Knabenerinnerungen

[20] Ich bin in einer Familie erwachsen, welcher von väterlicher Seite her zwei große Gestalten der Vergangenheit in höchstem Glanze vorgeführt wurden. Wie andere Kinder mit Märchen gespeiset werden, so wurde mein frühestes Denken und Fühlen durch das Gedächtnis an sie ernährt – vielleicht war es eine zu strenge Nahrung für das unreife Alter.

Die erste jener beiden Gestalten war Gustav Adolf, König von Schweden. Eine glaubwürdige Familientradition, die mein Vater in seinem Hausbuche aufgezeichnet hatte, besagte, daß Peter Immermann, Sergeant in der Armee des großen Schwedenkönigs, der erste des Namens in Deutschland gewesen sei. Er hatte bei Lützen mitgefochten »für teutsche Gewissensfreiheit« wie im Hausbuche steht, was da vor mir liegt, war in Deutschland geblieben, hatte eine durch den Dreißigjährigen Krieg wüst gewordene Bauerstelle im Dorfe Etgersleben unweit Magdeburg in Besitz genommen, eine Bäuerin, namens Ilse geheiratet, und war so der Stammvater der Familie geworden, welche sich dann durch Landleute, Handwerker, Schullehrer und Prediger verbreitete, bis sie in meinem Vater zu einem nach dem Maßstabe früherer bescheidener Zeiten hochgeschätzten Ansehen gelangte. Er war Königlicher Rat und stand bei der magdeburgischen Krieges- und Domänenkammer.

Es ist nicht wahr, daß nur der Adel sich etwas auf seine Ahnen einbilde. Bürgerfamilien sind ebenso stolz, wenn sie unter ihren Vorfahren jemand wissen, der den Stammbaum verherrlicht, sei es auch nur dadurch, daß sein Name mit irgendeiner großen oder gerühmten Begebenheit in Zusammenhang steht. Eine sehr natürliche und lobenswerte Neigung im Menschen; der Keim des Staats und alles politischen Lebens. Jener alte Schwede, von dem sonst nichts weiter bekannt war, erhielt sich in der Familienerinnerung als eine respektable[21] Figur, mein Vater erzählte mit Behagen, daß er einstmals jüngere Vettern mit nach Etgersleben hinausgenommen, ihnen das Stammgut der Familie gezeigt und sie veranlaßt habe, den Hut vor dieser Solstätte abzunehmen. Über die problematische Natur des Erwerbstitels wurde hinweggesehen, keine Kritik nagte an der Rechtfertigkeit des Besitzes. Das Gütchen war übrigens längst in andere Hände übergegangen, und ich habe es nie zu Gesicht bekommen.

Indessen bedurfte denn doch der schwedische Sergeant eines Heros, von dessen Strahlen er erst sein rechtes Licht zu empfangen hatte. Und dieser konnte kein anderer sein als Gustav Adolf. Mein Vater nannte ihn nie anders als den Erretter Deutschlands, viel wurde von ihm erzählt, der Dreißigjährige Krieg ging für uns eigentlich nur bis zur Schlacht von Lützen; über allen Zweifel erhaben war es, daß den König eine meuchelmörderische Kugel getroffen hatte, was denn unseren Haß gegen die Ligisten, der ohnehin schon nicht gering war, nur schärfen konnte. Wie die Leiche des Helden nach Weißenfels geschafft worden, wie die Königin sie dort mit Tränen benetzt habe, das und mehr dergleichen stand so vor mir, als wäre ich dabeigewesen. Die Oxenstiernas hörte ich erst weit später nennen und sie konnten mir nach einem solchen Vorgänger wenig Interesse abgewinnen.

Die andächtige Verehrung des großen Schwedenkönigs fand in meiner Vaterstadt außerdem einen fruchtbaren Boden, in dem sie nachhaltig treiben konnte. Eine Stadt verschmerzt ihre Zerstörung in anderthalb hundert Jahren nicht. Tilly und der Teufel galten in Magdeburg ungefähr gleich viel; Katholische und Kaiserliche kamen dicht hinterher. Rathmanns Geschichte von Magdeburg ist das erste Buch gewesen, welches ich gelesen habe. Kam ich nun da an die Stelle, wo es heißt, daß die Belagerer am 9. Mai 1631 zum Schein ihre Stücke aus den Schanzen, ihre Truppen von Krakau und Rothensee abziehen, daß die Belagerten sicher werden, glauben, die Schweden rückten zum Entsatz herbei, und die vom Wachen und Postenstehen ermüdeten Glieder dem Schlummer hingeben, so ergriff mich die heftigste Beklemmung, ich hätte ihnen aus Leibeskräften zurufen mögen: Wacht auf![22] den Bösewichten ist nicht zu trauen! Es half aber nichts. Wenige Seiten weiter waren die Kroaten, die Wallonen und Lombarden zur Hohenpforte und zum Schrotdorfer Tor eingedrungen, mordeten und brannten. Dietrich von Falkenberg, der schwedische Kommandant, eilt fruchtlos dahin und dorthin, bis ihn eine Falkonettkugel niederstreckt. Nun beginnt der Greuel der Verwüstung, durch den sich die jugendliche Einbildungskraft hindurchwürgen mußte! – Tilly bekam es freilich darauf bei Leipzig, und im Dome sah ich noch seine angeblichen Stiefel hangen, mit Ketten umwunden, aber was konnte das helfen, da Magdeburg bis auf den Dom, einige Kirchen und eine Reihe dürftiger Häuserchen am Fischerufer in der Asche lag! wie ich jederzeit für mich, wenn ich diese grause Lektüre beendigt hatte, ergriffen und pathetisch sagte.

Blickte sich nun der Knabe in der Stadt um, so sah er den gewaltigen Dom mit seinen beiden majestätisch emporstrebenden Türmen und im übrigen lauter Häuser, die wie geschnörkelte Kommoden dagegen aussahen. Es war aber zu uns noch nichts gedrungen von gotischer, vorgotischer und späterer Baukunst aus den Zeiten des verderbten Geschmacks, wovon jetzt jedes Kind zu reden weiß. Wir dachten uns also bei jenem Kontraste auch weiter nichts, als daß die Kommodenhäuser nach dem Sturme aufgebaut seien, und daß der Dom in seiner Pracht und Festigkeit selbst den verruchten Stürmen widerstanden habe. An dem fiel uns besonders auf, daß der Knopf des einen Turmes fehlte, während der andere doch noch ganz stattlich mit seiner steinernen Blume da droben unter den scharfen, hohen Himmelslüften blühte. Wir mußten nun auch über den fehlenden Knopf, der uns so in Verwirrung setzte, wie Kanten einst der Defekt am Rocke des gegenübersitzenden Studenten, vernehmen, ebenfalls er sei von den Kaiserlichen in der Belagerung herabgeschossen worden.

Darauf bezog sich denn unser ganzes Interesse an magdeburgischen Geschichten. Denn ich wußte zwar wohl, daß Kaiser Otto der Große die Stadt gegründet habe, ich fand zwar einst in einem alten staubigen Wandschranke hinter dem Sofa in meines Vaters Stube, als dieses Möbel einer Reparatur[23] wegen abgerückt wurde, zwischen Müll und Moder eine Reihe weggestellter Folianten und Quartanten in Schweinsleder, unter den Quartanten einen, der ganz gelbbraun aussah und der »löblichen uralten Stadt Magdeburg Privilegia« enthielt, und in diesem gelbbraunen Quartanten den deutsch übersetzten Gründungs- und Freiheitsbrief Ottos vom siebenten Tage des Brachmondes Jahres 940, worin der Kaiser »den werten Sachsen, die ihm fürgeleget, wie sie sich in Gottes Frieden zusammenhalten und eine Stadt bevesten wollen«, erlaubt »zu bauen und zu bevesten, und einen Markt zu hegen nach alter Weise, als Marktrecht von alters gestanden hat, auch ewigen Frieden zu haben in der Stadt welche sie Magdeburgk genannt haben«; ich sah des Kaisers steinerne Bildsäule zu Pferde, Krone auf dem Haupte, Zepter in der Hand, Mantel um die Schultern unter ihrem Schirmdächlein auf dem Alten Markte stehen, hörte, daß von der Bildsäule aus alle Landstraßen gemessen würden, die in der Stadt zusammenstießen und wußte, daß die Fischhändlerinnen, die dort mit ihren großen Bütten und Mulden in reichlicher Zahl ausstanden, dem Kaiser als ihrem Patrone noch alljährlich am Sonnabend vor Pfingsten grüne Maien als Zoll der Verehrung an das Postament steckten und ihm ein Frühstück servierten, auch sah ich ihn mit seiner Editha in weißem Marmor hinter erzgetriebenem Geländer im Chore des Domes liegen, wenn wir uns, während der Gottesdienst zu Ende ging und die Gemeinde die Kirche verlassen wollte, dort einschlichen. Aber Privilegienbrief, Bildsäule und Grabmal blieben doch nur Papier, Erz und Stein, der weggeschossene Turmknopf, die Kommodenhäuser und Rathmanns Bericht von den Greueln der Zerstörung gehörten allein zu der Geschichte, die sich um den schwedischen Stammvater und seinen König drehte.

