Sylli an Lenore und Clärchen

[543] Ich habe kürzlich an Clerdon, an Euch, und zweimal an Amalia geschrieben; aber die arme Sylli muß nur wieder ganz geschwinde hinsitzen, und abermals nach C** schreiben, sonst hält sie's nicht aus. Es ist ihr von neuem so traurig ums Herz; ihr Sehnen nach Euch hin ist in so starkem Schwunge, daß sie nicht wohl sich zu lassen weiß. – Diesen Morgen, unterdessen Susanna sie anziehen half, kam eine Einladung ... Antwort: »Meine Empfehlung; ich würde aufwarten gegen Abend.« – Und nun seufzte die arme Sylli, und konnte sich nicht enthalten zu Susanna zu sagen« »Wer nur fliegen könnte! ich wüßte wohl wohin ich auf Besuch flöge.« Die hölzerne Susanna hatte nichts hierauf zu antworten. Das Mädchen ist mir ein allzu unbehülfliches Geschöpf. Von Empfindung wäre keine Frage; aber auch nicht einmal so viel Phantasie, so viel Glaube, daß sie an mich und[543] Euch auf irgendeine Weise zu hangen käme. – Doch ist es keine Gliederpuppe! denke ich wohl einmal, und versuch es neuerdings, dies oder jenes bei ihr anzubringen; aber da kömmt sie mir ein wie allemal entgegen mit ihrer Seele, ebenso hölzern, wie mit der vorgereckten Brust ihres Leibes. Auch wenn sie wohl von selbst des Herrn Regierungsraten oder der Frau Regierungsrätin erwähnt, welche sie gekannt gehabt zu haben die Gnade gehabt hat, so hat sie dabei ein so unlebendiges Aussehen, wie die Toilettschachteln, neben denen sie steht, mir die Nadeln herauszulangen ... Seht Kinder! so geht's mir.

Die vergangene Woche war wegen meines Prozesses ein Vergleich im Vorschlag. Ich mußte bei dieser Gelegenheit allerhand fatale Leute sehen, hauptsächlich denn auch den grundschlechten Gierigstein. Der alte Unhold war mir lange nicht vor Augen gekommen; ich erschrak vor seiner Gestalt, die seitdem noch um vieles widriger geworden ist. Denkt nur, der Mensch machte mir Vorwürfe, und zuletzt, nach einigem Hin- und Widerreden, fing er gar an zu weinen. Ach! daß Augen wie die seinigen – daß alle Augen Tränen haben! Einem Gierigstein, wenn er weinen wollte, sollte, anstatt Tränen, etwas aus den Augen kommen, das man wie Staubflocken weit von sich abschütteln könnte; denn Tränen, die rühren einen doch immer, betriegen einen. An diesem Gierigstein ist mir's zum Schrecken aufgefallen, was für eine Gestalt zum Vorschein kommt, wenn einem verkehrten Menschen das Alter die Maske wegdorret, Fleisch und Farbe seine Züge nicht mehr verhüllen: da weißt sich die abgehärtete Nerve; erstarret im Wesen des Häßlichen liegt sie da zur gräßlichen Schau: da bebt der nackende Mund, der kalte, unholde; da zittert das trübe Auge, dessen Blick, nicht mehr lenksam, harren muß im Ausdruck des Argen; da schlappt, odemleer, die Nase, verkündiget Stadtneuigkeiten, Skandale, und weiter nichts; da senkt sich die kraftlose Stirne, auf welche Furchtsamkeit und Mißtrauen die Hauptrunzeln geprägt haben. – Es ist ein peinlicher Anblick, ein wahres Höllenbild, so ein ganz verkommener Mensch, der nun offenbar heillos in die Erde hinunterstarrt. – Meine Mutter, die süße Liebe! oh, wie war die so schön von ihrer Seele! – sie verschwand wie ein Engel. Nie werd ich das liebe Bild vergessen, werd es noch oft wieder anfrischen mit Tränen, mit Freudentränen über die liebe Mutter, daß sie so war, und daß sie so aussah.

