Erstes Kapitel

[407] Abermals sah Hermann das tiefe gewundene Tal vor sich liegen, aus welchem die weißen Fabrikgebäude des Oheims hervorleuchteten. Die Maschinen klapperten, der Dampf der Steinkohlen stieg aus engen Schloten und verfinsterte die Luft, Lastwagen und Packenträger begegneten ihm, und verkündigten durch ihre Menge die Nähe des rührigsten Gewerbes. Ein Teil des Grüns war durch bleichende Garne und Zeuche dem Auge entzogen, das Flüßchen, welches mehrere Werke trieb, mußte sich zwischen einer Bretter- und Pfosteneinfassung fortzugleiten bequemen. Zwischen diesen Zeichen bürgerlichen Fleißes erhoben sich auf dem höchsten Hügel der Gegend die Zinnen des Grafenschlosses, in der Tiefe die Türme des Klosters. Beide Besitzungen nutzte der Oheim zu seinen Geschäftszwecken. Auch die geistliche hatte er unter der Fremdherrschaft zu billigem Preise erworben. Lange Gebäude, mit einförmigen Trockenfenstern versehen, unterbrachen die Linien der gotischen Architektur auf der Höhe und in der Tiefe; der Wald, welcher die Hügel bedeckte, war fleißig gelichtet.

Gräfin Theophilie kam ihm entgegen, in einem Buche lesend. »Was führt Sie her?« fragte sie ihn. Er gab eine allgemeine, ausweichende Antwort, und da er von ihr manches über den Oheim zu erfahren wünschte, so trug er sich ihr zum Begleiter an. Sie gingen über angenehme Busch- und Wiesenplätze. Die Bleichen und Betriebsamkeitsstätten vermied sie, nach andern Gegenden strebte sie mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit hin. Er sah an solchen Stellen Rasenbänke oder Überbleibsel ehemaliger Pavillons und Tempel.

Sie stiegen den Berg hinauf, und standen nach einer kurzen Wendung vor dem Seitenflügel des Schlosses. »Wenn meine[407] Gesellschaft Sie nicht langweilt, und die enge Wendeltreppe Sie nicht abschreckt, so kommen Sie immerhin noch ein wenig zu mir«, sagte sie.

Als er sich oben nach kurzem Gespräch von ihr beurlauben wollte, hielt sie ihn angelegentlich zurück und rief: »Sie sehen ein, wie wohl es mir tut, mit jemand mich zu unterhalten, auf dessen Stirne nicht der Wechselkurs geschrieben steht, oder dessen Kleider nicht vom Rauche der Maschinen duften! Das Plaudern ist von alters her mein Element, ich finde es sehr begreiflich, daß jene Französin in den amerikanischen Wildnissen einige hundert Meilen weit wanderte, um mit einer Nachbarin zu schwatzen, und ich könnte es in gleichen Verhältnissen ihr wohl nachtun. Da nun heute zum Glück ein Herr Nachbar mich besucht, so will ich diese Gunst des Zufalls auch recht ausbeuten.«

Er erwiderte ihr, der Oheim werde es übelnehmen, daß er in seiner Nähe verweile, ohne ihn zu begrüßen. Sie erzählte ihm darauf, daß jener nicht mehr oben im Schlosse wohne, sondern mit dem ganzen Hausstande in das Kloster unten im Tale gezogen sei, um dem Arzte näher zu sein, da er seit dem Mordanfalle auf dem Feste des Herzogs beständig kränkle.

»Überhaupt«, fügte sie hinzu, »ist er jetzt mit einem Hausgeschicke so beschäftigt, daß ihm alles andre ziemlich gleichgültig sein wird. Unsereiner, die von Haus und Hof weggekauft worden ist, tut es recht wohl, zu sehn, wie die Fügungen der Natur sich nicht abkaufen lassen, und dem größten Rechner eine unsichtbare Gestalt zur Seite geht, welche allerhand Ziffern dem Kalkül einmischt, auf die er nicht gezählt hatte.«

Da diese Anspielungen sein verwandtschaftliches Gefühl beleidigten, so suchte er dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, und befragte sie über einige Verhältnisse des Hofes, an dem sie ihre Rosenzeit zugebracht hatte, worüber er denn auch gleich die genaueste und freigebigste Auskunft erhielt.

Sie ging hinaus, um einige Bestellungen für das Abendessen zu geben, welches er mit ihr einnehmen sollte, und er benutzte diese Pause, sich in ihrem Zimmer umzuschauen. Eine Menge sehr sauber gezeichneter Geschlechtstafeln der ersten Familien des Landes hing an den Wänden umher, zwischen denselben[408] sah man viele vornehme Gesichter in Miniaturporträts. Als er den Inhalt eines kleinen Bücherschranks musterte, erblickte er sämtliche Jahrgänge des Gothaer historisch-genealogischen Kalenders in Reihe und Glied aufgestellt, damals einundsechzig an der Zahl, welche in solcher Vollständigkeit sich wohl schwerlich in der Bibliothek einer zweiten Dame versammelt haben mögen.

