Lenore

[533] Auf der Zunge: »Bist du bald fertig, Clärchen?« so trat ich ins Zimmer. Clärchens Anblick hemmte mir Sprache und Gang, und mein Herz hob sich zu dem Schlag, bei dem es einem auf einmal so ganz anders wird. Leise nahete ich ihrem Schreibtisch. Sie schob, ohne ihre Stellung zu verändern, mit der einen Hand mir das Geschriebene zu. Nachdem ich es gelesen, hierauf einen Augenblick gesessen hatte, ging ich an ihren Stuhl knien, um sie zu küssen. Wir kamen allmählich einander in die Arme, weinten – und fingen zu sprechen an.

Deine Briefe wurden stückweise wiederholt, und so nach und nach zu einem für uns eigenen Ganzen umgebildet, das wir besser fassen konnten. Alles drang itzt weit tiefer ein, und dennoch wurden wir heiterer. Wir ahndeten Deinen Zustand, gewonnen Teil an Deinem himmlischen Wesen. Wer wollte nicht Sylli sein? sagten wir. Der bloße Abglanz – nur eines Teils von ihrer Seele, und den wir – ach! nur so schwach aufzunehmen vermögen; was gibt er uns nicht Mut und Wonne! und sie – besitzt – sie ist diese Seele selbst; hat in ihrem eigenen Wesen was so unbegreiflich entzückt; den Quell und die Fülle all der Schönheit, all der Größe! – Wer wollte nicht Sylli sein! gäbe nicht alles hin für die Unabhängigkeit dieses hohen Selbstgenusses, für die helle Wonne[533] göttlich zu lieben, die allein aus solchem Reichtum überfließen kann. Glückliche, glückliche Sylli! ...

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 533-534.
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