Dreizehntes Kapitel

[483] Nur wenn er sich bewußt ward, daß er Johannas Wandnachbar sei, oder wenn er bei ihr verweilen durfte, empfand er eine Beruhigung in diesem Treiben. Er war viel bei ihr, aber doch nicht so oft, als er wünschte. Eine Zärtlichkeit ohne Leidenschaft trieb ihn gegen sie, er begriff nicht, wie er nach ihrer Abreise sich werde zu fassen imstande sein, und doch konnte er Corneliens zu gleicher Zeit gedenken, lebhaft und schmerzlich nach ihrem, ihm für immer entzognen Besitze verlangen. Er wollte sich Vorwürfe über diese Doppelempfindung machen, die seinem Verstande zweideutig erschien, aber es stellte sich keine Reue ein, sein Gefühl blieb unversehrt. Er war ein Fremdling in seinem eignen Herzen geworden.

Es gibt nicht Erquickenderes, als den Anblick einer großen vornehmen Seele, welche das Unglück als etwas ihr Gehöriges, als das heilige ihr von den obern Mächten verliehene Eigentum nimmt und hinnimmt, während kleine Gemüter sich gegen dieses Erbteil unsres Lebens unter Winseln und Wehklagen fruchtlos sperren. Johanna war ruhig, selbst heiter. Sie verhehlte gegen Hermann nicht, daß ihr Los ihr für immer zerstört zu sein scheine, »aber«, setzte sie hinzu, »wie unendlich wohler ist mir jetzt, wo ich die Brandstätte überschaue, als[483] damals, wo ich noch mit Rauch und Flammen unselig kämpfte!«

Über die Geheimnisse ihrer unglücklichen Ehe, über Medons Charakter, und die plötzliche Wendung seines Schicksals beobachtete sie ein strenges Stillschweigen. Einmal hatte Hermann versucht, von weitem und in der bescheidensten Weise ihre Lippen über diese Dinge aufzuschließen, war aber mit den Worten, daß man von unheilbaren Schäden nicht reden müsse, zurückgewiesen worden. Alle diese sonderbaren Verwicklungen blieben ihm also tief zugehüllt, und er brachte von denselben nur in Erfahrung, was die Gerüchte aus der Hauptstadt meldeten, aus welcher ihm während dieser Tage mehrere Briefe zukamen. Sie sprachen von einer großen Verschwörung, welche auf den Umsturz des Thrones und auf Fürstenmord berechnet gewesen sei. Die bedeutendsten Männer seien in das Komplott verflochten, selbst Staatsminister bezeichne die öffentliche Stimme wenigstens als entfernte Teilnehmer.

Einen dieser Briefe, den ihm Madame Meyer geschrieben, mußte er Johannen, wiewohl er es ungern tat, zum Lesen geben, da er mehreres für sie insbesondre enthielt. Nachdem sie ihn durchgelesen, sagte sie: »Es steht besser und schlimmer, als diese Zeilen berichten.«

Sehr wohltuend war das Verhältnis, in welches sie sich zu den Umgebungen gesetzt hatte. Zuvörderst war in den Zimmern, welche sie innehatte, unter ihren und Hermanns Händen Ordnung und Ebenmaß entstanden, alles Anstößige hatte sich aus denselben still verloren, manches würdige Kunstwerk, welches der Domherr denn doch auch mit vielem Tande zufällig hin und wieder erworben, war ihr von Flämmchen und der Dienerschaft, als müsse dieses so sein, zugebracht worden. So hatten ihre Gemächer bald das Ansehen einer schönen Insel inmitten eines wüsten Meeres von Unsinn.

Von dem Getöse, welches unsrem Freunde so beschwerlich fiel, schien sie nichts zu vernehmen. Als ihr Hermann seine Bewundrung über dieses gleichmütige Erdulden aussprach, erwiderte sie: »Ich habe mir vorgenommen, nicht danach hinzuhören, und so gelingt es mir auch. Man sagt, daß die Bewohner einer Mühle sich an deren Klappern gewöhnen können,[484] daß sie sogar aus dem Schlummer erwachen, wenn die lärmenden Räder gehemmt werden, und die hiesigen Töne sind doch noch nicht so laut und schlimm, als Mühlengeräusch.«

Trat sie aus ihren Zimmern, so verwandelte sich vor ihrer Erscheinung alles, was der Verwandlung fähig war. Die jungen Leute ließen von den Albernheiten ab, nahten ihr bescheiden und waren auf eine Zeitlang anständig und gesittet. Die Diener und Mägde, welche sich in dieser aufgelösten Wirtschaft ein gemeines lautes Wesen angenommen hatten, gingen, still, mit niedergeschlagnen Augen, ihre Wege, und widersprachen, wie sie sonst pflegten, den erteilten Befehlen nicht; Flämmchen endlich trocknete Tränen, welche ein ihr ewig Versagtes beweinten.

Zum zweiten Male in kurzer Zeit erblickte Hermann die Wirkungen der Weiblichkeit über eine rohe Welt. Wie Cornelie dort über die Hirten, so herrschte hier Johanna über die Barbaren, welche die Verfeinerung unsrer Zeiten wieder erzeugt hat. Auch sie wußte, wie Cornelie, nichts von ihrer Macht. Sie ordnete selbst kleine gemeinschaftliche Vergnügungen an, nahm an Spazierfahrten und Wasserpartien teil, und schien sich einfach und natürlich zu dieser Gesellschaft zu rechnen, von welcher sie ein unermeßlicher Abstand trennte.

Das ist die heilige Gewalt der Frauen, welche sie zu Priesterinnen, Heerführerinnen und Königinnen kraftvoll aufstrebender Völker macht, und der sich zu keiner Zeit jemand ohne seinen Schaden entzieht.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 483-485.
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