Clerdon

[532] Keiner von uns wird es Dir erzählen. Das Anschauen, die Umarmung einer ganz enthüllten, schönen, tiefempfindenden Seele ist zu heilig, um in Bildern und Worten nachgespiegelt zu werden. Und wer vermöchte jenen Blitzstrahl dahin abzulenken;

Leblosen den lebendigen Kuß der Liebe zu geben? – Nein, schaue selbst – den verklärten Blick – und Wonnegefühl sanft über ihn die Augenlider decken – und dahingegeben die Seele.

Wohl glaub ich Dir, daß Du es im Grunde so schlimm nicht in der Welt hast, wie arg es Dir auch ergangen, und so viel auch itzt noch Deiner Leiden sind. Eine immer reiner und voller klingende Saite auf der großen Leier der Natur, ein immer mächtigeres Organ in dem Ganzen des Alliebenden zu werden, oh, das lohnt Dir jeden Schmerz.

Dornen malmen, sie zu Pflaumfedern wühlen, lernete ich lang; und nun weiß ich, daß es für den Menschen eine Lauterkeit des Sinnes – mit ihr eine Kraft und Stetigkeit des Willens gibt – eine Erleuchtung, Wahrheit, Eigenheit und Konsistenz des Herzens und Geistes, wodurch ihm der eigentliche Genuß seiner göttlicheren Natur, Rück- und Aussicht wird, und wozu niemand gelanget, der nicht mehrmals im äußersten Gedränge von allem außer sich verlassen war. Da hat die ganz auf sich selbst gestemmte Seele sich in allen ihren Teilen gefühlt: hat, wie Jakob, mit dem Herrn gerungen und seinen Segen davongetragen. Wer, liebste Sylli, wollte nicht gerne für diesen Preis sich eine Zeitlang mit einer verrenkten Hüfte schleppen?[532]

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 532-533.
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