war entsetzlich. »In das Fleisch des Wolfes schlug der Zahn des Hundes,« wie P. Mathieu sagt. Die Reiter des Königs, in deren Mitte sich Phöbus von Châteaupers heldenmüthig hervorthat, gaben keinen Pardon, und die Schneide ereilte, was der Spitze des Schwertes entging. Die schlecht bewaffneten Bettler schäumten und wehrten sich mit den Zähnen. Männer, Weiber, Kinder stürzten sich auf die Rücken und Brustseiten der Pferde, und klammerten sich da wie Katzen mit den Zähnen und den Nägeln der vier Gliedmaßen fest. Andere trafen mit Fackelschlägen das Gesicht der Bogenschützen. Andere hieben mit eisernen Haken in den Hals der Reiter und rissen sie zu sich hin. Die, welche herabfielen, rissen sie in Stücke. Man bemerkte einen unter ihnen mit einer breiten, leuchtenden Sense, welcher lange Zeit den Pferden die Beine abmähete. Es war entsetzlich. Er sang dazu ein näselndes Lied, hieb unaufhörlich ein und riß seine Sense zurück. Mit jedem Hiebe zog er rings um sich einen großen Kreis abgehauener Glieder. So rückte er in den dichtesten Haufen der Reiterei mit der ruhigen Langsamkeit, dem Kopfwiegen, dem regelmäßigen Keuchen eines Schnitters vor, welcher ein Getreidefeld abmähet. Es war Clopin Trouillefou. Ein Büchsenschuß streckte ihn zu Boden. – Während dem hatten sich die Fenster wieder geöffnet. Die Nachbarn hatten sich, als sie das Kriegsgeschrei der Leute des Königs vernahmen, in das Gefecht gemengt, und aus allen Stockwerken regnete es Kugeln auf die Bettler herab. Der Vorhofplatz zur Kirche war mit einer dichten Rauchwolke angefüllt, aus welcher das Feuer[276] der Musqueten hervorblitzte. Man erkannte hier kaum die Façade von Notre-Dame und das uralte Hôtel-Dieu mit einigen abgezehrten Kranken, welche von der Höhe seines, mit Fenstern besetzten Daches herabschauten.

Endlich wichen die Bettler. Die Ermattung, der Mangel an guten Waffen, der Schrecken dieses Ueberfalles, das Musquetenfeuer aus den Fenstern, der tapfere Vorstoß der Leute des Königs – alles das schlug sie nieder. Sie durchbrachen die Linie der Anstürmenden und begannen nach allen Richtungen hin zu entfliehen, wobei sie einen Berg von Todten zurückließen.

Was Quasimodo betrifft, der nicht einen Augenblick aufgehört hatte, zu kämpfen, so fiel er, als er diese wilde Flucht sah, auf beide Knien nieder und erhob die Hände zum Himmel; dann stürmte er vor Freude trunken davon, und stieg mit der Schnelligkeit eines Vogels zu jener Zelle empor, deren Zugänge er so unerschrocken vertheidigt hatte. Er hatte jetzt nur noch einen Gedanken: es war derjenige, sich vor der auf die Knien niederzuwerfen, die er eben zum zweiten Male gerettet hatte.

Als er in die Zelle eintrat – fand er sie leer.

Quelle:
Hugo, Victor: Notre-Dame in Paris. 2 Bde., Leipzig [1895], Band 2, S. 275-277.
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