Die zweite große Gestalt, von der ich reden hörte, war Friedrich der Zweite. Mein Vater hatte im Jahre 1750 das Licht der Welt erblickt, sich erst als Fünfundvierzigjähriger verheiratet und so kam es, daß ich von jemand abstammen konnte, der mir aus eigenem Gedächtnisse erzählte, daß die französischen Husaren vor der Schlacht bei Roßbach in das[24] Magdeburgische gestreift und bei dem Anblick der großen Salinen werke um Salze gerufen hätten: »C'est dommage!« nämlich, daß so schöne Anlagen nun auch bald zerstört und dem Boden gleichgemacht werden müßten. Wenn der Vater das erzählte, so spielte ein satirisches Lächeln um seine fein und scharf geschnittenen Lippen. Da er aber von Natur höchst ernsthaft war, so unterblieb jeder weitere Spott und er fügte nur hinzu, jenes gutmütige Bedauern der französischen Husaren habe sich etwa Ende Oktober zugetragen, die Schlacht bei Roßbach sei aber am fünften November vorgefallen und durch Seydlitz in einer halben Stunde entschieden gewesen. Roßbach und die Franzosen und Seydlitz gehörten hiernach in der Vorstellung der Kinder untrennbar zusammen. Bei der Gelegenheit war auch von der Reichsarmee die Rede, auf welche jedoch nur die bekannte spöttische Bezeichnung verwendet wurde. Jedoch nicht von meinem Vater, der zwar wohl in Familienbeziehungen ungeachtet seines martialischen Ernstes heiter zu scherzen wußte, nie aber sich Späße über allgemeine und wichtige Dinge gestattete, sondern diese immer in einfachster Strenge abhandelte. Nur von Angehörigen, Mitzuhörern der Krieges- und Siegeserzählung, vernahmen wir das nun längst verschollene Witzwort.

Die kräftigsten männlichen Jahre hatte mein Vater im Dienste des preußischen Königshelden verlebt, nämlich als Auditeur bei dem General Saldern. Viele der großen jährlichen Manöver und Revuen unweit Körbelitz hatte er mitgemacht auf seinem »Braunen«, wie er ein besonders geliebtes Pferd nannte, dem auch, nachdem es untauglich geworden, von ihm aus Dankbarkeit auf die Tage des Lebens der Gnadenhafer und das Pensionsheu bei einem Verwandten auf dem Lande gestiftet worden war. Mein Vater hatte es nicht über das Herz bringen können, das treue Roß, welches die mutigen Tage des Reiters in so manchem fröhlichen Ritte gesehen, totstechen oder bei einem Kärrner zu Tode schinden zu lassen. Dieser Braune gehörte ebenfalls zu den mythischen Figuren meiner Kindheit. Es war fabelhaft, wie lange er noch bei dem Landwirte gelebt haben sollte. Steif, blind und zahnlos war er geworden, weshalb die Sage ging, er habe zuletzt[25] mit Mehlsuppe gefüttert werden müssen, weil das arme, greise Maul Rauh- und Hartfutter nicht mehr bewältigen können. Mein Vater gehörte aber zu den wenigen Menschen, die von dem, was sie einmal ausgesprochen haben, nicht wieder abgehen, und da der Vetter und Landwirt ein äußerst gutmütiger und sanfter Mann war (weshalb ihn auch der Vater wahrscheinlich zum Siechenpfleger des alten Braunen ernannt hatte), so verdient die Nachricht Glauben, daß das Pferd endlich wirklich eines natürlichen Todes verblichen sei. Freilich schlich neben dieser Nachricht im Hause die heimliche Sage um, man habe den Vater dennoch getäuscht, dem Vetter sei zuletzt der Faden der Geduld gerissen, das ganz stumpf gewordene Tier aber durch einen Genickschuß abgetan worden.

Erinnerte sich der Vater an die Revuen bei Körbelitz, so pflegte er zu sagen: »Wenn Friedrich die Front heraufgeritten gekommen, so sei es in lautloser Stille einem jeden gewesen, als komme der liebe Gott.« Ich konnte daher als Knabe zwischen dem großen Könige und dem lieben Gott auch eigentlich keinen Unterschied machen. Dabei war mein Vater nicht blind für die Fehler des gefeierten Herrschers und Herrn. Mit großer Erregung sprach er davon, wie Saldern, sein verehrter Chef, durch die Ungnade des Königs die verbittertsten letzten Lebenstage gehabt habe. Es war dies einer der Fälle gewesen, in welchen Friedrich seiner übeln Laune auf jemand durch herbes Spötteln oder kaltes Übersehen Luft zu machen geliebt hat. Glänzend hob sich dagegen hervor, was mein Vater selbst von der Achtung des Königs für eine unerschrockene Meinung erfahren hatte. Ein armer Soldat war, von einem unmenschlichen Vorgesetzten über alles Ertragen hinaus gereizt, unter dem Gewehr gegen diesen tätlich ausgefallen; der Tod schien ihm sonach gewiß zu sein. Mein Vater aber wußte es, mittelst einer Beweisführung, die freilich künstlich genug gewesen sein mag, dahin zu bringen, daß der Missetäter in dem Moment des Verbrechens allenfalls für wahnsinnig hatte gelten können, wußte in dem Kriegsgericht mit seiner Beredsamkeit zu siegen. Das Kriegsgericht sprach den Delinquenten frei. Als mein Vater Saldern[26] das Urteil überbrachte, sah dieser ihn mit großen Augen an, fragte ihn, ob er den Kopf verloren habe, eine solche Erkenntnis könne er nicht auf sich nehmen, über die Sache müsse er an den König schreiben. Der Gescholtene zeigte durch seine stumme militärische Haltung, daß er das erleiden wolle, worauf Saldern ihn heftig anließ und ihm augenblickliche Kassation, Festung und was sonst noch, verkündigte. Mein Vater versetzte, daß er in Eid und Pflicht stehe und seine Schuldigkeit getan zu haben glaube. Saldern schickte das Urteil wirklich an Friedrich ein, mit mancher Beschönigung für den Referenten, den er wie einen in den Militärrechten noch unerfahrenen Menschen dargestellt hatte, selbst aber wenig von dieser Verwendung hoffend. Die Sache war in der Tat keine Kleinigkeit, denn über Disziplin verstand Friedrich bekanntlich wenig Scherz. Aber alles nahm eine günstige, selbst eine epigrammatisch-witzige Wendung. Der König, das Ganze durchsehend, und der guten Absicht das Mittel vergebend, bestätigte wider Erwarten das Urteil und hatte dem Remissorial eine seiner wunderbaren Randverfügungen beigesetzt, ungefähr der Fassung: »Vor diesesmal möge es passieren, Saldern solle aber darauf acht haben, daß nicht mehr Kerls unter dem Gewehr solcherweise überschnappten.« – Der Offizier und Mißhändler wurde in eine Art von Strafbataillon versetzt und die Angelegenheit brachte meinem Vater Ehre und Beglückwünschung, am meisten von Saldern selbst, der ihn liebhatte. – Dieser Tat war er sich mit Freuden bewußt und durfte es auch sein, denn die Menschlichkeit mußte in jenen eisernen Zeiten Schleichwege gehen, wenn sie zum Ziel gelangen wollte. Ein Nebenzug in dem Ereignisse war folgender: Man hatte meinem Vater, als er seine Absicht, den Menschen zu retten, ausgesprochen, vorgestellt, der König werde ihn ja ohne Zweifel begnadigen. Darauf erwiderte mein Vater: die Gnade sei ungewiß, das Recht aber gewiß. Der Mensch brauche keine Gnade, sondern solle Recht bekommen. – Er ließ sich nicht träumen, daß seine Titular-Theorie von der Monomanie beinahe fünfzig Jahre später unter den Richtern und Ärzten wirklich spuken gehen werde.[27]

Ich habe den König Friedrich den Zweiten genannt. Ich muß aber hinzufügen, daß ich ihn nie so in meines Vaters Hause nennen hörte. Die anderen sprachen vom alten Fritz, meinem Vater aber hieß er der König schlechtweg. »Als der König zur Bayerischen Kampagne abreiste – als der König zum ersten Male das Podagra hatte – als der König dann und dann in Magdeburg war« – in solcher Art wurde geredet. Viel las mein Vater in Friedrichs Schriften, von welchen er die Ausgabe von 1788 bei Voß und Decker besaß, über deren schlechte Redaktion damals noch keine Klage geführt wurde. Wenn ich ihm nun einen Band derselben bringen sollte, so sagte er nur: »Hole mir den und den Band von des Königs Schriften.« – Ich schlage soeben den ersten Teil auf und darin finde ich unter neuerem Datum vermerkt, daß einige Bände »von des Königs Schriften« an einen Verwandten ausgeliehen worden seien. Wir lebten unter Friedrich Wilhelm dem Dritten, dem Vater aber war bei tiefster Anhänglichkeit an den regierenden Herrn Friedrich der Zweite der König ohne weiteren Beisatz geblieben. Sprach er von der Gegenwart, so sagte er: Unser jetziger König.

Unermeßlich war die Wirkung solcher Eindrücke auf das erste Erkennen. Durch den Vater, der selbst wie ein Wesen höherer Art und Ordnung vor den Kindern dastand, wurde der Gedanke an Persönlichkeiten vermittelt, zu welchen alles, was man sonst sah und hörte, nicht mehr zupaßte. Denn auch die Ungerechtigkeiten und Tücken des großen Königs, von welchen, wie ich beispielsweise angab, zuweilen die Rede war, minderten an dem Bilde seiner Gewaltigkeit nichts; weil mein Vater jedesmal hinzusetzte: »Wenn er sich dergleichen vorgenommen hatte, so konnte kein Mensch auf Erden dawider an.« – Und so wurde ein Heroenkultus gestiftet, der auch eine Art von Religion ist, nur muß er nicht aus dem Begriff entspringen, wenn er diesen Namen verdienen soll, sondern aus den frühesten und dunkelsten Gefühlen. Der Atem der Friederizianischen Aufklärung umwehte uns von allen Seiten und des Offenbarungsglaubens kam uns gar wenig zu, aber es fragt sich, ob, wie die Sachen wenigstens jetzt zu stehen gekommen sind, das religiöse Gefühl in Kindern[28] nicht am gründlichsten durch eine solche Hingebung an große Menschen vorzubereiten wäre?

