Luzie an Eduard Allwill

[555] Ihr jüngster Brief, mein teurer Freund und Lehrer, war beinah so viel, als eine persönliche Erscheinung. Was Sie für ein Zauberer sind! Als ich ihn gelesen hatte, diesen Brief, war ich -nein, ich war nicht zwei Jahre jünger, nur die Zeit hatte sich um so viel verjüngt, das Vergangene sich zu mir hinauf bemühet; Sie waren noch bei uns, und ich hatte Sie ganz rund dastehen, wie kurz vor unserer Trennung. Nun urteilen Sie, wie mir das so toll im Kopfe herumgehen mußte, daß ich an Sie geschrieben hatte, und geschrieben hatte alles das, wovon Sie so lustig geworden waren und daneben so heldenwütig. Meine herzliche Epistel an Sie ward mir nun gerades Weges zur Posse; ich mußte lachen und erröten. Großer Mann, verzeihen Sie meine Unbesonnenheit: ich vergaß, daß Sie ein Held sind; daß ich – nur ein unbedeutendes, unschuldiges Mädchen bin, und daß Unschuld dem Helden etwas so Unnützes, so Nichtswürdiges scheinen muß; daß der Göttliche – Unschuld verspottet; der Göttliche – Unschuld mit Füßen tritt; über sie hin, erhaben, seine Bahn nimmt. – Unschuld, Eduard! – lieber Eduard, Unschuld, Unschuld, Unschuld! – Erwacht keine erste Erinnerung davon in[555] Ihrer Seele? Besinnen Sie sich doch – weit, weit zurück! Dort in der schattigsten Gegend Ihrer Seele, schwebet da nicht etwas noch von dem Schauder, der Sie ergriff, als – Ihr offenes Auge enger, auf Ihrer lichten Stirn eine trübende Kohle ward, als das Gewölbe Ihres Busens wich, Ihr Atem sich verminderte, Stand und Tritt – Ihr ganzes Wesen schwankte – als Unschuld Sie zu verlassen drohte? Und wallet da nicht noch in dumpfem Nachhall etwas von dem Donner – als Sie Unschuld von sich warfen: Und ...? – Nein, armer Eduard, das ist verschwunden, Dir auf immer verschwunden. Was will ich also? Sie können ja unmöglich mich verstehen ... Ihr guten Leute überwachst euch in den Kinderschuhen. Bevor ihr euch in euch selbst ganz sammeln könnt, ist euer Wesen schon angegriffen; bevor sich euer Herz selbst fühlen kann, ist es schon betört. Da entstehen denn höchstens, wo Schönheit und Größe in der Anlage waren, solche herrliche Ungeheuer, wie ehmals die Zentauren.

Eduard! ein sehr außerordentlicher Mensch sind Sie wahrlich. Wer Sie durchaus kennt, dem muß es oft eben unbegreiflich vorkommen, daß Sie nicht ein Engel an Tugend oder ein Satan an Laster geworden. Die Ungereimtheit Ihres Wesens läßt sich nicht denken, läßt sich auf keine Weise darstellen: Unbändige Sinnlichkeit – und stoischer Hang; weibische Zärtlichkeit, der äußerste Leichtsinn – und der kälteste Mut und die festeste Treue; Tigerssinn – und Lammesherz; allgegenwärtig – und nirgendwo; alles – und nie etwas – verdammter zwiefacher Mensch! Unschuldiges, himmelauf steigendes Blut Abels, und mörderischer, flüchtiger Kain! Ja! – aber auch gezeichnet mit dem Finger Gottes, daß kein Mensch Hand an Dich zu legen wagt.

Lassen Sie mich, Eduard! Sie sind ein unbehagliches Geschöpf; wer teil an Ihnen nimmt, hat ein bitteres Leben, alles machen Sie ihm sauer, das Reden sogar, und selbst das Denken. Ferne sei demnach von mir, daß ich Ihre lange Epistel Punkt vor Punkt beantworte; nur beifügen ein Wörtchen will ich hie und da.