Ich möchte wissen was Ihr heute treibt. Beisammen seid Ihr[544] gewiß, denn es ist Sonntag; aber was für eine Art Wohlleben Ihr miteinander habt, wie und wohin Ihr Euch miteinander weidet, darauf sinn ich. Ist Amalia die Heerführerin, dann geht's wohl nach der Fasanerie, und Ihr kriegt Gebackenes, Milch und Musik; ist aber Clerdon an der Spitze, dann geht's in den Wald, oder über die Felder längst der Donau, und Ihr kriegt Hunger und Durst. – Hört! und Euer eigenes Geschäfte dabei, Ihr zwei lose Mädchen? was wohl unter Euren Schalksaugen sich für Glück und Unglück zuträgt? ... Daß nur von Eduard keine Frage sei! An diesem Eduard in Eurer Mitte kann ich unmöglich Behagen finden. Alles was ich von ihm erfahre, was mir auch mein Bruder von ihm meldet, der ihn doch über alles liebt, macht mich zittern für Unheil. Der unbändige Mensch mag wohl außerdem ein herzguter Junge, mag wohl grundbrav sein, und es mit andern gewöhnlich besser meinen, als mit sich selbst: aber das macht ihn nur gefährlicher; das gibt ihm die offene, unschuldige Miene, wogegen kein Rat ist, worauf man die Hand ihm von ferne reicht, sich ihm anschlingt, und Gemeinschaft mit ihm macht: erst hintennach wird man dann gewahr, was er für unsichere Straßen wandelt, wie verwegen er im Handel ist, wie wohlfeil er seine Haut bietet, und folglich die seines Genossen mit ... Nun ein Mädchen das seines Weges käme – das abzuweisen – wie wär es möglich? So ward unsere Luzie hingewagt, so ging uns das süße Geschöpf verloren; denn sie stirbt, Kinder, und ihr Tod ist dieser Allwill! Nie war der Holden ein Jüngling erschienen wie Allwill – so sinnend, so bescheiden, und zugleich so voll Geist und edlen Eifers. Keine Tugend, keine Liebenswürdigkeit, die sich nicht in ihm abspiegelte wie Sonn im Meer, und das so ganz aus nackender Eigenschaft seiner Natur. Überall in vollem Entzücken über fremdes Verdienst, war sein einziges Bestreben, daß er nur gelitten würde. Eine so rührende Einfalt, bei so vielen Vortrefflichkeiten, bei dem schönsten Jugendglanz, mußte jedweden bezaubern. Auch gab es niemand, wie ehrenreich er war, der sich nicht gern Eduards Freund nannte ... Unserer Luzie – dies alles vor Augen! ... Oh, ich seh den Engel – still, unsichtbar in der Ferne schweben – beten für den seltnen Jüngling – Entzündet nur in Freude, in reiner Engelsfreude über den Edeln! ... Und dennoch war's Gift! ... Kinder! wenn's Euch nur hiebei schaudern könnte, wie es mich schaudert! ... Töricht! Es kann Euch so dabei nicht schaudern. Aber wie rett ich Euch? Clerdon, Amalia, hütet mir die zwei lieben Geschöpfe![545]

Es soll unerhört sein, daß dem Eduard je ein Anschlag mißlungen wäre. Er wagt sein alles an die Erreichung jedes Zwecks. Wer ihm abgewönne, der gewönne ihm nie weniger ab als sein Leben. Clemenz nennt ihn einen Besessenen, dem es fast in keinem Fall gestattet sei, willkürlich zu handeln; – man brauche nur einmal ihn gesehn zu haben, um dies lebendig wie eigenes Dasein zu fühlen. – Ein schrecklicher Charakter! – Und was für ein göttliches Ansehen der Mensch haben muß, wenn er das Gute, das Schöne verfolgt! – und es muß beinah scheinen, als verfolg er es immer, denn alles Böse, das durch ihn geschieht, bleibt entweder verborgen oder es läßt sich als zufällig nehmen. – Oh, hütet Euch! Oh, flieht! – Du Lenore besonders, Du mit dem zarten durchdringlichen Sinn. – Glaube mir, Beste! Liebe macht uns Weiber immer unglücklich. Die Männer verdienen so wenig das Opfer unsers Daseins, daß sie nicht einmal anzunehmen wissen, was wir ihnen geben. Das Glück ein ganzes Herz zu besitzen – wie sollten sie das schätzen können, da ihr Herz nie einen Augenblick ganz, da kein Gefühl desselben bei ihnen lauter ist! Keine Wonne, nicht die höchste der Menschheit, gilt ihnen so viel, daß sie dieselbe rein bewahrten. Keine Empfindung ist ihnen in dem Grade lieb, daß sie dieselbe nicht durch ekelhafte Vermischungen trübten, ihr Bild entweihten. Die Fülle des Köstlichen – Was? die schmecken sie nie, haben sie nie; darum kann ihnen nie genügen; darum sind sie – ohnmächtig zur Liebe. Wir Arme merken das nicht gleich; wir glauben wohl gar eine Zeitlang stärker geliebt zu sein, als wir selber lieben. Aber, o wie bald offenbart sich das anders! – Da stehen wir dann dem Geliebten gegenüber, und fühlen durch unser ganzes Wesen: Dein! fühlen durch unser ganzes Wesen: – nicht mein! ... Wenn du das Gräßliche – die unaussprechliche Schmach des Gefühls ahnden könntest: – ich – Dein! Du – nicht mein! – – Verloren zu sein, platt verloren an jemand ... Unser eigenes Selbst entflohen aus uns – entflohen aus Ihm ... Gar kein Dasein mehr; keins in sich, keins im andern. Man ist verschwunden unter den Lebendigen; getilget mit Schande aus ihrer Zahl – Elend ohne Maß, ohne Namen! ...

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 543-546.
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