Fahle, unheimliche Schatten strichen je zuweilen durch die uns aufgetane Lichtwelt, deren Schimmer nur noch heller hervorstellend. Wir hörten vom »Hochseligen« oder sogenannten »dicken Könige« reden, vernahmen, daß man ihm habe Geister erscheinen lassen, daß seine letzten Tage nur durch künstlich bereitete Lebensluft zu fristen gewesen seien; der Name Bischoffswerder wurde genannt und von Goldmacherei gesprochen. In der Nähe von Emden wurde nie verabsäumt, uns ein einsam und wüst liegendes Häuslein zu zeigen, in welchem die betrügliche, aber damals zu Ansehen gekommene Kunst getrieben sein sollte. Das hatte nun alles keinen rechten Zusammenhang, welcher sich auch bei der eigentümlichen Natur jener Geschichten vor Kindern nicht wohl herstellen ließ, aber es erweckte doch den Gedanken, daß mit dem Tode »des Königs« die Welt eine äußerst schiefe Richtung erhalten haben müsse. Als Söhne der Aufklärung verachteten wir alle Geisterseherei und Goldmacherei von Grund des Herzens und konnten in unserer Geringschätzung nicht begreifen, wie man dergleichen habe glauben und dulden können. Ich grübelte und grübelte über die dunkeln Geschichten, die wie Gespenster mir in der Seele lagen.

Im Jahre 1805 im Sommer bemerkte man plötzlich eine große Regsamkeit in der Stadt. Mehrere der alten Kommodenhäuser am Neuen Markte wurden abgeputzt, das Pflaster, was von da zum Fürstenwalle hinabführte, wurde ausgebessert, das Gouvernementsgebäude, dessen oberer Stock durch eine hölzerne Überbrücke mit dem Fürstenwalle zusammenhing, instand gesetzt, der Fürstenwall, von wo man die Aussicht auf einen bedeutenden Abschnitt der Elbe und ihrer Ufer hatte, mannigfaltig durch die strengen Linien der gegenüberliegenden Zitadelle und die Baumanlagen des Roten Horns, empfing an schicklichen Stellen einen Überzug von grünem Rasen, in den blühende Stauden und insbesondere blaue und rote Hortensien in unendlicher Anzahl eingesenkt wurden, endlich errichteten Werkleute und Tapezierer auf einem Vorsprunge des Walls ein russisches Zelt mit buntem[29] Dache. Der Sinn dieser Anstalten wurde bald klar, es hieß, der König und die Königin würden Magdeburg besuchen. Damals erinnere ich mich zum erstenmal von jener Fürstin reden gehört zu haben. Ich war von frühster Kindheit an sehr neugierig und horchte überall zu, wo ich Erwachsene redend zusammenstehen sah, wie ich denn überhaupt eher ein Verhältnis zu älteren Leuten gehabt habe, als zu meinesgleichen. Die Wirkung der annahenden Königin auf die Männerwelt war nun wirklich so, daß man jeden für einen Champion der schönen Majestät hätte halten dürfen. In der bürgerlichen Sphäre wurde damals weit weniger gereist als jetzt, viele hatten daher die Monarchin noch nicht gesehen und alle waren voll Erwartung des Wunders, oder Entzückens über die Wiederkehr hoher Freude voll. Man sprach nur von der Königin, sie wurde, wo auf sie die Rede kam, »die admirable Frau« genannt. –

Nicht lange währte es, so legte eines Morgens mein Vater mit ernstem Antlitz seine gestickte Uniform an, in der ich ihn noch nie gesehen hatte und in welcher er mir, Degen an der Seite, dreieckigen Hut auf dem Haupte, wunderbar und fremd vorkam. Ich drückte mich, nachdem ich den Glanz dieses Anblicks oben auf des Vaters Zimmer eingesogen, unten in eine Ecke des Hausflurs, um den Genuß noch einmal zu haben. Er schritt an mir vorüber, ohne mich wahrzunehmen, nachdenklich vor sich hinsehend, und ich war ganz erschüttert und betäubt, denn ich hatte keine Ahnung davon gehabt, daß ein solcher Prachtrock in der Welt, geschweige daß er im Hause sei.

Gleich nachher donnerten die Kanonen, läuteten die Glocken, sprengten die roten Kammerhusaren – eine Art von Verwaltungsmiliz, die ein in diesem Friedensdienste unmäßig korpulent gewordener Rittmeister kommandierte – durch die Straße, lärmte und schrie das Volk, und lief im wildesten Rennen nach dem Brücktore. Es war uns Kindern streng verboten worden, uns in das Getümmel zu wagen, aber wie wäre da Haltens gewesen! – Das Haus war von seinen Bewohnern geleert und nur der Hut einer alten Wärterin anvertraut. Der vorbeizukommen hielt nicht schwer. Rasch hatte[30] ich die Türe hinter mir und war mit den letzten Nachzüglern auch im vollen Rennen nach dem Brücktore. Aber in der Nähe desselben kamen uns glänzende Equipagen entgegengefahren, nachflutete der Volksstrom dem Fürstenwalle zu, von diesen Wogen wurde auch ich gefaßt, nun schwamm ich mit der Flut und wurde von ihr ruckweise auf die Stirn des Walls befördert.

Dort stand Kopf an Kopf und es schien fast unmöglich bis zum Gouvernementsgebäude vorzudringen, in welchem die Majestäten abgestiegen waren. Aber was wäre einem von Neugier brennenden Knaben in solchem Falle unausführbar? Gehend und kriechend, schiebend und geschoben, stoßend und gestoßen schrotete ich mich die schwarze Menschenmasse hindurch und gelangte endlich glücklich wenn auch etwas gequetscht an einen Ort, wo ich nun unter den Vordersten gerade der großen Salontüre gegenüberstand, in welcher die Herrscher erscheinen mußten, wenn sie sich, wie jedermann erwartete, dem Volke zeigen wollten.

Da stand ich denn also an der glücklichsten Stelle. Aber bald überfiel mich ein entsetzliches Bangen. Im Kampf und Ringen stürmt der Mensch sich bewußtlos auf die schmale Zinne eines Turms hinauf, aber wenn er die Zinne erobert hat und nun da droben steht, kann ihm schwindlig werden. Mir fiel plötzlich zentnerschwer aufs Herz, daß ich denn doch wider das ganz ausdrückliche Verbot meines Vaters da vorhanden sei, welches mir so viel gelten mußte, als ein Befehl Friedrichs seinen Offizieren gegolten hatte. Meinem Geiste trat eine furchtbare Phantasie nahe; ich dachte, der Vater könnte da statt des Königs oder der Königin in der Salontüre sich zeigen, sein Auge den Ungehorsamen entdecken. Zurückzuweichen war völlig unmöglich, die Menge hinter mir bildete eine undurchdringbare Mauer. Ich mußte also stehen bleiben, den Fügungen des Geschicks verfallen, und mich noch vor den beiden roten Kammerhusaren in acht nehmen, welche die Brücke nach dem Salon gegen den Andrang zu schützen hatten. Diese machten nicht viel Umstände mit dem Volke, und es ging hier zu wie allerorten bei solchen Gelegenheiten. Nicht die Drängenden erlitten unsanfte Behandlung,[31] sondern die Gedrängten, die unschuldigen Vordersten.

Aber bald löste ein reizendes Schauspiel alle Angst auf und jedes herbe Wesen. Die Königin trat in die Salontüre. Ich erinnere mich ihres Anzuges noch ganz deutlich; sie trug einen stahlgrün seidenen Überrock, und war übrigens ohne Schmuck, einfach gekleidet. Das Volk begrüßte sie jubelnd, Mützen und Hüte schwenkend. Sie verneigte sich mit holdseliger Freundlichkeit nach allen Seiten und nun wurde ich Zeuge eines Auftritts, der wohl verdient erzählt zu werden. Auf silbernem Plateau wurde ihr eine Tasse dargeboten, sie nahm sie und frühstückte. Ein Herr mit mehreren Sternen auf der Brust näherte sich ihr aus der Tiefe des Salons und schien des Augenblicks zu warten, wo er ihr nach beendetem Frühstück die Tasse abnehmen dürfte. Plötzlich aber sah die Königin empor, dann mit unglaublicher Freundlichkeit nach dem Volke. Ihr Blick fiel auf ein Kind, mit welchem die Wärterin sich auch unter den Vordersten befand. Die Schönheit des Kindes mochte ihr gefallen, und das lange, goldgelbe Lockenhaar des Kleinen. Sie winkte erst mit dem Finger, da aber niemand die liebenswürdige Natürlichkeit dieser Gebärde begriff, so sagte sie jemand, der hinter ihr stand, etwas, worauf der Diensttuende über die Brücke gegangen kam und der Wärtin befahl, ihm mit dem Kinde zur Königin zu folgen. Die arme Person wurde blutrot, gehorchte zitternden Schrittes, und sah sich dabei unterweilen nach der Menge um, als wollte sie sagen: Ich maße mir diese Ehre nicht an. Inzwischen wollte der Herr mit den Sternen der Königin die Tasse abnehmen; sie lehnte es aber ab, neigte sich dem Kinde, welches unbefangen umherlächelte, entgegen, faßte seine Händchen, streichelte ihm die Wangen und gab ihm dann aus ihrer Tasse in dem Teelöffel zu kosten. Sie fragte die Wärterin nach dem Alter des Kindes, nach seinen Eltern und was dergleichen mehr war. Alles dieses geschah in der Entfernung weniger Schritte von dem Platze, wo ich stand, so daß ich diese Einzelheiten genau merken konnte. Man begreift, welchen Eindruck der Vorgang im Volke machen mußte, bei dem eine Königin sich so lieblich mütterlich gegen ein fremdes Kind[32] bezeigte. Es wurde nicht gerufen oder sonst eine laute Freude an den Tag gelegt, aber rings um mich her hörte ich murmeln, daß das doch noch eine Königin sei, wie sie sein müsse.