Vorerst sollen Sie eine Stelle aus einem Briefe von Eduard Allwill lesen, den er an unsern D** schrieb, als dieser bei einer sichern Gelegenheit seinen Nacheifer zu besänftigen und ihn zu mehrerer Nachsicht zu überreden suchte:

»Verträglich, nachsehend, tolerant«, sagt der feurige Jüngling, »bin ich gewiß so sehr, als ich es ohne Verderbung meines eigentümlichen[556] Charakters, ohne wesentliche Inkonsequenz sein kann. Mich deucht, wer auf eine andre Weise tolerant ist, der mißbraucht Sache und Wort, der ist nicht tolerant, der ist wankelmütig, schwach, kindisch. Ein Kind wird von allen Dingen entzückt, die nur im Vorübergleiten einen angenehmen Eindruck auf seine zarten Sinne machen, es unterscheidet, es schätzt sie weiter nicht: in jeder Stunde ist ihm etwas anderes schön, und was in dem gegenwärtigen Augenblick es vergnügt, das Schönste von allem. Ein Mann im Gegenteil unterscheidet die Dinge an ihren Bestimmungen! er ordnet sie nach ihrem Gebrauch für sein ganzes Dasein, und weiß, was gut und schön ist mit Namen zu nennen.

Alles mögliche von einer gewissen Seite betrachtet, läßt sich in einem ganz erträglichem Lichte ansehen, denn nichts kann durchaus häßlich und böse sein. Aber ebenso, wie wir von entfernten Körpern nur alsdann sagen, daß wir sie in ihrer wahren Gestalt erkennen, wenn wir sie so sehen, wie sie uns in der Nähe, in derjenigen Distanz erscheinen, welche ich die Sphäre der Betastung nennen möchte; ebenso haben auch die moralischen Gegenstände ihre ausgemachte Distanz oder Sphäre, in der ihre verschiedenen Erscheinungen berichtiget, und auf die beständigen Gestalten der Gegenstände reduziert werden können und müssen. Wer nicht für sich eine solche bestimmte Sphäre unwandelbar annimmt, sondern bald in diese, bald in jene flattert; alle Augenblicke den Horizont wechselt, und überall zu Hause ist; der kann – vielleicht die Hälfte seiner Lebenszeit ein ganz guter Mensch scheinen; die andre Hälfte aber scheint er zuverlässig ein desto schlechterer; ein würdiger nie; ist keinen Augenblick ein ganzer Mann.«

An eben diesen D** schrieb Eduard Allwill: »Das romantische Gebrause Ihres jungen Grafen ist unerträglich. Ein Clodius, der den Brutus spielen will. Was ich davon denke, darf ich der Mutter nicht sagen, wohl aber Ihnen. So ein Laffe, der alle Tage regelmäßig seinen dummen oder schlechten Streich spielt, mag sich einfallen lassen, die Welt sei nicht gut genug für ihn! er soll doch nur ja mit ihr vorliebnehmen, denn so wie der junge Herr beschaffen ist, ist er noch lange nicht gut genug für sie, und er mag nur zusehen, daß wir ihm nicht heut oder morgen auf eine unebne Weise seinen Abschied erteilen. Mir fallen gleich Ohrfeigen ein, wenn ich Leute mit erhabenen Gesinnungen herankommen sehe, die nicht einmal nur rechtschaffene Gesinnungen[557] beweisen. Und es macht mich gar nicht zufriedner mit ihnen, wenn sie auch ihre schönen Gesinnungen mit sogenannten schönen Handlungen begleiten; wer ein weiches Herz hat, etwas Feuer im Blut, und viel Leichtsinn, besteht deren mehr als der Beste; hat aber am Ende eitel Ärgernis angerichtet, und für jeden Segen, der ihm ward, doppelten Fluch auf sich geladen. Spreu und Wind! Das Böse zu meiden, darum gilt's vor allem; daran übt, daran erkennt sich der rechte Mann. Mancherlei Gutes tun (ich sag es noch einmal) ist leicht: mancherlei Großes – eine Lust: aber ohne Sünde bleiben, ohne Missetat – das ist – o wie schwer! aber auch, wie weit erhaben über alles! Was heißt der wunderbarste Luftspringer gegen den Unerschütterlichen im Kampf? – Ein vortrefflicher Schriftsteller sagt irgendwo: 'Ich wüßte nichts Preiswürdiges, wozu nicht auch der äußerst mißratene, durchaus fehlerhafte Mensch zuweilen sich erheben könnte – Ordnung, Mäßigung und Beständigkeit ausgenommen.'«

Ich fordere Sie nicht auf, guter Eduard, diese Auszüge mit den erheblichsten Stellen Ihres letzten Briefes an mich in Verbindung zu bringen. Wer weiß, was Sie leisteten? Ich hab eine solche hohe Idee von Ihren philosophischen Gaben, daß ich Ihnen beinahe das Unmögliche zutraue. Allein Ihrem Herzen sei es anheimgegeben, wo die Fülle der Wahrheit sei, dort oder hier. Sie glauben ja Ihrem Herzen alles, ich glaub ihm auch: fragen Sie es, wann es sich am freiesten fühlte, wo es ganz einstimmte und mit Ihren Gedanken gleichen Strom nahm, ob bei den Briefen an D**, oder bei dem an mich.

