Erstes Kapitel

[319] Dem Herausgeber dieser Geschichten ist es zuweilen begegnet, daß gute Freunde oder Bekannte, welche er in geraumer Zeit nicht gesehen hatte, und welche ihn nachmals mit einem unerwarteten Besuche überraschen wollten, diese Überraschung auf doppelte Weise bewerkstelligten, nämlich auch durch eine verwandelte Persönlichkeit. Nicht selten geschah es, daß der Leichtsinnige ernst, der Muntre schwerfällig, der Rührige bequem geworden war. Da wir aber dergleichen Ändrungen uns nicht vorzustellen vermögen, vielmehr die Menschen in unsern Gedanken immer bleiben, was sie gewesen sind, so geht es bei derartigen plötzlichen Begegnungen nie ohne ein unangenehmes Gefühl ab.

Um dem Leser der vorliegenden Denkwürdigkeiten jenes unangenehme Gefühl zu ersparen, müssen wir jetzt ankündigen, daß eine Person, die im Beginne unsrer Erzählung flüchtig vorüberstreifte, nunmehr den Boden derselben in verwandelter Gestalt wieder betritt. Man wird sich noch des Freundes von Hermann erinnern, des Philhellenen, welcher ihn über seine unentschiedne Gesinnung einigermaßen mitnahm, und voll Tatendrang von ihm schied. Dieser junge Mann kam wirklich mit dem Gelde Hermanns bis nach München, wo er noch Empfehlungsbriefe mitnehmen wollte, bereit, sein Blut für Hellas zu verspritzen. Dort erkundigte er sich nach dem Mädchen, welche eine Zeitlang Hermanns Herz besessen hatte, um ihr die ihm vertrauten Liebespfänder einzuhändigen. Sie empfing ihn als Freund ihres Freundes, und er ging vom ersten Tage an zu allen Stunden im Hause aus und ein. Denn durch ein Zusammentreffen der Umstände mußte es sich fügen, daß er auch mit ihrem Vater gleich vertraut werden konnte. Dieser,[319] ein wohlhabender Mann, besaß ein großes Brauhaus. Er war, sobald sich dort die Vereinigungen zugunsten der unglücklichen Griechen zu bilden begannen, einer derselben als eifriges Mitglied beigetreten. Vielleicht handelte er hierin nicht ganz ohne Eigennutz; man sagt, er habe in Erwägung gezogen, daß so viele an das landübliche Getränk Gewöhnte nach jenen fernen Gegenden auswanderten, und im stillen beabsichtigt, eine Niederlage seines Produktes nahe bei Athen anzulegen.

Zu diesem Manne hielt sich der Philhellene, der jenem durch sein entschiednes, feuriges Wesen, und die Gabe ausdrucksvoller Rede ungemein gefiel. Die Gönner, welche dem Wandrer behülflich sein sollten, waren verreiset; der Münchner Aufenthalt zog sich in die Länge. Unerwartet, aber sehr willkommen, tat sein neuer Freund ihm den Vorschlag, bei ihm Quartier zu empfangen; welches dankbar angenommen wurde. Sie unterhielten sich nun, sooft es die Geschäfte des Hausherrn erlaubten, von nichts als von ihren Planen für die Herstellung und Beglückung des den Türken abzunehmenden Landes.

Die Zwischenzeiten füllten Gespräche mit Fränzchen aus. Dieses gute, muntre, hübsche Kind hatte doch im stillen einige Tränen vergossen, als Hermann aus Scherz Ernst machte, und ihr die Andenken zurücksandte. In solchen Stimmungen sind die Frauenzimmer bekanntlich am geneigtesten, einer neuen Empfindung Gehör zu geben. Sie bemerkte daher nicht so bald, daß die Blicke des Philhellenen ihr zu folgen anfingen, als die ihrigen die Gefälligkeit bezeigten, sich finden zu lassen. Den Herzen, die zueinander strebten, folgten binnen kurzem die Hände und die Lippen, und mit dem feierlichen Schwure von seiten des Liebhabers, daß sie sein zukünftiges Eigentum am Öta als Hausfrau schmücken solle, ward der Bund geschlossen.

Nun begannen für den Philhellenen Tage, die, wie er zu Franzisken sagte, ihm eine neue Welt öffneten. Er liebte nach seiner Versicherung jetzt die ganze Menschheit; er schwärmte mit dem Vater und koste mit der Tochter. In dieser Empfindung habe sich erst seine ganze Manneswürde entwickelt, rief er hundertmal des Tages aus. Auch wenn der Vater schon zur Ruhe gegangen war, blieb er noch bei Fränzchen, wo sich denn[320] ihre gegenseitigen Empfindungen nicht selten so steigerten, daß Worte denselben unmöglich mehr genügen konnten.