Dieser Tag hatte für mich eine Belehrung unerwarteter Art in seinem Schoße. Ich wußte vom alten Fritze, konnte alle Schlachten des Siebenjährigen Krieges nach der Schnur her erzählen, es war mir bekannt, daß die Kaiserlichen Magdeburg zerstört hatten, und die Königin von Preußen hatte ich soeben gesehen. Aber wie das alles mit der Gegenwart zusammenhing, darüber fehlte mir jede Vorstellung und in betreff der aktuellen Regierung ging es mir, wie Götzens Karl, als er nach dem Herrn von Berlichingen befragt wird. Aus Rathmanns Geschichte waren mir die alten magdeburgischen Erzbischöfe als besonders kenntliche Figuren entgegengetreten und ich glaubte daher an deren Fortbestand so treuherzig, wie Campes Kinder daran glauben, daß ihr Freund Robinson noch am Leben sei. Der Tag aber, von dem ich rede, sollte mich enttäuschen.

Glücklich und unbemerkt war ich nach Hause zurückgelangt, und saß meinem Vater bei Tische gegenüber. Er hatte sofort nach der Rückkehr von der Cour die Gala abgelegt, war jedoch schweigsam und ernst und überhaupt herrschte eine gewisse feierliche Schwüle im Familienkreise. Mir wurde dabei im Bewußtsein des verbotenen Genusses, den ich gehabt, nicht ganz wohl, ich hielt es unter diesen Umständen für doppelt geraten, der Unterhaltung mich nach Kräften anzunehmen, damit sie nicht etwa in verfängliche Nachforschungen abspränge, und so fuhr ich plötzlich, als eine lange Stille im Gespräch entstanden war, mit der Frage heraus: wer jetzt Erzbischof von Magdeburg sei?

Hierauf sah mich mein Vater mit einem Blick an, den ich nie habe vergessen können. Er hatte hellblaue Augen, die eines blitzenden Ausdrucks fähig waren. Diese blitzenden blauen Augen auf mich werfend und auf mir ruhen lassend, sagte er ganz ruhig und gehalten, aber so, daß mir der Ton durch Mark und Bein ging: »Das Erzstift ist lange aufgehoben und zum Herzogtum Magdeburg gemacht. Der König von Preußen ist Herzog von Magdeburg.« –[33]

»Und du hast heute gegen meinen Befehl die Königin gesehen«, dachte ich, würde nachfolgen, glühend in meiner Sündenschuld. Indessen verblieb es bei jener Auseinandersetzung, die mir eine ganz neue Welt eröffnete, mich aber fast so traurig machte, wie Robinsons junge Freunde wurden, als sie vernahmen, ihr insularischer Einsiedler sei längst im Himmel. Ich hatte mich immer darauf gefreut, einmal einem lebendigen Erzbischofe in dem Ornate, den ich an ihren Stein- und Metallbildern im Dome sah, zu begegnen und mich lange im stillen verwundert, warum sich statt dessen nur Domprediger zeigten. Jetzt wußte ich freilich, woran ich war; der Herzog von Magdeburg wollte mir aber wenig behagen. – In einer so fabelhaften Welt leben Kinder, wenn ihnen die Geschichte und die Wirklichkeit auch noch so handgreiflich aufgerückt wird.

Die erste große Weltbegebenheit, welche meinem Sinne einging, war der Krieg der Österreicher im Jahre 1805. Die Dinge, welche ich davon vernahm, sind charakteristisch, um die damalige jetzt unglaublich aussehende Stimmung in Norddeutschland zu bezeichnen. Ich hörte nämlich eines Tages unter mehreren Bekannten des Hauses von dem nahen Ausbruche jenes Krieges reden, und es war nicht anders, als wenn es ein Unglück wäre, sollten die Österreicher siegen. An welche Schlußfolgerung diese Sorge geknüpft wurde, ist mir entfallen. Sie erschien um so verwunderlicher, als daneben her der Abscheu gegen den französischen Vergewaltiger ging. Ein alter Doktor, der Hausarzt, hatte sich besonders unter jenen Redenden hervorgetan, jedoch die Zweifelmütigen mit der Aussicht auf die gewisse Niederlage der Österreicher beruhigend. Dieser war es auch, der meinem Vater in seine Gartenstube die erste Nachricht von dem greulichen Unglücke bei Ulm brachte. »Was habe ich gesagt, Vetter!« rief er schon von draußen zwischen den Blumenbeeten meinen Vater an; »die Halters haben tüchtige Schmiere gekriegt.« – Ich saß mit meiner Rechentafel beschäftigt in einen schwierigen Bruch[34] vertieft und dachte, als ich nun Macks Kapitulation mit anzuhören bekam, im stillen: da habt ihr es für den Sturm von Magdeburg. – Wie erdichtet klingt es, es ist aber wahr, daß die demnächst erfolgte Auflösung des Reichs und die Niederlegung der Kaiserkrone bei uns nur Freude erregte. Es wurde darüber gewitzelt, gespöttelt und ein munteres lebhaftes Frauenzimmer, deren Zunge bei keiner Gelegenheit zu feiern pflegte, habe ich ausrufen hören: »Nun hat sich das Franzel selbst auf Pension gesetzt!« –

Ein großer illuminierter Kupferstich hing in einem Bilderladen aus, da sahen wir einen untersetzten Mann im bienenbesäten Mantel von einem alten Manne in Purpur etwas empfangen, was wir nicht recht unterscheiden konnten, und rings umher Damen und Herrn, prächtig gelb, rot, blau, grün angestrichen, und man sagte uns, das sei die Kaiserkrönung Bonapartes. Mit diesem verknüpften wir den Begriff, daß er eine Art von Tollem sei, der sich zu seinem Vergnügen überall in der Welt herumhaue und herumschieße, daß er uns etwas tun könne, fiel niemandem ein. Wenn von seinen Siegen 1805 die Rede war und nebenher noch manches andere zur Sprache kam, was er getan, so hieß es immer: »Laß ihn sich nur erst einmal gegen die Preußen versuchen.« Für uns Kinder hatte er durchaus etwas Lächerliches und das kam daher, weil seine einzige Verehrerin im Kreise der Bekanntschaft uns den Lachreiz durch ihre Person gab. Diese Bonapartistin war nämlich eine alte unvermählt gebliebene Jugendfreundin der Großmutter, die uns um so mehr auffiel, als wir sie nur in Gesellschaft der Großmutter sahen, und da allerdings ein starker Kontrast hervortrat. Die Großmutter, zu ihrer Zeit eine gepriesene Schönheit, war eine große, wohlerhaltene Frau in den Fünfzigen; die Freundin dagegen eine kleine, verwachsene Gestalt mit einem Gesichte, grau, faltenreich, alräunchenhaft. Die Großmutter sprach laut, daß man es im dritten Zimmer hören konnte, die Freundin hatte den asthmatischen piependen Ton, hüstelte zwischen jedem Satz und mengte in alles französische Phrasen, hinter deren jeder aber das Wörtlein: »Hé quoi?« angeflickt wurde, gleichsam als Ballast für das unter fremder Flagge fahrende Schiff. Da[35] sie nun überdies auch Tabak schnupfte und immer einen grünseidenen Hut trug mit roten Rosen, so war sie für uns eine entschieden komische Figur und hieß wegen ihrer Anhänglichkeit an den frisch Gekrönten, Rustan, denn von diesem Leibmamelucken war auch schon vielfache Rede gewesen.

Tante Rustan hatte sich also beizeiten für den Gewaltigen entschieden und verhehlte nicht, daß sie ihn für den ersten Helden und größten Mann aller Zeiten halte. Toulon, Ägypten, Montenotte, Millesimo, Dego, Arcole, Lodi, Marengo stäubten ihr nur so von den Lippen, und da sie nach der Art alter Jungfrauen sehr viel sprach, so erfuhren wir von diesen französischen Heldenwundern nicht seltener als von den Schlachten des Siebenjährigen Krieges durch den Vater. Es fehlte aber viel, daß sie auf uns einen ähnlichen Eindruck gemacht hätten, denn Tante Rustan piepte, hüstelte und näselte sie ab, wodurch alle Würde des Vortrags verlorenging. Es kam dazu der Umstand, daß sie in eigensinniger Verkehrtheit dem Namen ihres Helden einen ganz ungehörigen Pleonasmus gegeben hatte. Sie nannte ihn nämlich nie anders als Neapoleon. Vergebens korrigierte sie die Großmutter jedesmal, sooft diese sonderbare Verlängerung hörbar wurde, umsonst wurde sie auf gedruckte Dokumente verwiesen; sie blieb dabei, daß das Wort Napoleon eine neidisch verkleinernde Kontraktion sei und daß der Name in seiner wahren Fülle so klinge, wie sie ihn ausspreche. – Wir Kinder aber, die wir wohl wußten wie es darum stand, setzten bei uns in der Stille fest, daß an einem Manne, den seine eifrigsten Anhänger nicht einmal richtig zu benennen wüßten, unmöglich viel sein könne.