Lieber, offener – königlicher Jüngling! Ach, so tief herabgewürdiget – zum bangen, schielenden Sophisten!

Sie erinnern sich wohl schwerlich eines Briefes, den Sie mir vor anderthalb Jahren schrieben; es war einer der ersten, nachdem Sie Wien verlassen hatten. Ich bin äußerst versucht, ihn hier ganz abzuschreiben; aber lesen Sie nur folgende Stellen wieder:

»Wenn in den vergangenen Tagen, nachts vor Einschlafen, früh beim Erwachen, in jedem stillen Augenblick mein Wiener Aufenthalt mir vor die Seele trat; mancher entseelte Rest des Vergangenen neues Leben erhielt; was in Beziehung stand, sich einigte; alles aufeinander wog, ganzer und inniger ward – und ich nun über vieles, oh! über so vieles in herbes, tiefes Trauern versank, so fuhr's mir wohl unversehens wie ein giftiger Pfeil durch die Brust; was soll dein Jammer, deine Reue, dein Klagen?[558] Es ist nur Hohn damit! Ein unbezwinglicher Leichtsinn, eine verruchte Achtlosigkeit, liegt zu tief in deiner brausenden, unaufhörlich gärenden Natur. Wer dich kennt, traut dir nicht, liebt dich nicht! – O Luzie! bis zur Verwirrung hat's mich fast gebracht, dies Sinnen über mich selbst, dies Hadern mit mir. -Ich möchte nicht alles erzählen, wenn ich auch könnte.«

Wie groß, wie lieb! Damals, wie nah mein Eduard den Besten seiner Gattung! – Aber was half's? Sie wurden dennoch nicht weiser, und so mußten Sie bald nur desto törichter, desto unglücklicher werden. Es kann nicht anders kommen; die unbesonnene Heftigkeit, womit Sie sich überall anwerfen, sich so vielfach zertrennen, muß die ungereimteste Verwirrung in Ihrem Wesen verursachen, der gänzlichen Zerrüttung es immer näher bringen. Alle Hände voll, wollen Sie doch immer noch mehr greifen, und können dann weder fassen noch halten. Überdem soll jeder Gegenstand des Genusses sich Ihnen noch in jedem andern Gegenstande vervielfältigen; Sie sind gerade der Mann, über den Sie spotteten, der von einem Oranienbaum Kastanien, und von einem Kastanienbaum Oranien verlangt; die leichtfertige Dirne soll auch die hohen Reize, alle Tugenden, die Liebe eines frommen Mädchens, und das fromme Mädchen hinwiederum, die schnöden Annehmlichkeiten, die ganze Torheit der leichtfertigen Dirne besitzen; und wenn dergleichen sich nicht findet, dann ist's eine Not, ein Jammer, daß man zweifelt, ob auch wohl diese Welt einen Gott zum Urheber haben könne? Und das heißt denn doch eines Sinnes sein mit Natur! Allwill! Sie, eines Sinnes mit Natur? der Sie immerwährend die echtesten Bande der Natur auflösen; wahre, reine Verhältnisse zerstören, um erträumte, schimärische an die Stelle zu setzen – dann sich abarbeiten, alle Schwarzkünsteleien zu Hülfe nehmen, um den wankenden Schatten zu befestigen; und da nichtsdestoweniger die Sonn ihn verrückt, dem Segenswandel der Sonne fluchen – Sie, eines Sinnes mit Natur? Wenn ich nur etwas wüßte, das der Natur entgegengesetzter wäre, als jene Unmäßigkeit, welche alle Bedürfnisse vervielfältiget und grenzenlosen Mangel schafft, mit seinen unendlichen Nöten – Angst, Schmerz, Gevalttätigkeit, Betrog, Arglist und Tücke. Nur einen flüchtigen Blick auf die Welt – was sie vermindert, verringert, was den schlechten Bürger gibt und den schlechten Staat, was den Acker verödet und des Lebens weniger macht überall. – Nichts anders als eben jene Ungenügsamkeit, jenes blinde Ringen[559] nach allem, jenes Scheidekünsteln an den Dingen, um das Wesen von der Substanz, und die Würkung von der Ursache abzulösen, um zu widernatürlichen Bedürfnissen widernatürliche Mittel zu erfinden. Ich weiß wohl, daß es wenig fruchtet, dagegen zu predigen; aber dafür zu predigen, die Theorie der Unmäßigkeit, des Lasters, als die einzige Philosophie des Lebens, als den einzigen Weg zur Glückseligkeit, ja zur höchsten Vortrefflichkeit, anzupreisen: das wäre, deucht mich, doch wohl das unsinnigste Beginnen, das sich erdenken ließe, und das böseste.

