Sechstes Kapitel

[597] Am folgenden Morgen bat Hermann die Frau des Predigers um die Erlaubnis, dem Begräbnisse zusehn zu dürfen. Sie wollte davon nichts wissen, weil ihn der Oheim zu Gesichte bekommen könne. Er versprach, auf dem obersten Teile der Anhöhe hinter Büschen verborgen bleiben zu wollen.

Um ihren Mann über das Anliegen zu befragen, ging sie in dessen Studierzimmer. Dieser hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, außer dem Gebete eine kurze Rede am Sarge zu halten, und schritt, Inhalt und Ausdruck in Gedanken erwägend, auf und ab. Er war im Zustande der Meditation von allen andern Dingen immer gänzlich abgekehrt, antwortete daher seiner Frau, ohne recht zu wissen, wovon sie redete, auf ihre Frage zerstreut: »In Gottes Namen, störe mich nur nicht ferner!«

Der Kranke rief, als er die Einwilligung vernahm: »Das ist mir recht lieb! Ich muß mehr Zerstreuung haben. Seitdem mit meinem Rocke etwas vorgegangen ist, bin ich so unruhig!«

Nach einigen Stunden hörte der Prediger erst, wozu er seine Beistimmung gegeben hatte. Er war darüber sehr erschrocken, und wollte durchaus, daß der Kranke von seinem Vorhaben abgebracht würde. Indessen mußte man es gehen lassen, denn Hermann verriet in Farbe und Mienen wieder einen heimlichen Zorn, sobald seine Pflegemutter versuchte, ihm jenen Gang auszureden.

Im Hause des Oheims herrschten sehr verschiedenartige Beschäftigungen. Cornelie übte mit den jungen Mädchen den[597] Psalm ein, welcher an der Gruft gesungen werden sollte, und wand mit ihnen die Kränze, zum Schmuck des Eingangs bestimmt. Der Oheim war dagegen mit seinen Geschäftsleuten in die weltlichsten Beratungen versenkt. Der Vorteil, welcher dem ganzen Fabrikbetriebe und also nach der gestifteten Einrichtung auch ihnen teilweise durch den Anfall der Standesherrschaft zuwuchs, war unermeßlich. Kaum hatten sie das Erwachen ihres Herrn und Meisters abwarten mögen, ihm alles das, was die Nacht hindurch in ihren Köpfen gegärt, vorzutragen; um seinen Frühstückstisch versammelte sich schnell eine zahlreiche Gruppe von Ratschlagenden, Entwürfeverkündenden, welche ihre Gedanken auch sogleich dem Auge durch Listen, Rechnungen, und schnell gefertigte Risse anschaulich zu machen sich bestrebten. Einer der Rührigsten wurde noch an demselben Vormittage nach jenen Gütern abgefertigt, um namens des nunmehrigen Eigentümers Besitz zu ergreifen. Nutzte man die Kräfte, welche durch den neuen Erwerb gewonnen worden waren, in bisheriger schwunghafter Weise, so ließen sich einem solchen Geschäfte kaum noch Grenzen ziehn, nur in England waren die Ähnlichkeiten für derartige Gewerbsgröße aufzufinden. Diese Betrachtungen rührten zu dem Vorsatze, eine bedeutende überseeische Abzweigung des Kapitals zu bewirken.

Der Oheim nahm an der Unterredung lebhaft teil. Jedem Menschen ist eine Signatur in die Seele eingeschrieben, und die Entfernung von diesem Urzeichen der Lebensentfaltung bleibt immer nur eine scheinbare. Auch er hatte eine unruhige Nacht gehabt. Mit siegender Gewalt nahmen ihn die Bilder der neuen Tätigkeiten gefangen, und drängten die stillen entsagenden Vorstellungen zurück, mit welchen er bis zum Ende seiner Tage auszureichen gemeint hatte. Besonders war ihm der Blick verlangend über das Meer gerückt; er wünschte sehnlich eine Herstellung von seinen Gebrechen, um sich noch die Anschauung jener fernen erzeugnisreichen Gegenden gewinnen zu können.

Zwischen diesen Verhandlungen langte eine Botschaft Theophiliens an. Sie hatte den Schlüssel zu dem Erbbegräbnisse der Grafen in Verwahrung, und diesen heute den Männern[598] herausgeben müssen, welche den Sarg der Tante von seiner vorläufigen Ruhestätte zu erheben bestimmt waren. Nun bat sie den Oheim schriftlich, allen ferneren Ansprüchen auf die Gruft ihrer Ahnen zu entsagen, welche ihm von keinem Nutzen mehr sein könne, da er für sich und die Seinigen ein eignes Gewölbe errichtet habe.