Was meinen Vater betrifft, so nannte ihn dieser nur Bonaparte, ist auch bei der Bezeichnung die ganze Zeit der Unterdrückung hindurch verblieben. Übrigens stimmte er weder in die Herabsetzungen der Österreicher ein, obgleich er auf dieselben vom »Könige« her, nicht gut zu sprechen war, noch ließ er sich zu übermütigen Dingen wider den französischen Kriegsfürsten verleiten, wie er denn der ernsteste und in sich gezogenste Charakter war, der mir je vorgekommen ist. Sein Vertrauen aber auf Friedrichs Staat und Heer sprach er bei[36] jeder Gelegenheit herzhaft aus. Dieses Gefühl steigerte sich noch, als auf einer großen Magdeburger Revue plötzlich französische Marschälle von Hannover aus als schlaue Ehrengäste erschienen. Der Herzog von Braunschweig stand jener Heerschau vor, und eine ganze Woche lang sahen wir alle Morgen die Regimenter im höchsten Staat mit den Fahnen vom Siebenjährigen Kriege her, die nur in Fetzen flatterten, aber wie wir wußten durch diesen Beweis des empfangenen Kugelsegens um so ehrwürdiger waren, ausrücken. Nicht genug konnte man sagen, wie die Marschälle, unter denen wir Bernadotte nennen hörten, des Lobens und Rühmens voll seien über die preußischen Truppen, und jeder der davon sprach, tat, als sei ihm etwas Schmeichelhaftes widerfahren.

Diese kindischen Geschichten lehren, daß damals der Traum sicherer Größe nicht bloß von einzelnen Verblendeten, und nicht von einer Klasse, sondern durch alle Stände und bis zu den Kindern hinab geträumt wurde. Es schien, als ob alle Welt einen Taumelkelch getrunken habe, denn es gab doch Landkarten und statistische Bücher und die sogenannte Rheinkampagne hatte doch endlich zu dem nicht sehr ehrenvollen Frieden von Basel geführt, aber keine Erinnerung schreckte. Ja es war, als ob der Mann, der sich andrer Orten so furchtbar erwiesen hatte, in diesem Falle den Schwindel mehren sollte, anstatt von ihm heilen. Die preußische Armee mit der Revolutionsmasse zusammengestoßen, schien da einem ihr nicht gemäßen Elemente begegnet zu sein, die Zweideutigkeit der Erfolge konnte aus einem gewissermaßen unanständigen Versuchen der Kriegsmeisterschaft wider rohes Naturalisieren abgeleitet werden. Wie nun aber Napoleon als unbezweifelbarer Virtuose des Metiers hervortrat, so entstand sofort die Vergleichung mit Friedrich, und da dieser dem Durchschnitte der Menschen noch immer als der Höchste galt, der überhaupt im Kriegswesen denkbar sei, so fiel das Prognostikon unbedingt ungünstig wider den französischen Helden aus. Man nahm an, daß Napoleon sich nach Regeln schlage, und die Regeln aus Friedrichs Schule, deren Tradition noch bei dem Kriegsstaate fortgepflanzt wurde, mußten natürlich die siegbringenden sein, wenn auch von noch so alten[37] und kraftlosen Händen ausgeführt. Möllendorf wurde mit der größten Ehrfurcht genannt, doch erinnere ich mich auch, daß Blücher schon damals in den Gesprächen stark hervorklang, und daß man wegen eines kühnen und gewaltigen Reiterangriffs (welcher? ist mir entfallen) an ihn die Aussicht knüpfte, vor ihm sei, wenn er zum Einhauen komme, kein Beistand, denn er reite alles nieder.

Indessen glaubte bei uns seit der Revue, welche die Marschälle besucht hatten, niemand mehr an den Krieg mit den Franzosen. Es hieß, daß sich nun die Obersten der fremden Armee selbst von der Vortrefflichkeit des preußischen Exerzitiums überzeugt hätten und daß der französische Kaiser daher wohl Bedenken tragen würde, eine schlimme Lektion in Empfang zu nehmen. Aber eines Tages sahen wir plötzlich in dem großen, gewaltigen Zeughause, welches zunächst dem Dome einem bedeutenden Teile des Neuen Marktes seine Front zukehrte (es ist nachmals abgebrannt), eine unruhige Bewegung. Die Flügelpforten des Gebäudes waren aufgetan, neugierig schauten wir in die geheimnisvollen schwarzen Räume, in welchen Geschütz an Geschütz, Kugelhaufen an Kugelhaufen sich befand. Ein Zufall begünstigte meine Forschbegier, ich drang in diese Werkstätte des Todes ein und gelangte selbst auf die oberen Böden. Dort sah ich mit schaurigem Vergnügen auf unabsehlichen Gerüsten den Feuergewehrbestand des Magazins. Soldaten schleppten sich mit Flinten und Pistolen, unten wurden Kanonen und Lafetten untersucht, hinausgefahren, und zwei Offiziere, hinter denen ich herging, hörte ich die charakteristischen Worte sprechen: »In vier Wochen wissen wir, woran wir sind.«

Bald nachher wurde die Stadt der Schauplatz eines fortgesetzten Heereszuges. Regimenter zu Fuß und zu Pferde, Batterien, Fahrkolonnen, Feldbäckereien, Pontons (die uns ganz besonders auffielen) marschierten und fuhren wochenlang zum Brücktore herein, zum Sudenburger Tore hinaus. Eine Kriegsschar in Bewegung hatte damals anderes Beiwerk als jetzt. Der Troß in seiner Sonderbarkeit prägte sich der kindlichen Vorstellung tief ein. Schon die Packpferde waren uns merkwürdig, welche den Regimentern die Zelte nachtrugen.[38] Ein weitläuftiges Geschnür von Leinwand und Stricken auf dem Rücken eines solchen Tieres und darüber hinaus die langen Zeltstangen balancierend! Pferd mußte hinter Pferd gehen, weil sich sonst die Stangen gestoßen hätten, man konnte also denken wie lang die Koppel wurde. Noch wunderlicher aber kamen uns die rotangestrichenen Küchenwagen der Generale und Obersten vor. Diese Wagen hatten nämlich zu beiden Seiten lange Gatter mit vorgehängten Freßtrögen und hinter den Stäben strobelte sich und gackerte das Federvieh – Hühner, Kapaunen, Truthennen, welches die Befehlshaber zur Sicherung ihrer Tafelfreuden mit in den Krieg nahmen. Eine solche Fürsorge kam selbst uns Kindern befremdlich vor, und ich erinnere mich, daß einmal einer meiner Spielkameraden bei dem Anblicke solcher beweglichen Hühnerhöfe ganz naiv fragte: ob es denn unterwegs in den Dörfern keine Hühner gäbe? Herrlich nahmen sich unter dieser schwerfälligen Feldökonomie die leichten bunten Bosniaken und Towarizys aus.

Tante Rustan war, sobald die verhängnisvollen Züge begonnen hatten, noch quecksilbriger geworden, und hatte die deutsche Mundart in ihren Reden immer spärlicher hören lassen. Sie gab uns sogar eines Tages mit Energie den Rat, uns nur fleißig auf das Französischlernen zu verlegen, welchen wir jedoch mit entschiedener Verachtung zurückwiesen. Am Siege wurde nicht gezweifelt. Es war eine seltsame Schlußfolgerung aufgekommen, welche ihn logisch darweisen sollte. Napoleon wurde nämlich mit Alexander von Mazedonien verglichen, hinzugesetzt aber wurde, Alexander habe auch nur über Perser seine Siege erfochten, da nun die Preußen keine Perser seien, so habe es mit ihm nicht viel zu sagen.


Die Armee war in Thüringen, und durch unsere niedersächsische Ebene breitete sich nun im September und in der ersten Hälfte des Oktobers die tiefe Stille aus, welche großen Dingen vorherzugehen pflegt. Diese erschienen dann vorgebildet[39] in der trügendsten Fata Morgana. Nämlich so. Am 14. Oktober 1806 war die Familie auf dem Neustädter Markte in einem verwandten Hause. Es war Herkommens, daß dieser Jahrmarktstag dort mit einem großen Essen gefeiert wurde; alle Freunde und nähere Bekannte nahmen daran teil und zuweilen drängten sich gegen fünfzig Personen in der kleinen Predigerwohnung zusammen. Für die Kinder war der Tag eine andere Weihnacht und monatelang vorher Gegenstand der ausgelassensten Erwartung, denn alle Strenge und Disziplin hörte dann auf und die wildesten Spiele durften ohne Scheu vor Nachahndung in Hof und Hausflur getrieben werden. Es gehörte zu der Eigenart meines Vaters, daß, so stramm er sonst die Zügel festester Ordnung hielt, er solchen Saturnalien alles nachzusehen wußte. Am Abend jenes Tages tollte denn also auch wieder ein großes Rudel von Knaben und Mädchen mit Haschen und Kämmerchenvermieten durch den Flur, als trotz des ungeheueren Lärmens ein Geschrei vom oberen Teile des Hauses sich hörbar machte. Ein Teil der Spielgenossen wurde dadurch nicht geirrt, mehrere aber ergriff doch die Neugier, sie liefen die Treppe hinauf, und unter diesen befand ich mich auch. Oben hatten wir folgenden Anblick: Die Stube war gedrängt voll von Basen, Vettern, Öhmen, Muhmen, Freunden und Zugehörigen. In dem kleinen offenen Raume in der Mitte befand sich ein Mensch, der verrückt zu sein schien. Er sprang in kurzen Sätzen empor, hielt sich den Kopf mit beiden Händen, kreischte, jauchzte, umarmte jetzt diesen und dann den. Man drang in ihn, er solle denn endlich sagen, was er wolle? und da gab er in abgebrochener, keuchender Rede, untermischt von unartikulierten Tönen von sich, daß soeben bei dem Gouvernement eine Stafette eingegangen sei, der Post und Überlieferung, Napoleon sei bei Schleitz total geschlagen und in voller Flucht nach dem Rheine. Hieran knüpften sich die glorreichsten Nachrichten von der Zahl der Toten, der Gefangenen, der eroberten Kanonen. Die Verluste gingen ins Unermeßliche.