Ja, Eduard, Theorie der Unmäßigkeit, Grundsätze der ausgedehntesten Schwelgerei, das sind die eigentlichen Namen für das, was Sie mit so vielem Eifer, mit so ungemeinem Aufwande von Witz, Räsonnement, und dichterischem Schmuck, an die Stelle der alten Weisheit zu setzen trachten; und das gewiß nicht auf Anraten Ihres Herzens, das groß und edel ist, sondern Ihrer Sinnlichkeit zulieb, welche Sie, unter dem Wort Empfindung, so gern mit Ihrem Herzen in eins mischen, wie wohl auch jeder andere Mensch mehr oder weniger tut, und nicht anders kann. Sinnesfreude ist die Lichtwolke, worauf alles Göttliche vom Himmel zu uns herniedersteigt; aber Dunst aus Moor und Grüften ist nicht diese Wolke vom Himmel, obschon er die Hügel hinanschleicht, und Sonnenlicht haschet. Aber Sie können das nicht unterscheiden. Doch unterscheiden Sie übrigens so scharf, empfinden so reinweg alles Schöne! – freilich, aber auch alles Schöne so lebhaft, daß jedweder Eindruck davon Sie berauscht, Ihnen für die Zeit alle weitere Besinnung raubt; nur ein Tropfen Nektar an des Bechers Rand, und Sie verschlingen, ohn es zu merken, das abscheulichste Getränke. – Eine fürchterliche Bestimmung, dieser Eduard Allwill zu sein! Unaufhörlich, auf so mancherlei Weise bis ins Mark erschüttert; und die Menge tiefer Leiden in der Folge. Armer! – daß Du nicht endlich mit zugrunde gehst bei den Stößen, da alles an Dir zerschellt, oder erstickst unter dem Schutt! – Immer doch ein mächtiger Genius! Wie ich sagte: gezeichnet mit dem Finger Gottes; daß kein Mensch Hand an Dich zu legen wagt.

Könnt ich nur jedes liebe unschuldige Geschöpf von Deinem Bann entfernen! Ach, wie viele der Unglücklichen Du noch machen wirst, die Du ihrer eigentlichen Bestimmung, ihrem natürlichen Verhältnis entsetzen, sie aller Haltung für ihr künftiges Leben verlustig machen wirst! – Gutes Mädchen, das sag ich nicht, daß er dich nicht liebt; er liebt dich gewiß; mit mehr[560] Wahrheit vielleicht, als sonst kein Mensch dich lieben könnte; liebt gerad alles wahrhaft Schätzbare an dir, gerade das, worin deine gutgeschaffene Seele ihre angemessenste Tätigkeit, ihre eigenste Wonne, fühlet. Nicht wahr, das fühlst du, das sichert dich, daß er dich innig liebt, wie du dich selbst, und wie du ihn liebest; und du hast recht so an ihn zu glauben; dein ist seine ganze Liebe. Aber, armes Kind! Allwill liebt nie anders, er ist immer seinem Gegenstande ganz; morgen vielleicht – der Ehre; einem vortrefflichen Manne; einer Kunst; vielleicht – einer neuen Geliebten. – Sieh, dieser Allwill – der Elende! muß unstet und flüchtig sein; er ist verflucht auf Erden – aber gezeichnet mit dem Finger Gottes; daß kein Mensch Hand an ihn zu legen wagt. – Eduard, guter Eduard, jammert Dich nicht das arme Geschöpf? O so schone dann! schone, schone! –

Aber, was hilft mein Flehen, was hälfe das Flehen einer ganzen Welt? Deine Sinnen, Deine Begierden sind Dir zu mächtig, und da sie eine so bequeme täuschende Hülle an Deiner schönen Phantasie haben, wirst Du nie sie für das erkennen, was sie sind. Ach, die Bedürfnisse Deiner Sinne, die Täuschungen Deiner Sinne – glaube mir, Allwill – (schwindender Atem meiner Brust, komm, sammle dich, daß meine Stimme weniger bebe, und ihr kranker Laut ihn erreiche) – Allwill, es sind Mörder! Hie und da her wird es Dir immer gräßlicher in die Ohren gellen: Mörder! – Meuchelmörder!