Der Oheim sagte, nachdem er den Brief gelesen hatte: »Da uns das Schicksal gewaltsam in das Leben zurückdrängt, so wollen wir immerhin den Toten die Toten überlassen. Es ist mir lieb, den Grillen dieser untergegangnen Frau eine Nachgiebigkeit erzeigen zu können. Vielleicht versöhne ich sie dadurch mit mir.« Er setzte sich nieder, stellte eine verzichtende Erklärung, wie sie dieselbe begehrt hatte, aus, und überließ die Gruft der erloschnen Familie dem letzten Sprößlinge zur uneingeschränkten freien Verfügung.

Nach dem Mittagsessen, welches man noch mehr, als gewöhnlich, abgekürzt hatte, begaben sich die Männer, welche den Sarg tragen wollten, eilig den Schloßberg hinauf. Der Oheim verweilte eine kurze Zeit bei Cornelien, deren Augen über das zerstreute und der Feier des Tages abgekehrte Wesen trübe geworden waren. Man sah es allen nur zu deutlich an, daß sie das Totenfest abgetan wünschten, um sich den so mächtig andringenden irdischen Hoffnungen mit ganzer Seele hingeben zu können. In ihrer reinen Trauer über diesen grellen Widerspruch der Menschen und Dinge nahm sie den Oheim, als sie mit ihm allein war, beiseite, und sagte zu ihm: »Nicht wahr, Vater, wir fahren nach der Bestattung mit dem Prediger spazieren, und bleiben auch den Abend für uns?«

»In deiner sanften Frage liegt für mich ein schwerer Vorwurf«, versetzte der Oheim. »Wenn es wahr wäre, daß zwischen den Seelen der Menschen ein wesentlicher Unterschied bestände, wie manche haben lehren wollen! Wenn nur einige zur Erhebung, zum Leben des Geistes bestimmt wären, andre dagegen unwiderruflich in den Schlamm und Tod versinken müßten, und alle Mühe, von diesem eingebrannten Male der Nichtigkeit sich zu reinigen, umsonst aufwendeten!«

»Welche Gedanken!« rief Cornelie.[599]

»Ich will wenigstens hienieden nützen, wie ich kann«, fuhr der Oheim fort. »Zu meinen Beschickungen gehörst auch du, Cornelie, du bist die süßeste derselben. Sollte ich aus der Welt gehn, ehe ich dich an der Seite eines Gatten versorgt weiß, so wird dein Los von mir genügend festgestellt worden sein.«

Cornelie sank ihm zu Füßen, und sprach mit leuchtenden Blicken: »Sorge du nicht um mich, und nicht für mich, mein Vater. So gewiß dies meine Hand, und jenes meine Füße sind, so gewiß weiß ich, daß, wo ich stehe, oder mich niederlege, wohin ich gehe und trete, ich behütet und geschirmt bin. Wenn das nicht wäre, so hätte ich ja so früh meine Eltern nicht verlieren können. Glaube mir, mein Vater, mir wird es immer wohl gehn, recht wohl. An meinem Herde wird sich der Dürftige wärmen, und unter meiner Pforte werden die Müden sitzen. Darum entziehe du deinem Sohne und den Freunden, die mit dir gearbeitet haben, nichts von dem Deinigen; Cornelien schenke du nur, wenn es denn einmal so weit ist, deinen letzten Blick und Hauch, das soll meine Erbschaft sein.«

Er fragte einen Eintretenden, welcher meldete, daß der Leichenzug vom Schloßberge herabzusteigen beginne, nach Ferdinand. Jener versetzte, daß er den Knaben aufgefordert habe, ihm zu folgen, daß dieser aber, ohne ihm Antwort zu geben, den Berg nach der Gegend des Weihers zu hinaufgestürmt sei.

Seufzend machte sich der Oheim in seinem kleinen Fuhrwerke, neben welchem Cornelie herging, auf den Weg. Den Vorplatz des Mausoleums bedeckte eine zahlreiche Menschenmenge, welche nicht die Neugier allein, sondern auch so ein dankbares Erinnern herbeigezogen hatte, denn die Verstorbne war die Wohltäterin vieler Bedürftigen gewesen. Die Pforten des Gewölbes waren aufgetan, zu beiden Seiten standen die festlichgeschmückten Jungfraun im Halbkreise. Cornelie gesellte sich, sobald sie mit dem Oheim auf der Höhe anlangte, zu ihnen. Er ließ seinen Sessel der Pforte gegenüberstellen, und erwartete den Zug, dessen Annahen die in immer dichteren Haufen den Berg heraufdringenden Menschen verkündeten.[600] In der Mitte des Platzes war mit leichten Stäben ein freier Raum für den Sarg, seine Träger, den Prediger und die Schulkinder abgesteckt worden.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 597-601.
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