Aber aus den Freuden dieser Abende entsprang eine natürliche Folge, worüber der Philhellene so erschrak, daß er, als Fränzchen sie ihm mit trauriger Miene zuflüsterte, wie vom Donner gerührt, dastand. Denn er, versenkt in seine großen Ideen von Menschenwohl und Volksbefreiung, hatte gewiß niemals an einen so alltäglichen Ausgang gedacht. Er lief zwei Tage hindurch wie ein Verzweifelnder umher, dann fiel er dem Brauherrn zu Füßen und gestand seine Schuld. Der Alte wurde braun vor Zorn, und drohte mit einer unanständigen Bezeichnung, beiden Arme und Beine entzweizuschlagen. Da aber geschehne Dinge nicht zu ändern sind, der Übeltäter seine Neigung besaß, und der Jammer des Mädchens gar gewaltig zum Vaterherzen sprach, so konnte er die Vergebung nicht zurückhalten, die er denn unter der Bedingung erteilte, daß wer für den Balg gesorgt habe, nun auch für den Papp sorgen solle.

Dieses war gerade, wofür die Seele des Philhellenen seit der unglückseligen Entdeckung brannte. Sein neuer Stand hatte in ihm das Bewußtsein neuer Pflichten erzeugt. In allen braven heldenhaften Studenten, Kandidaten und Privatdozenten ist es eigentlich nur der Philister, der innerlich juckt, und hinauswill, was denn auch bald zu geschehn pflegt, während an Universitäten und Akademien so arme, kümmerliche übersehne Gesellen umherschleichen, aus denen nachher die Genies und Lichter der Welt werden. Im Philhellenen hatte die Katastrophe den Philister mit Macht herausgeschlagen, der bei einem ruhigeren Gange der Dinge vielleicht längerer Zeit bedurft hätte, um sich zur vollständigen Blüte zu entfalten. Er empfand sich als angehenden Vater und Gatten, verspürte eine wahre Begeistrung für den Broterwerb, zerriß die Bilder der Pallikaren und die neugriechischen Volkslieder, welche er bei sich führte, und dachte nur daran, wie er ein Ämtchen erringen solle, wovon er sich und Fränzchen nähren könne.

So war er durch die Natur dem Vaterlande und der Bürgerlichkeit gewonnen worden. Sein zukünftiger Schwiegervater kannte den Legationssekretär einer auswärtigen Macht, welcher gern Bier trank. Dieser empfahl ihn einem Legationsrate,[321] der Legationsrat dem Gesandten. Vom Gesandten schwang sich die Kette der Empfehlungen wieder abwärts bis zu einem Polizeichef in einer bedeutenden norddeutschen Stadt. Wie von da die Kanäle weiter geflossen, ist unbekannt geblieben; das Ende der Sache war aber, daß man dem Philhellenen erlaubte, im Polizeifache, welches immer frische, rüstige Leute erfordert, zu arbeiten. Kaum waren einige Monate vergangen, als man ihn, der einen unglaublichen Diensteifer an den Tag legte, zum Polizeikommissarius in einem Ackerstädtchen zwischen Hessen und Westfalen ernannte.

Er führte Fränzchen, sobald er dieser besoldeten Würde sich erfreute, heim. Sie genas kurz darauf von ihrer Bürde. Nie hatte die Gegend einen tätigeren Beamten gesehen. Die Kraft, welche sonst weit über Berge und Ströme hinausgeschweift war, lenkte sich jetzt ganz auf Vertilgung des Diebes- und Bettelgesindels, von welchem es dort, der schlechten bisherigen Aufsicht wegen, wimmelte. Vor ihm war kein Gauner sicher, kein Vagabunde konnte mehr in Ruhe hinter der Hecke seinen Bissen verzehren; er lebte fast mehr in verdächtigen Häusern, als in seinem eigenen.

Wirklich hatte er sich schon Verdienste um den Bezirk erworben und die Aufmerksamkeit der Obern sich zugelenkt. Gerade um die Zeit, von welcher wir jetzt reden, geschah die Entdeckung neuer demagogischer Umtriebe; man war dem Bunde der Jungen hart auf die Spur gekommen. Zugleich hatte man in Erfahrung gebracht, daß ein Schwarm junger Hochverräter nach dem Landstriche, in welchem unser verwandelter Schwärmer hantierte, ziehe, um da herum seinen Frevelsabbat zu halten.

Der Polizeikommissarius empfing einen geheimen Auftrag von höchster Stelle. Er war gemessen, ehrenvoll, über die engen Amtsgrenzen hinausreichend. Welch ein Sporn für seinen jetzigen Trieb! Er wurde etwas tiefsinnig, man sah ihn viel durch Feld und Wald schweifen, seiner Gattin antwortete er kaum noch auf ihre Anreden. Er brachte in größter Heimlichkeit Gefängnisse, Arm- und Beinschellen in Ordnung. Den Gendarmen und niedern Agenten gab er Befehle und Winke, welche diese nicht immer verstanden. Er aß nichts und trank[322] wenig. Seine Nächte waren unruhig. Er flehte Gott an, daß er ihm die Demagogen in das Netz führen möge.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 319-323.
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