So manches Unheil, so unsäglicher Jammer allein in diesem Bezirk der Menschheit durch Sie angerichtet, würde Ihnen die Nichtigkeit Ihres Systems hinlänglich bloßstellen, wenn es nicht ausdrücklich erfunden wäre, um Sie gegen dergleichen Ansichten zu erblinden. Da soll nun eine Menge herrlicher Empfindungen, welche sich anders nicht erwarten und zusammenbringen ließen, alles Böse mit Wucher ersetzen, und dieser innere Genuß alle seine Kosten aufwiegen. Hiebei fällt mir ein, was ich Sie so oft vom Wissen sagen hörte. Sie verglichen den großen Haufen unsrer Studierenden mit Leuten, die gar emsig hin und her liefen, um zu suchen – was sie nicht verloren hätten, wessen sie auch weiter nicht bedurften. Es sei eine Schande für den menschlichen Verstand, behaupteten Sie, daß wir Wissenschaft von Tag zu Tage mehr zu einem abgesonderten, absoluten Dinge machten, da sie doch von bestimmten Zwecken allein Ursprung und Wesen habe; nur Bescheid auf eine dringende Frage sei, wie diesem oder jenem Bedürfnis abzuhelfen; Baugerüste, Maschine,[561] Instrument. – Ich fand und finde noch das so wahr, daß man sich nicht bekümmern sollte etwas zu wissen, als nur – wie sich etwas mache oder tue, das einem not ist; belachte gern mit Ihnen die Torheit alles müßigen Lernens und Spekulierens. Aber sagen Sie mir, lieber Eduard, ist es eine reellere Sache um das müßige Sammeln von Empfindungen, um das Bestreben, Empfindungen – zu empfinden, Gefühle – zu fühlen; findet nicht hier eine ebenso ungereimte Absondrung statt, wie dort beim Wissen? Ich glaube, wer eine schöne große Seele in der Tat besitzet, hält sich nicht damit auf, die Empfindungen, welche seine Handlungen betreiben, die entzückenden Gefühle, welche sie begleiten, auf solche Weise abzusondern; wird sich ihrer nie dergestalt bewußt, daß er sie in Ideen aufbewahren, und aus derselben Betrachtung einen unabhängigen Genuß sich bereiten könnte; er sagt nicht: es ist Seligkeit in dieser Empfindung, in diesem Gefühl, sondern es ist Seligkeit in dieser Tat. Und das, Lieber, macht die Bahn des Edlen richtig.

Vor einigen Monaten starb ein Greis, mit Namen Wigand Erdig; der hatte aus dem elenden Flecken D* eine ansehnliche Stadt voll glücklicher Bürger gemacht. Ich glaube nicht, daß er außer seinem Gewerbe viel mehr als seinen Katechismus wußte; aber sein Gewerbe verstand er gut, war an Ordnung, Fleiß, Mäßigkeit – an gesunde Vernunft gewöhnt, und so von Tag zu Tage klüger, geschickter, emsiger und unternehmender geworden. Nun legte er zu D* eine Tuchfabrik an. Der Fortgang seines Unternehmens litt unzählige Hindernisse; aber er war einmal im Gedränge, und mußte durch. Eine Not nach der andern wurde ausgedauert; eine Schwierigkeit nach der andern überwunden; der Mann immer mutiger und weiser. Wenige Jahre, da waren fünfhundert Familien in seinem Brot; der benachbarte Bauer, um dieses zu schaffen, vermehrte sein Haus und baute öde Ländereien an; es wurden fruchtbare Bäume gepflanzt und Gärten die Menge; die ganze Gegend füllte und verschönerte sich: endlich ward diesen Glücklichen das Tal zu enge, da sprengten sie Felsen weg und stuften die Berge hinan. Das alles brachte dieser einzige Mann zuwege, und ohne andre Absicht (seines Bewußtseins) als um sein Gewerbe in Flor zu bringen, sein Haus zu gründen, und seine Nachkommen in Segen zu setzen. Ebenso wurden ihm selbst die Eigenschaften ehrwürdiger Menschheit. Die Klugheit und die Unsträflichkeit seines Wandels hatten ihn bei seinen Mitbürgern in solches Ansehen gesetzt, daß sie ihn[562] gleich einem Vater über sich walten ließen; sein Begriff, das Licht seines Gewissens, galt ihnen mehr als alle Gesetzbücher. In den letzten Jahren, wenn der alte Erdig über die Straße kam, gingen die Leute vor ihre Häuser, und wer ihm begegnete auf die Seite, um ihn mit gebührender Ehrfurcht zu grüßen. Man muß die Leute sehen, wenn sie erzählen, wie der ehrenreiche Greis langsam so einhertrat, gegen jedweden freundlich sein leichtes Haupt neigte, und einem all das Gute erinnerlich ward, das er gestiftet hatte. – Nicht Tränen, es kömmt ihnen sonst etwas in die Augen, verbreitet sich über ihr ganzes Angesicht –Verheißung des ewigen Lebens – Er ist bei Gott – Allwill! dieser Glanz der Heiligkeit – wissen Sie etwas drüber?