»Das ist mein Zirkel«, sagte sie lächelnd, als sie ihn in die Betrachtung dieser Dinge versenkt fand. »Die Stammbäume habe ich selbst gezeichnet, und mich dabei im Gedächtnis der Personen erfreut, die ich gekannt, und wenn ich die Blätter der Kalender aufschlage, so blühen mir bei jeder Familie Geschichten entgegen. Die Gegenwart kann mir nicht gefallen, Zukunft hat ein armes Fräulein bei Jahren nicht mehr, da suche ich denn an der Vergangenheit, in der das Leben etwas wert war, meine Tage zu fristen.«

Er fühlte, welcher Ton hier anzuschlagen sei, um sich behaglich zu empfinden. In einem der Kalender blätternd, nannte er den Namen eines der darin verzeichneten gräflichen Häuser, und hörte sogleich aus dem Munde seiner Wirtin das anmutigste Reise- und Liebesabenteuer, welches den Stammherrn vor soundso vielen Jahren betroffen hatte.

Nun waren die Schleusen der Unterhaltung einmal aufgezogen. Erzählungen entwickelten sich aus Erzählungen, eine Geschichte nach der andern schachtelte sich ein, und wenn der ursprüngliche Faden schon ganz verlorengegangen zu sein schien, so sprang irgendwo wieder durch eine Hof- und Staatsfigur unvermutet der Zusammenhang hervor. Scheherezade schien aus ihrem Grabe erstanden zu sein, um einem andächtigen Zuhörer die Gesamtchronik des Lebens der höheren Stände zu veroffenbaren.

Hermann fühlte sich auf das angenehmste gefesselt, und berührte die Speisen kaum, welche inzwischen aufgetragen worden waren. Alle diese Verwicklungen, Galanterien, Mißverständnisse, Entzweiungen und Versöhnungen, welche so vielen hohen Personen, von denen die meisten ihr Blatt in der Geschichte besaßen, einen bedeutenden Teil ihrer Zeit hinweggenommen hatten, drehten sich zwar eigentlich um nichts,[409] aber es war das liebenswürdigste Nichts, was man sich denken konnte, und selbst der feine Duft zierlicher Sünde, welcher sich durch die Kapitel dieses weitschichtigen Romans hindurchzog, verlieh den Begebenheiten, wie sehr man sie auch hin und wieder tadeln mußte, einen besondern Reiz mehr. Was aber die Hauptsache war: eine lebende Person gab in diesen Historien ihr Leben, das was ihr das Leben bedeutet hatte, aus, und Lebendiges wirkt immer, es sei auch was es sei.

Als die erzählende Dame einmal Atem schöpfen mußte, und hiedurch eine Unterbrechung ihrer Mitteilungen entstand, nahm Hermann die Gelegenheit zu reden, wahr, und sagte: »Eins ist mir bei Ihren Geschichten höchst merkwürdig. Ich sehe Fürsten, Heerführer und Staatsmänner, welche mit dem größten Ernste das Schicksal der Völker geleitet und entschieden haben, während der Zeiten ihrer würdigsten Tätigkeit in die leichtesten, ja leichtfertigsten Händel verstrickt. Was uns andre leidenschaftlich abwärts getrieben haben würde, scheint sie, wie ein flüchtiges Aroma, nur zu noch energischerem Wirken zu begeistern, und das Bewußtsein, welches uns in derartigen Strudeln abhanden gekommen wäre, in ihnen zu steigern. Es kommt mir daher fast so vor, als ob man, um die recht großen Dinge in der Welt zustande zu bringen, weniger arbeiten, als genießen müsse, und daß Mühe und Fleiß eigentlich doch nur Ameisenwerk schaffen.«

Theophilie versetzte: »Das ist Philosophie, und auf diese habe ich mich nie verstanden. Aber die Uhr schlug eins, und ich muß Sie entlassen, so gern ich auch die Nacht hindurch noch fortplauderte.« – Ihre Wangen glühten von den lebhaften Gesprächen, ihre Augen glänzten von fröhlicher Aufregung.

Beim Abschiede gab sie ihm die Hand und sagte: »Ich ahne, weswegen Sie gekommen sind, glaube aber nicht, daß Ihr Vorhaben Ihnen gelingen werde. In jedem Falle haben Sie an mir eine treue Freundin.«

Er tappte die Wendeltreppe, auf welcher das Licht der aufgehängten Lampe erloschen war, hinunter, und klinkte an der Pforte, um hinaus und nach dem Wirtshause zu gelangen. Zu seinem großen Schreck war sie verschlossen. Über einen[410] Gang sich tastend, nicht ohne Furcht, irgendwo zu stürzen oder anzulaufen, fühlte er zwar mehrere Türen, aber kein Drücker wollte seiner Bemühung zu öffnen, weichen. Er horchte, ob sich nicht ein Geräusch wollte vernehmen lassen, aber umsonst; in dem ganzen Gebäude herrschte eine Totenstille.