Der freudigste Jubel brach aus. Man schüttelte einander die Hände, Tränen der Rührung wurden vergossen, die Seligkeit[40] des Glücks leuchtete aus den Augen der ältesten und trockensten Personen. Ich habe, wenn ich nachmals über diesen Vorfall in meiner Erinnerung kam, stets innig empfunden, wie tief die edeln Regungen, welche da erweckt wurden, in der menschlichen Brust gegründet sind. Man konnte wirklich zu jener Zeit vom Staate nicht viel mehr wissen, als daß er eine Anstalt sei, worin die Soldaten Spießruten liefen, worin der Adel empfange, der Bürger und Bauer aber zu geben habe, und dennoch jauchzten die Menschen über sein Glück, als hätten sie ein Vaterland, welches ihnen die köstlichsten Früchte der Freiheit und des Großsinns trage.

Die Nacht und der folgende Morgen ging im Schwelgen des befriedigten Patriotismus hin. Um Mittag kam aber der Vater mit einem ernsten Gesichte von der Kammer zurück und sagte: »Bei dem Gouverneur ist keine Stafette eingegangen und man weiß überhaupt nicht, woher die ganze Nachricht rührt. Prinz Louis soll bei Saalfeld angegriffen und schwer verwundet worden sein.« – Das klang nun freilich gar anders, und die unbestimmte Ahnung eines Unglücks, welche sogleich hervortrat, erhielt die tiefste tragische Wendung. Denn der Prinz war für Magdeburg, was Achill für das Lager in der Ebene von Ilium gewesen. Er war Chef eines der bei uns garnisonierenden Regimenter, Dompropst, aber über diese Prädikate hinaus lagen die Zauber, mit denen er auf die Menschen wirkte. Seine Tapferkeit, Bonhomie, seine große Begabung für Musik nicht minder als seine Waghalsigkeiten und forcierten Ritte nach Berlin und als selbst seine Schulden, Ausschweifungen und Liebeshändel hatten ihn in alle Lichter romantischer Beleuchtung gestellt.

Der Tag und der folgende verging still und gespannt und ich weiß noch, daß ich in meinem Knabenkopfe darüber nachdachte, wie es möglich sein könne, daß die Menschen in einem Abende entzückt und am Tage darauf niedergeschlagen wären. Ich wußte freilich keine Lösung zu finden, aber die erste Ahnung von der tiefen Zweideutigkeit und Tücke des Lebens entstand mir damals und knüpfte sich so an ein furchtbares allgemeines Geschick. –[41]

Niemand wußte, wie die Sachen sich verhielten. Ein Nachbar, von dem vielleicht noch öfter die Rede sein wird, trat aber im Dunkel unter das Fenster, zu dem der Vater hinaussah, und sprach von einer großen zweitägigen Schlacht bei Frankenhausen, die, als der Kurier abgegangen, noch unentschieden gewesen sei. Auf so umstellende Weise bildete der Dunstkreis des Ereignisses seine Doppelheit ab. – Der Vater seufzte tief und stieß den Schmerzensruf aus: »Gott, Friedrichs Soldaten werden denn doch wohl ihre Schuldigkeit tun!«

Der Morgen des 17. Oktobers (wenn ich nicht irre) brachte den Jammer der kläglichsten Gewißheit. Schon in der Frühe war ruchtbar geworden, die Nacht zuvor sei ein verwundeter Offizier vom Schlachtfelde angekommen, der dem Gouverneur die schlimmsten Dinge entdeckt habe. Der Tod des Prinzen wurde bekannt. Aber, was in gewöhnlichen oder nur nicht ganz entsetzlichen Verhältnissen wie ein Fall sondergleichen erschienen wäre, das verschwand hier fast unbeachtet vor dem Heranschreiten des unerhörtesten Elendes. Denn um neun Uhr morgens begann der Rückzug (wenn man ihn so nennen will) der geschlagenen Armee, welche in Magdeburg sich wieder sammeln sollte, und er hat ununterbrochen den ganzen Tag hindurch bis spät in die Nacht, sowie einen Teil des folgenden Tages fortgedauert. Aller Aufsicht entlassen, war ich als elfjähriger Knabe beständig auf der Straße, habe ihn daher mit meinen Augen gesehen, und kann mithin sagen, daß meine erste große Anschauung der grausenvollste Sturz und Ruin gewesen ist.

Um neun Uhr zogen die ersten Flüchtigen zum Sudenburger Tore herein. Haufen Fußvolks waren mit halben oder viertel Geschwadern Reiterei vermischt, dazwischen fuhren dann wohl einzelne Kanonen oder Pulverkarren. Durcheinander trieben Uniformen aller Regimenter und der verschiedensten Grade sich zur Stadt herein. Auch einzelne Packpferde mit den balancierenden Zeltstangen wurden wieder sichtbar, Feldequipagen folgten und selbst die erbärmlichen roten Küchenwagen blieben nicht aus. Zuweilen kam ein Stabsoffizier gesprengt, befahl etwas mit heftigen Schreiworten[42] an Leute, die nicht von seinem Regimente waren, und sprengte dann weiter, ohne darauf zu achten, ob sein Befehl ausgeführt wurde.

Das Volk hatte sich auf dem Breitenwege und am Neuen Markt in dichten Haufen versammelt und sah anfangs mit einer Art von dumpfer Hoffnung dieser Verwirrung zu. »Es sind die ersten Ausreißer«, hörte ich mehrere Leute sagen, »die halten sich nie in der Ordnung. Nur Geduld, bald werden reguläre Regimenter kommen.« – Aber es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, es ging gegen den Abend und noch hatte das Durcheinander nicht aufgehört, noch immer wälzte sich der verworrene Knäuel, zu welchem der Schlachtengott hier ein Heer zusammengeballt hatte, durch die Straßen. Endlich kamen einige geordnete Scharen, gleichsam zur Probe und um doch auch eine Ausnahme von der grausen Regel zu zeigen. Eingehüllt waren nun die Fahnen, die auf dem Hinzuge so lustig im Winde geflogen hatten. Meistens zog alles ohne Sang und Klang einher. Nur einmal tönte die Musik hell, gleichsam ein Lachen der Verzweiflung über das gramvollste Geschick. Das war, als das Trompeterkorps eines Kürassierregiments einpassierte. Sie hatten ihr Regiment nicht hinter sich, waren überhaupt ganz allein und für sich und bliesen so auf ihre eigene Hand den Dessauer Marsch, als sei alles in bester Ordnung. Sie sahen wohl aus, die Trompeter, und saßen auf feistgenährten Pferden. Überhaupt fiel es auf, daß die einzelnen abgerissen oder abgehungert, oder sonst zerstört sich ausnahmen; das Tiefste des Unglücks trat in diesem Kontraste persönlicher Wohlbehaltenheit mit allgemeiner Vernichtung zutage.

Am Nachmittage wußte jeder, daß es ein preußisches Heer eigentlich nicht mehr gebe. Eine marklose Trauer lag auf den Gesichtern der Menschen. Doch selbst in dieser regte sich noch der unbeschreibliche Geist, der jene Zeit charakterisierte. Ich hörte jemand zu seinem Nachbar sagen: »Das mag nun sein, wie es will, schlecht ist es allerdings hergegangen, aber wir haben mit Ehren verloren, denn ich hörte soeben, daß die Franzosen in der Schlacht nicht aus dem Schritt, die Preußen jedoch nicht einmal aus dem Tritt gekommen seien.«[43] Er wollte damit andeuten, wie vortrefflich unsere Armee bei Jena und Auerstedt exerziert habe.

Der König war angekommen und in der Dompropstei am Neuen Markte abgestiegen. Man wußte, daß er nach dem Fürstenwalle oder nach dem Gouvernementshause sich begeben hatte. Eine große Menge Menschen war, seine Rückkunft erwartend, in der hinabführenden Straße versammelt. Es dämmerte schon etwas, als der König die breiten Steine an der Seite der Straße zu Fuße heraufgeschritten kam, nur von einem Adjutanten begleitet. Bei seinem Anblick brach die Menge in ein lauthallendes Vivat aus. Dieser Ruf mochte ihm so unerwartet sein, der Augenblick ihn in dem Bewußtsein seiner Lage so ergreifen, daß ihn die ihm sonst eigene Fassung verließ. Er zog sein Taschentuch hervor, bedeckte damit das Antlitz und ging so verhüllt einige Schritte weiter auf seinem Wege. Dann nahm er das Tuch wieder hinweg und schritt nun ernstgrüßend nach seiner Wohnung den Menschen vorüber, welche, erschüttert von der Träne ihres Herrschers, den gewaltigen Moment durch das tiefste, ehrfürchtigste Schweigen feierten.


Die Stadt war von den Trümmern des Heeres überfüllt und an ein Einquartieren der Soldaten wurde in der allgemeinen Unordnung nicht gedacht. Die armen Menschen suchten sich gegen die Herbstkälte in den Vorhallen der öffentlichen Gebäude, unter Schwibbögen, ober wo sonst ein Schutzdach überhing, zu bergen, wie es eben gehen mochte. Viele Tausende aber, die zu spät gekommen waren, lagen auf dem nackten Pflaster, und um wenigstens im Rücken einen Widerhalt zu haben, hatten sie sich zu beiden Seiten der Gassen gegen die Häuser gesetzt. So bildeten sie lange Spaliere Frierender, Hungernder, Murmelnder. In der Klosterstraße, worin das Haus meiner Eltern stand, war ein solches hauptsächlich aus Überbleibseln von polnischen Regimentern zusammengesetzt. Der Hunger quälte sie, und zwang manchen zur Befriedigung durch den verachtetsten Wegwurf, da die Mildtätigkeit der Einwohner einer solchen Menge doch nur spärliche Kost darreichen konnte. Am ersten und zweiten[44] Tage mögen zwischen vierzig- und fünfzigtausend Mann in Magdeburg gewesen sein. Für einen Leckerbissen galt es jenen armen Polacken, wenn sie zu dem hin und wieder empfangenen Kommißbrote eines Töpfchens mit braunem Sirup habhaft werden konnten, in welches dann oft eine ganze Korporalschaft gierig die Brotschnitten eintauchte.