Eure Flitterphilosophie möchte gern alles was Form heißt verbannet wissen; alles soll aus freier Hand geschehen; die menschliche Seele zu allem Guten und Schönen sich selbst – aus sich selbst bilden; und ihr bedenkt nicht, daß menschlicher Charakter einer flüssigen Materie gleicht, die nicht anders als in einem Gefäß Gestalt und Bleiben haben kann; laßt euch deswegen auch nicht einmal einfallen zu erwägen, daß eitel Wasser in einem Glase mehr taugt, als Nektar in Schlamm gegossen.

Unter allen Formen zu Bildung unserer Natur ist freilich die Form eines bloßen moralischen Systems die geringste und zerbrechlichste: aber besser als keine ist sie doch allemal. Gar alle Grundsätze verwerfen, weil man öfter Grundsätze unzulänglich oder unwürksam befunden, ist klarer Unsinn. Was nützen Erfahrungen, wenn nicht durch ihre Vergleichung standhafte Ideen zuwege gebracht werden; und was wäre überall mit dem Menschen vorzunehmen, wenn man nicht auf die Würksamkeit solcher Ideen zu fußen hätte? Auch nehmen wir so allgemein für den eigentümlichsten Vorzug der Menschheit an, nach Grundsätzen zu handeln, daß der Grad der Fertigkeit hierin den Grad unserer Hochachtung oder Verachtung bestimmt. Wir preisen denjenigen, bei dem – der Empfindung das Gefühl, und dem Gefühl der Gedanke die Waage hält. Also nicht unsere Gefühle verringern, nicht sie schwächen will die Weisheit, sie nur reinigen will sie; und dann bis zur Lebhaftigkeit des Gefühls den Gedanken erhöhen; also die Empfindung überhaupt – schärfen, vergrößern. Ich weiß daß Sie mehrmals, von hoher Idee begeistert, heftige Begierden überwanden, Leidenschaften zu Boden schlugen: Haben Sie jemals sich größer gefühlt, als in diesen Augenblicken; waren Sie je freudiger, triumphierender? Auf nichts[563] dünken Sie ja sich mehr, als daß gewisse Ideen so fest in Ihnen halten, daß kein Vorfall Ihren Glauben daran einen Augenblick irremachen könnte, Sinne und Imagination möchten vorspiegeln was sie wollten. Edler Stolz kann nie eine andre Quelle haben. Jede Erhabenheit des Charakters kömmt von überschwenglichster Idee. Als Portia den Brutus überführen wollte, daß ihre Seele fähig sei die seinige in allen ihren Unternehmungen zu begleiten, wußte sie kein besseres Mittel, als ihm eine Probe vor Augen zu legen, daß sinnliche Eindrücke nichts über sie vermöchten. Steigen wir von der Heldensitte bis zum gefälligen Wesen unserer Tage herab, überall sehen wir am mehrsten geehrt, was Obermacht des Gedankens über Triebe beweiset. Seien die Lebensarten noch so verschieden, die Gebräuche noch so mannigfaltig und abwechselnd, jene Übereinstimmung wird, bei genauer Untersuchung, überall sich zeigen; sie erstreckt sich bis auf die Urteile von Mienen und Gebärden, und führt uns selbst zur Quelle aller Begriffe von Anständigem und Unanständigem. Wo Gedanke den Menschen zu verlassen scheint, wo er ganz dem Triebe allein ist; wo er von diesem – nur sich übernehmen läßt; wo er sich nur der Gefahr aussetzt von ihm übernommen zu werden; da fühlen wir Unanständigkeit.

Es ist ganz zum Vorteil der Grundsätze, was Sie am Anfange Ihres Briefes von denen widersprechenden Erscheinungen im Menschen anführen, wo ihm wechselsweise – seine Weisheit zur Torheit, und seine Torheit zur Weisheit werde. Man sollte glauben, eben die feine Organisation, welche Sie zu dergleichen Bemerkungen geschickt macht, Ihnen Materie und Form dazu bietet, müßte Ihnen auch die Überzeugung aufdringen, daß dem Menschen eine feste Lehre der Glückseligkeit, daß ihm unverbrüchliche Vorschriften des Verhaltens unentbehrlich seien: was anders kann in seinem Tun ihn sichern; was als einen zuverlässigen Mann ihn darstellen? – In alle Wege muß er verlorengehen.