Um nicht auf dem kalten Estrich schlafen zu müssen, suchte er die Wendeltreppe wieder und klimmte empor. Er hoffte, Theophilien noch wach zu finden. Oben stieß er an eine Türe, die gleich aufging. In dem dunklen Gemache stand etwas, wie ein Bette; wie es schien, mit Kissen versehen. Kurz entschloß er sich, und um eine ihm doch eigentlich ganz fremde Dame nicht zu stören, warf er sich in seinen Kleidern auf die Lagerstätte, die, sonderbar schmal und kurz, ihm nach einer ermüdenden Reise doch einige Stunden Schlummer versprach.

Wirklich schlief er ein, erwachte aber bald wieder von einem lauten Reden in seiner Nähe. Er rieb sich die Augen, und konnte, als er ganz munter geworden war, nicht zweifeln, daß er neben dem Schlafzimmer Theophiliens, und von ihr nur durch eine dünne Tapetentüre geschieden, sein Nachtquartier aufgeschlagen hatte. Höchst bestürzt über diese Indiskretion des Zufalls zog er den Atem an sich, um seine Anwesenheit auch nicht durch das leiseste Geräusch zu verraten. Aber er hörte in diesem gespannten, ängstlichen Zustande nur um so genauer, und verlor kein Wort von dem, was die Schläferin mit den vier Wänden laut verhandelte. Sie redete nicht, wie dies sonst zu geschehen pflegt, in abgebrochnen Worten, sondern fließend, zusammenhängend, als setze sie die Erzählungen des Abends fort.

Plötzlich macht sie eine Pause; es war Hermann, als ob sie sich im Bette aufrecht setze. Sie brach in ein leises, inniges Lachen aus, daß es durch die Nacht unheimlich klang. Nun begann sie französisch zu sprechen, und mit Erstaunen hörte er die Namen seines Oheims, der Tante und des Grafen Julius. Dieses Erstaunen wurde Bestürzung, Scham, ja Entsetzen, als sich nach und nach eine Geschichte vernehmen ließ, in welcher jene Personen die handelnden Figuren waren, und welche am allerwenigsten für die Ohren des Neffen taugte.[411]

So wurde er in tiefer grauenvoller Nacht durch eine Unbewußte, ihrer Sinne nicht Mächtige, Mitwisser eines schrecklichen Familiengeheimnisses. Er wendete sich, um nichts weiter zu hören, aber immer zog ihn das Gelüste des Schrecks nach der verhängnisvollen Kunde, und erst als die Redende aufhörte, sank er erschöpft zurück.

Ein Schrei erweckte ihn. Es war heller Tag. Theophilie stand im Morgengewande vor ihm. »Um des Himmels willen!« rief sie, »wie kommen Sie in dieses mein Zimmer? Ich hätte den Tod von Ihrem Anblicke haben können.« – Er versuchte, seine Sinne zu sammeln, und stammelte die Geschichte seiner Einsperrung und seines Fehlgehens daher.

Noch hatte er nur auf sie geachtet. Wie ward ihm aber, als er seine Lagerstatt in Augenschein nahm! Ein seltsames Bette! In einem Sarge hatte er geschlafen, in einem Sarge, welchen Tabourets umstanden, auf denen die zu einem vollständigen Leichenanzuge gehörigen Stücke lagen.

Entsetzt sprang er von diesem furchtbaren Lager auf. Theophilie lächelte. »Tun Sie doch, als sähen Sie Gespenster, und doch ist es das Gewöhnlichste, Bekannteste, was Ihre Augen erblicken«, sagte sie.

Sie lud ihn zum Frühstücke ein. Als er die ihm vorgesetzte Tasse unangerührt stehen ließ, und noch immer, wie abwesend, dasaß, stieß ihn Theophilie an, und rief: »Wie ist es möglich, daß ein Sarg und ein Sterbekleid einen beherzten Mann so außer Fassung bringen können? Ich bin allein, eine Fremde unter Fremden. In Ihrer Tante starb die einzige Freundin, welche ich noch hatte. Was ist natürlicher, als daß ich mir meine letzte Behausung und Hülle fürsorglich zubereiten ließ, da mir die Arme der Liebe nach meinem Hinscheiden diesen Dienst doch nicht leisten werden. Man stirbt wegen dergleichen nicht eine Stunde früher.«

Sie hatte bald ihren fröhlichen Ton völlig wiedergefunden, neckte ihn mit seinem Tiefsinn, und meinte, das Abenteuer, einen jungen Mann so Wand an Wand zu beherbergen, sei allerliebst. »Und ungefährlich für Tugend und Ruf«, sagte sie mit freiem Scherze, wie er nur ihr anstand, »denn dieser Jüngling[412] war eine Leiche, und scheint, auch auferstanden, noch keine Kraft gesammelt zu haben.«

Er versuchte, in diese Scherze einzustimmen; es wollte nicht gelingen. Nachdenklich versetzte er: »Das Schicksal gibt uns oft sonderbare Zeichen. Es ist eigen, daß ich gerade jetzt, wo so manche Entscheidungen sich an mein Leben herandrängen, mich wider Willen in einem Gehäuse ausstrecken mußte, worin, wenigstens auf geraume Zeit, Sinn und Gefühl und Erinnerung erlöschen werden.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 407-413.
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