Indessen dauerte dieser Zustand nicht lange. Hohenlohe zog ab und etwa zweiundzwanzigtausend Mann blieben in der Stadt, die der alte Kleist zu verteidigen denn doch notgedrungen sich das Ansehen leihen mußte. Es wurde sogar ein Wort ausnehmenden Heldenmutes von ihm umgetragen. Er sollte gesagt haben, er werde die Stadt halten, bis das Schnupftuch in seiner Tasche brenne. Jedermann machte sich daher auf eine Belagerung gefaßt und richtete sich auch im Hause ein, wie in einer Festung. Die wertvollsten Sachen, das Silberzeug und was sonst einer wenig Raum einnehmenden Verpackung fähig war, wurde in Koffer und Kisten getan und darauf mit saurer Anstrengung in den Keller befördert, den jeder für sich und die Seinigen auch als Zufluchtsort im Falle eines Bombardements erlas und zurichtete. Namentlich galt es für ein Sicherungsmittel gegen Bomben und Granaten, die Zugänge mit großen Düngerhaufen zu verwahren, so daß die Häuser bald wie polyphemische Herdengrotten aussahen und dufteten. Aber dieses und anderes dergleichen wurde vor dem Antlitze der Gefahr nicht beachtet.

Am meisten Sorge machte den Hausvätern die Verproviantierung ihrer Angehörigen. Mein Vater hatte kurz zuvor einen einfältigen Bauernburschen in Dienst genommen, weil es seine Sitte war, sich die Bedienten aus dem Stande der Roheit zuzuziehen; diesen sendete er nun in die nahen Dörfer aus, mit dem Befehl, an Lebensmitteln zusammenzubringen, was er bekommen könne. Der Mensch war bis dahin völlig unbrauchbar gewesen, faul, nachlässig, langsam bis zur Widerwärtigkeit; bei diesem Verpflegungsgeschäfte aber nahm er sich, vermutlich aus dem Grunde, weil die Sache seinen Magen mit betraf, unglaublich diensteifrig. Als ein wahrer Eulenspiegel der Versorgung hatte er im Wortsinne der empfangenen Ordre an Lebensmitteln zusammengebracht, was[45] zu bekommen gewesen. Mit einem vierspännigen Wagen passierte er ein, hochbefrachtet durch Säcke voll Korn, Mehl, Erbsen, Bohnen, Linsen, Kartoffeln, hinterher ging ein Gehilfe und trieb einen Mastochsen, mehrere Hammel und Schweine nach. Den Eltern wurde bei dem Anblicke dieser gigantischen Vorräte, die für einen zweiten Trojanischen Krieg auszulangen schienen, doch bedenklich zumute. Man ließ von den Säcken und von der Herde die Hälfte an Befreundete ab, und hatte kaum für den Rest Platz im Hause.

So waren denn die Bürger wohlbereitet auf Erdulden und Ausharren, und es kam nun darauf an, was der Gouverneur tun würde. Ende Oktober hieß es eines Morgens plötzlich, man könne nicht mehr zum Tore hinaus, weil die Franzosen davorständen. Jetzt also war die Stadt belagert, und wir Kinder wurden mit in den Belagerungsstand erklärt. Der Vater ließ uns nämlich abends nicht mehr zu Bette gehen, sondern der Reihe nach in den Kleidern auf einem Strohlager niederlegen, damit wir gleich munter und marschfertig seien, wenn das Bombardement angehe und Feuer ausbreche.

Ney machte an einigen Abenden schwache Angriffe auf das Krökentor und die Hohe Pforte, damit denn doch die Sache den Schein von so einer Art von Kriegsbegebenheit gewinne. Generalmarsch wurde geschlagen, ein halbes Stündchen an beiden Toren geschossen und zwei oder drei Granaten fielen in die Stadt. Das war das Ganze. Der französische Marschall wußte, mit wem er zu tun hatte und wollte einem Platze nicht schaden, den er schon für das Eigentum seines Herrn ansah. Bei einer jener Gelegenheiten sollten wir zugleich erfahren, wie tief sich das Verderben in den Stand eingefressen hatte, von welchem alles Heil des Vaterlandes erwartet worden war. Zwei Offiziere lagen bei uns in Quartier; zwei junge Lieutenants. Als nun in einer Nacht das Schießen begann und die Trommel zum Generalmarsch gerührt wurde, verfügte sich mein Vater zu den beiden hinunter, um sie zu wecken, kam aber nach einigen Minuten blaß vor Entrüstung zurück. Denn als er den beiden gesagt, sie[46] möchten aufstehen, der Feind greife die Stadt an und es werde Generalmarsch geschlagen, hatten sie versetzt, sie würden liegen bleiben. Und als er mit Nachdruck seine Botschaft wiederholt, hinzufügend, sie würden ihn wohl nicht recht verstanden haben, war ihm der eine ungeduldig in die Rede gefallen und hatte gerufen: Ja doch! Er solle sich doch deswegen keine unnütze Sorge machen, die Sache draußen werde schon ohne sie vonstatten gehen, und wirklich waren beide nicht zum Aufstehen zu vermögen gewesen.

Nachdem wir etwa vierzehn Tage lang in einer stumpfen Erwartung hingelebt hatten, hörten wir von französischen Parlamentariern, die mit verbundenen Augen zur Stadt hereingeleitet worden seien und bald darauf geschah, was bekannt genug ist. Der Fall von Magdeburg war schlimmer als die verlorene Schlacht. Denn daß sich alte ermüdete Geister im offenen Felde wider Napoleon nicht zu helfen gewußt hatten, bewies doch eigentlich nur die Überlegenheit, die dem Genie immer beiwohnt. Allein ganz anders verhielt es sich hinter den Wällen einer mit zweiundzwanzigtausend Mann Garnison und Vorräten aller Art wohlversehenen Stadt einem Feinde gegenüber, der nicht einmal Belagerungsgeschütz mit sich führte. Hier hätte eine ganz gewöhnliche Pflichterfüllung zugelangt. Und wollte man auch diese zu schwer für einen halbkindisch gewordenen Greis finden, so war doch der Umstand einzig in der Kriegsgeschichte zu nennen, daß unter den achtzehn Generalen und höheren Offizieren, aus denen Kleist seinen Rat zusammengesetzt haben soll, nur einer der Kapitulation zu widersprechen wagte.

Beinahe hätte der Ehrgeiz der Gemeinen, welcher in diesem Falle da rege war, wo er die wenigsten Antriebe empfing, am Morgen der Übergabe gefährliche Auftritte erzeugt. Die Leute waren schwer gereizt durch die schmachvolle Überlieferung, welche ihrer vollen Kraft und Stärke feiges Erliegen zumutete. Schon am Abend des siebenten Novembers hatten sich einzelne Unruhige geäußert, man müsse dem Gouverneur die Fenster einwerfen. Nun hatte man am andern Morgen in der Frühe unvorsichtigerweise von den Branntweinvorräten, welche in den Gewölben der Festung lagerten,[47] den Soldaten reichlich zapfen lassen, weil man lieber diesen das Gute gönnte als den Franzosen. Dadurch aber waren die Köpfe entzündet worden und es bildeten sich, als die Stunde des schimpflichen Hinausmarsches herannahte und als man wußte, daß die Franzosen bereits auf dem Glacis aufmarschiert standen, große Haufen, welche wie wütend durch die Straßen liefen. Verschiedenartig war das rasende Beginnen, welches diese Meuterer androhten. Die einen schrien: sie wollten den alten Hund (womit sie den Anstifter des Elendes meinten) massakrieren, die anderen vermaßen sich, auf die Franzosen draußen losgehen zu wollen; mit Mord und Brand gegen die Stadt warfen wieder andere um sich. Wenn der Aufruhr größere Massen ergriffen hätte, so wäre ein schweres Unglück zu besorgen gewesen. Denn Neys Schar wartete wohl nur auf eine günstige Gelegenheit einzudringen und dann in der Stadt, als in einer erstürmten, zu plündern.

Indessen wußten einige der im besten Ansehen stehenden Offiziere, welche den Haufen nachgingen, diese durch Zureden, Güte und List zu beruhigen, auseinanderzubringen und unschädlich zu machen. Die Garnison wurde getrennt und zu verschiedenen Toren ausgeführt. Auf diese Weise nahm alles einen unschädlichen Verlauf, man erzählte aber, daß ein großer Teil der Soldaten unterwegs zornig die Gewehre auf dem Pflaster zerschmettert habe und ganz waffenlos, oder doch nur mit verstümmelten Waffen auf dem Platze angekommen sei, wo diese gestreckt werden sollten.