Den eingestandenen Wankelmut des menschlichen Herzens sogar beiseite, und angenommen, das Ihrige wäre so beschaffen, daß es Sie immer zum Guten leitete, nur aber auf eine Weise, welche der eingeführten Ordnung zuwiderliefe; so müßte dennoch Ihr Charakter verwildern; so müßten Sie eben darum ins ärgste Verderben sinken, weil Sie so sehr über Ihre Brüder erhaben wären. Es könnte nicht fehlen, indem Sie diejenigen Gesetze angriffen, welche der allgemeine Menschensinn für [564] unverbrüchlich erklärt, daß Ihnen beinah jedweder im Wege stünde; Ihre Bestrebungen hemmte; unwissend oder aus Absicht Ihnen die äußerste Qual verursachte; kurz, daß jedermanns Hand sich wider Sie erhöbe: zwiefach wäre dann gegen jedweden die Ihrige; Ekel, Gram und Haß nähmen Ihre Seele ein; mit der Gewalt drängen Sie nicht durch; Sie müßten also um Ihr erhabneres Leben zu retten, List, Verstellung, Betrug zu Hülfe rufen, lauter krumme Wege gehen; dies entzweite Sie notwendigerweise mit sich selbst, und so müßten Sie bald voll tiefen Greuels sich und die Welt verfluchen.

Schnöde Prahlerei, daß Ihr Herz immer freier und freier schlage; es kann nicht frei schlagen, solang es Geheimnisse des Frevels und der Schande zu bergen hat; solang es vor dem Blicke des Unsträflichen sich zusammenziehen – von dem Atem des Reinen ersticken muß in seinem Blut – damit nur Deine Stirne weiß bleibe, wenn er Dinge der Finsternis mit ihrem Namen bezeichnet, und Du fühlest, er redet von Deinen Taten – Allwill, mir schaudert die Haut, wie ich Dich manchmal beben – vergehen sah; bis zur Ohnmacht in Verwirrung über dem absichtlosen Worte eines Toren, eines Kindes; über den Mutwillen eines Gassenbuben, die Schmähreden eines Trunkenen.

Aber Sie haben wohl nunmehr dergleichen Schwachheiten von sich abgeworfen. Aus einem Stück Ihres Briefes, wo Sie die Zweideutigkeit aller Tugenden zu erweisen trachten, erhellet, daß Sie wenigstens mit großer Mühe daran arbeiten. Ich will Sie nicht stören, Eduard. Doch zur Erholung lassen Sie sich erzählen, was ich gestern von ohngefähr in meinem ehrlichen Montaigne las, und dann eine Anekdote, die ich weiß. Der treuherzige Montaigne erzählt, daß man ihn nie hätte vermögen können, für König und Vaterland sogar, in etwas Schlechtes zu willigen. Er glaubte, wenn er einmal sich selbst wäre untreu geworden, würde er leichtlich nachher es auch dem Staat werden. Man muß eine Sache Gott überlassen, sagt er, wenn menschlich zu helfen unmöglich ist, und was ist unmöglicher, als daß ein rechtschaffener Mann Treu und Glauben verlasse? Was kann weniger sein, als was ein Mann von Ehre nur mit Ehr- und Wortesschmach bewerkstelligen könnte? Hiernächst erwähnt er unter andern des Epaminondas, des vortrefflichsten unter den Menschen, bei welchem jede einzelne Pflicht in so hohem Ansehen war, daß er nie in der Schlacht einen Überwundenen zu Boden stieß; der um des unschätzbaren Gutes willen, die Freiheit[565] seinem Lande zu verschaffen, sich ein Gewissen machte, ohne die Form der Gerechtigkeit, einen Tyrannen oder seine Mitgenossen umzubringen, und der denjenigen für einen schlechten Menschen hielt, so ein guter Bürger er auch sein mochte, der unter den Feinden und in der Schlacht seinen Freund und seinen Gastgeber nicht verschonte – »Gräßlich von Eisen und Blut kömmt er zertrümmernd und durchbrechend eine Nation, unüberwindlich gegen jeden andern, als gegen ihn allein; und geht seitwärts mitten im Handgemenge bei Begegnung seines Gastes und seines Freundes. Wahrhaftig dieser da regierte im eigentlichen Verstande den Krieg vollkommen, der ihn das Gebiß der Güte erdulden machte, im Beginn seiner stärksten Hitze so entflammt als er war, und schäumend vor Wut und Mord. Es ist Wunderwerk, mit dergleichen Handlungen einige Art von Gerechtigkeit vereinbaren zu können: aber es gehört nur für die Energie des Epaminondas, die Sanftmut der mildesten Sitten, und der reinsten Unschuld damit vereinbaren zu können« – »Wenn es Größe des Mutes ist, und die Würkung einer seltnen und besondern Tugend, um des gemeinen Wohls willen und der Obrigkeit zu gehorchen, Freundschaft, persönliche Pflichten, Verwandtschaft und Wort für nichts zu achten; so ist es wahrhaftig genug, um uns los davon zu sagen, daß es eine Größe ist, die in der Größe des Mutes des Epaminondas nicht Platz finden kann.«

Nun die Anekdote. Sie kennen Auguste von G**, die treue, makellose Seele, die so einzig ist, weil sie nur für das Gute und Wahre Begriff hat, nur für das Gute und Wahre Witz und Laune. Eine unselige Kokette verführte ihren Mann. Auguste, im höchsten Grade arglos, merkte lange nichts. Weil aber G** genötiget war, ihr manche Unwahrheit vorzutragen, und, wie bekannt, eine jede Unwahrheit Lügen ohne Zahl gebiert, so mußte das liebe Weib wohl endlich merken, daß es hintergangen wurde. Nun begab es sich an einem Tage, daß ihr, in des Mannes Gegenwart, auf einmal zwo recht frappante Betrügereien offenbar wurden. Sie können sich G**s Zustand einbilden. Kaum war der Freund, welcher unschuldigerweise die Sache ans Licht gebracht hatte, zur Tür hinaus, so hub Auguste an: »Höre doch, Max, du hattest mir ja diese Sache – so, und jene – so gesagt, und ich hör es nun so ganz und gar anders? Ich merke seit einiger Zeit, daß du mir öfters Unwahrheiten sagst. – Wenn du wüßtest, wie mich das betrübt!« – »Freilich«, antwortete G**;[566] »aber das ist nicht meine Schuld; wer sich unbescheidene Fragen erlaubt, der zwingt den andern zur Lüge.« – »O Gott«, sagte Auguste mit freundlicher weinender Stimme: »Wenn ich denn nur wüßte was ich nicht fragen muß; ich wollte gewiß nie so etwas fragen, damit du nie zu lügen brauchtest.« Ist Ihnen eine Lüge bekannt, Eduard, die an Kraft zum Guten, auch an Erhabenheit, diesem unschuldigen Gebet meiner Auguste um Wahrheit gleich zu schätzen wäre?

Unschuld, Eduard, lieber, lieber Eduard! Unschuld, Unschuld! So fing ich an, und so schließ ich. – Süße, reine, ewige Wonne der Unschuld – das ist es doch; ja, Eduard! das ist es was auch Du suchst – ach! auf dem Wege der Verstockung! – Liebes Mädchen, eile! Eile Freundin, daß sein Auge dich erreiche und er zurückfliege! Liebe allein kann ihn retten; kann seinem Herzen den Geschmack an Unschuld wiedergeben. So komm denn doch, holdes Mädchen! Zeuch den Blick aus seinem Auge, der alle Sehkraft verschlingt, und er wird ferner nicht leichtfertig umhergaffen; füll ihm die Seele mit der Wonne, die keinen Zusatz verträgt; und sie wird – lauter werden: dann reich ihm deine Lippen, und er wird schwören und wird's halten, daß er alle seine Freuden allein von dir nehmen will. – O der Tage, wo ich noch glaubte, selbst berufen zu sein, Dein Wesen durch Liebe zu heiligen! – Ich merkte bald meinen Irrtum, aber das trennte mich nicht von Dir. Was schadete das meiner Liebe, daß Du mich nicht ebenso lieben konntest? bloß für Dein Bild in meiner Seele hätt ich den Himmel gelassen. Aber es kam eine Stunde, da fühlte ich, daß ich wohl einst Dich würde verachten müssen, daß ich wohl einst würde aufhören müssen. Dich zu lieben: da floh ich; da suchte ich von mir zu retten, was noch zu retten wäre. – Ich sei von Schwärmerei, ich sei an der Einbildung gestorben, wird es heißen. – Nun ja! – Wenn nur Du auf mein Grab kommst, Eduard, mit dem Mädchen, das ich Dir rief, mit dem Mädchen, das Dein Wesen erneuern, zu jeder Freude der Menschheit Deine Sinne wieder rein stimmen soll! Dann wirst Du immer nur eins, das Köstlichste, wollen, anekeln alles andre; wirst dies Köstlichste, Liebste, mit Deiner ganzen Kraft genießen, und darum jeden Genuß des ähnlichen Geringern für Verlust achten. – Ja, Eduard, Du kommst auf mein Grab mit dem Mädchen, und küssest ihm da den himmlischen ewig neuen Kuß der Treue – komm nur bald!

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 555-567.
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