Französische Husaren mit dicken Haarzöpfen sprengten in die Stadt, Chasseure folgten, bald zogen auch Infanterieregimenter ein, die gegen unsere Truppen ein ziemlich bettelhaftes Ansehen hatten, denn Ney führte eigentlich nur Halbgesindel. Die sogenannte »Löffelbande« war für die Festungen genügend erschienen, und die besten Regimenter hatten den Zug zu dem ernsteren Kampfe in Polen und Ostpreußen angetreten. – Wir wußten jetzt wirklich, woran wir waren, wie jene Offiziere im Zeughause vorausgesagt hatten, und der eigentliche Stand der Sache sollte bald ganz klar werden. Die Franzosen benahmen sich nämlich durchaus nicht wie in einem durch Kapitulation übergebenen Orte, sondern eine[48] Menge von Exzessen bezeichneten den Tag ihres Einrückens. Nun hatte sich gleich aus den Notabeln der Stadt eine Kommission zum Verkehr mit dem französischen Heerführer und zur Versorgung der städtischen Angelegenheiten zusammengetan. Diese wandte sich an Ney, da bei den untergeordneten Befehlshabern nichts auszurichten war, und bat um Schutz. Ney empfing die Bittenden äußerst höflich, versetzte aber auf ihr Gesuch, daß er unmöglich glauben könne, was sie ihm vortrügen, er kommandiere zu disziplinierte Truppen, eine kleine Erholung sei dem Soldaten auf seine Strapazen wohl zu gönnen. In der Nacht aber und am folgenden Tage mehrten sich diese Erholungen. Schränke wurden erbrochen, Silbersachen geraubt, Mißhandlungen an den ersten Einwohnern, Gewalttätigkeiten an Frauenzimmern verübt, so daß der Zustand nahe an eine Plünderung streifte und in diese übergehen mußte, wenn nicht von Seiten des Macht habenden augenblicklich Einhalt geschah. Die arme Kommission begab sich daher wieder zu diesem, wurde anfangs gar nicht vorgelassen, nachher mit finsterem Gesicht empfangen und heftig angefahren: Er begreife nicht, wie ihn die Stadt Magdeburg immerfort behelligen könne, da sie sich noch gar nicht um ihn bekümmert habe! – Die Mitglieder sahen einander betroffen an, da sie wußten, daß keine Form verletzt worden war, die der Überwundene dem Überwinder schuldig ist. Ungnädig entlassen verweilten sie draußen im Vorgemache noch einen Augenblick, über den Sinn der dunkelen Rede nachdenkend. Den legte ihnen nun ein Commissaire-Ordonnateur aus, welcher mit ihnen in Neys Zimmer gewesen und ihnen gefolgt war, vermutlich abgesandt von dem Marschall, um der deutschen Beschränktheit zu helfen. Er sagte ihnen nämlich ganz freundlich, der Herr Marschall verstehe eigentlich unter dem Bekümmern das übliche Geldgeschenk, womit sich eine eroberte Stadt von der Einbuße ihrer Glocken loskaufen müsse, welche nach Kriegsrecht dem Eroberer angefallen seien. Nachdem die Kommission solchergestalt den Sinn des französischen Kunstausdrucks gefaßt hatte, fragte sie schüchtern den gefälligen Zahlmeister, der aber in diesem Falle zum Einnehmer werden sollte, auf wie hoch denn etwa das »Bekümmern«[49] zu veranschlagen sei, und erhielt den Bescheid, einhundertfünfzigtausend Taler würden wohl hoffentlich genügen. – Dem ersten Entsetzen über diese unmäßige Forderung folgte dann ein förmliches Dingen und Feilschen, und man handelte bis auf einhunderttausend Taler (wenn mir recht erinnerlich ist) herunter. Fünfundsiebenzigtausend Taler wurden nun in wenigen Stunden durch Beisteuern der reichsten Einwohner aufgebracht, über den Rest der Summe ließ sich Ney Wechsel gefallen. Es versteht sich, daß auch die Umgebung zu bedenken war, und daß namentlich der Dolmetsch des fremden Ausdrucks ansehnliche Übersetzungsgebühren empfing. Tante Rustan hatte als eine wohlhabende Dame gleichfalls ihren Scherf zur Bekümmerung zahlen müssen. Ihr Gesicht soll wunderbar ausgesehen haben, als sie nach dem Geldschränkchen ging, die Rolle voll Goldstücke zu holen. Sie wußte nun desgleichen, woran sie war mit ihrem Helden, wenigstens mit seinen Lieutenants.

Sobald Ney das Glockenlösegeld empfangen hatte, ergingen die geschärftesten Befehle, Mannszucht herzustellen, einige der Eroberer niederen Grades, welche sich noch beigehen ließen, auch zu ihrem Glockenanteile in den Kisten der Bürger zu gelangen, wurden mit strengster Strafe belegt und jedermann war nun seines Eigentums und seiner Gliedmaßen sicher. Alle diese Vorgänge, über welche die Biographien des Fürsten von der Moskwa schweigen, hörten wir vom Vater erzählen, der auch in die Kommission eingetreten war.

Die Zeiten, welche einem Schlage, wie er damals alle Verhältnisse zerschmetterte, folgen, sind eigentlich keine Zeit. Die Menschen leben nur vom Abend zum Morgen, ihre Vorstellungen schwärmen ohne Zusammenhang umher, den Entschlüssen fehlt jede Konsequenz, alles verzettelt sich, bröckelt auseinander und schnappt in den kurzatmigsten Anstößen nach Luft. Ein Land, eine Provinz, der jeder höhere Lebensatem solcherweise abgeschnürt wurde, bietet den Anblick eines niedergetretenen Ameisenhaufens dar. Die Tätigkeit der Herstellung ist groß, aber die Menschen wimmeln auch nur so durcheinander in tierischem Instinkt, die Eierchen[50] wegzutragen, dieses Gängelchen und jenes Kämmerlein wieder auszuteufen. Der Egoismus zeigt sich in seiner häßlichsten Gestalt und die Gemeinheit deckt ganz scheulos ihre Blöße auf. Eine Karikatur erschien, welche Kleisten mit Beziehung auf das erzählte renommistische Wort des faselnden Greises darstellte. Das Schnupftuch hing ihm lang aus der Tasche und ein französischer Soldat steckte es mit einem Fidibus hinterrücks in Brand. Und es gab Menschen, welche dieses Witzbild über die Schmach der eigenen Stadt kauften, auch darüber zu lachen imstande waren. Wir Kinder mußten von allen Seiten den großen Kaiser Napoleon nen nen hören und seine außerordentliche Familie; da setzten wir uns hinter unsere Tuschkästchen, illuminierten kleine Landschaften und schrieben Dedikation darunter »an Napoleon den Unüberwundenen und Unüberwindlichen«, an die Kaiserin Josephine, an Murat.

Eylau tönte nach einigen Monaten aus weiter Ferne herüber, und Kolberg, aber das war doch nur Schall und Rauch. Lange vor dem Tilsiter Frieden stand es in der Überzeugung eines jeden fest, daß das Vaterland für uns verloren sei. Die Franzosen übten eine Nachsicht gegen die Anregungen, die der Patriotismus hätte finden können, welche von ihrer Verachtung zeugte. Schills Bild wurde bald in den Läden ausgeboten, Blücher ebenfalls, wie er bei Lübeck sich tapfer durchhieb, Friedrich der Große stand trübsinnig an eine abgebrochene Säule gelehnt, welche die Inschrift: »Preußens Größe« führte. Der Debit dieser Darstellungen wurde nicht gehemmt; ein Widerspruch gegen die nachmaligen argwöhnischen Beaufsichtigungen.

Aus historischen Träumen erwacht, die für Wirklichkeit gegolten hatten, stießen sich nun die Menschen gegen eine Wirklichkeit, die fast wie ein grauser Traum aussah.[51]


Zwischenbemerkung

Die Jugend wird, bis sie in das öffentliche Leben übertritt, erzogen durch die Familie, durch die Lehre, durch die Literatur. Als viertes Erziehungsmittel trat für die Generation, welche wir betrachten, der Despotismus hinzu. Die Familie hegt und pflegt sie, die Lehre isoliert sie, die Literatur wirft sie wieder in das Weite. Uns gab der Despotismus die Anfänge des Charakters. Ich werde in den folgenden Abhandlungen von diesen vier Erziehungsmitteln reden, mit der Familie aber den Anfang machen.

Bei der Charakteristik der älteren deutschen Familie werde ich nicht von vornehmen Häusern, oder von solchen Gemeinschaften, worin ausgezeichnete Eltern, Freunde und Hausgenossen einen gesteigerten geistigen Zustand hervorbrachten, die Züge entlehnen, sondern meine Absicht ist, den Mitteldurchschnitt der damaligen deutschen Häuslichkeit zu schildern. Wie die Familie aussah, wenn sie weder arm noch reich war, weder zu den Proletariern noch zu den Sommitäten gehörte, wenn die vier Wände des Hauses Verstand, Einsicht, Gesinnung umschlossen, ohne daß gleichwohl diese Eigenschaften sich zur Höhe der Berühmtheit emporbrachten, werde ich anzugeben versuchen. Denn gerade solche Umstände haben beides geliefert, einmal das Niveau der Jugend, welches beschrieben werden soll, und dann auch wieder die Mehrzahl unserer größten Denker und Dichter. Von diesen nenne ich, wie sie mir eben einfallen: Reinhold Forster, Leibniz, Lessing, Schiller, Goethe, Hegel, Fichte, Klopstock, denen noch viele beizugesellen wären.

Die mittlere Region welche ich im Auge habe, scheint also zur Hervorbringung des Volkes im besseren Sinne, und seiner geistigen Anführer die geeignetste zu sein und die vorzüglichere Aufmerksamkeit zu verdienen, wenn deutsches Leben im allgemeinen zu erläutern ist. Was namentlich die höheren Stände jener Zeit betrifft, so haben ihre Genossen nur insofern an der großen Bewegung teilgenommen, als sie nach dem Zusammenbrechen der Verhältnisse nicht eigentlich mehr aristokratisch-vornehm weiterleben zu können sich beschieden,[52] dadurch aber, bei manchen fortdauernden äußeren Verschiedenheiten, sich dem inneren Kerne nach den Mittelklassen anschlossen. Aus sogenannten geistreichen Häusern aber oder aus Häusern berühmter Männer geht selten eine Jugend hervor, die für sich Charakter besitzt und entschiedene Farbe.

Quelle:
Immermann, Karl: Memorabilien. München 1966, S. 20-53.
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