10. Das Patenkind des Todes.

[61] Es war einmal ein armer Bauer, der hatte vierundzwanzig Kinder, und eines Tages wurde ihm sogar das fünfundzwanzigste geboren. Die andern Bauern waren schon zwei- und dreimal bei ihm zu Gevatter geladen und sahen ihn schief an, als sie von dem Kinde hörten. Darum machte er sich auf über Land, um einen Paten zu suchen. Da begegnete ihm der liebe Gott und bot sich ihm an zum Gevatter. »Nein,« sprach der Mann, »dich nehme ich nicht, du hältst es zu sehr mit den Reichen und lässt die Armen leer ausgehen.« Als der liebe Gott fortgegangen war, stellte sich der Wind ein und sprach: »Lass mich Gevatter stehen!« – »Dich mag ich erst recht nicht,« entgegnete der Bauer, »du bist noch ungerechter; du reisst bald diesem, bald jenem Haus und Scheune um, verfolgst aber vorzugsweise uns Arme.« Endlich stellte sich ein Mann ein, der sagte, er wäre der Tod, und erbot sich gleichfalls, die Gevatterschaft auf sich zu nehmen. Diesem sagte der Bauer freudig zu, denn er sei gerecht. Er schone weder reich noch arm, weder alt noch jung; wer heran müsse, müsse heran.

Der Tod stand also Gevatter und gab auch ein treffliches Patengeschenk; denn er sprach zu dem Bauern: »Lass deinen Sohn einen Doktor werden, so soll es ihm nicht an grossem Ruhm und Kundschaft fehlen. Ich habe ihm die Gabe gegeben, dass er mich an den Krankenbetten erkennen kann. Stehe ich da zu Häupten des Bettes, so muss der Kranke sterben; stehe ich zu Füssen desselben, so bleibt er am Leben. Doch nur so lange werde ich ihm gewogen sein, als er so[61] gerecht und unbestechlich ist, wie ich selbst bin.« Nachdem der Tod dies gesprochen, ging er seines Weges.

Wie er vorher gesagt, so geschah es auch. Der Knabe wuchs heran und hatte die wunderbare Gabe, das Ende eines jeden Kranken vorher zu sagen, weil er den Tod am Bette sehen konnte. Dadurch ward er bald ein weltberühmter Arzt, und alles Volk strömte ihm zu. Stand der Tod zu den Füssen des Kranken, so machte er ihn gesund, so verzweifelt der Fall auch scheinen mochte; stand der Tod aber zu Häupten, so liess er sich erst gar nicht auf grosse Kuren ein, sondern gab den Kranken sofort auf.

Nun wurde ein reicher Graf, der in seiner Nähe wohnte, totkrank, so dass kein Arzt ihm mehr helfen konnte. Da schickte er in seiner Not zu dem Wunderdoktor und bat ihn, er möge doch kommen. Mache er ihn gesund, so sollten 100000 Goldgulden seine Belohnung sein. Der Doktor kam auch, sah aber sogleich, als er in das Krankenzimmer trat, dass keine Rettung mehr möglich sei; denn der Tod stand zu den Häupten des Grafen. Er sprach darum: »Bestellt Euer Haus! Rettung ist nicht mehr möglich! Ihr müsst sterben!«

Als der Graf vernahm, dass auch der Wunderdoktor ihn aufgebe, da begann er zu weinen und zu wehklagen und bat ihn vom Himmel zur Hölle, ihm doch mit seiner Kunst zu helfen; auch schwur er ihm zu, dass er die 100000 Goldgulden wirklich bekommen solle. Da begann sich die Habsucht in dem Patenkind des Todes zu regen, und er beschloss, seinem Gevatter einen Streich zu spielen. »Ja,« sagte er, »wenn es so steht, will ich noch einmal helfen. Vier Diener her und dreht die Bettstelle um!« Die Bedienten thaten, wie er befohlen, und der Graf war nicht wenig erstaunt, als ihm der Wunderdoktor erklärte, er würde jetzt wieder so gesund werden, wie je zuvor. Erst hielt er ihn für einen Betrüger, doch er hatte recht, von Stund an nahmen die Kräfte des Grafen zu, und nach wenigen Tagen war er völlig wieder hergestellt. Der Wunderdoktor aber erhielt die 100000 Gulden bei Heller und Pfennig ausgezahlt.

Wie er sich nun eines Tages so recht über seine schlaue List und den schnell erworbenen Reichtum freute, öffnete sich die Thüre, und der Tod trat herein. »Du bist ungerecht gewesen,« hub er an, »darum werde ich dich jetzt holen. Mach dich nur fertig!« Der Doktor suchte vergeblich die feinsten Ausreden hervor, der Tod blieb unerbittlich; da sprach er ganz traurig: »So lass mich wenigstens noch ein letztes Vaterunser beten, damit ich nicht in meinen Sünden von hinnen fahre.« – »Das soll geschehen,« sprach der Tod, und sein Patenkind begann: »Vater unser, der du bist im Himmel,« dann war es stille. – »Bete doch weiter,« drängte der Tod. – »Ach nein, das hat Zeit,« antwortete der Doktor; »den Schluss gedenke ich noch nicht so bald zu beten.« Da sah der Tod ein, dass er von seinem Paten zum zweiten Male betrogen war, und ärgerlich ging er von dannen.

In der Erntezeit musste der Doktor einst über Feld und sah im[62] Landgraben einen halb verhungerten, sterbenden Bettler liegen. »O, bete für mich, bete,« schrie der Unglückliche, »damit meine Seele im Himmel angenommen werde! O bete doch nur ein Vaterunser!« Den Doktor jammerte des armen Mannes von ganzem Herzen, und um ihn zu trösten, betete er das Vaterunser in aller Andacht her. Kaum hatte er aber Amen gesagt, so erhub sich der Bettler, lachte und rief: »Jetzt bist du mein und musst mir folgen.« War der Bettler der Tod gewesen, welcher seinem schlauen Patenkind ebenfalls mit List zu Leibe gegangen war.

Die beiden gingen nun zusammen weiter und weiter, bis sie an einen hohen, unermesslich grossen Berg kamen. »Hier werde ich dir eine Herrlichkeit zeigen, die über alle Herrlichkeiten ist,« sagte der Tod und führte sein Patenkind durch ein Thor in den Berg hin ein. Drinnen brannten tausend und aber tausend Lichter, dass das Auge geblendet wurde von all dem Glanz.

»Wo sind wir hier?« fragte der Wunderdoktor. »Wir sind in dem Saale, wo die Lebenslichter aller Menschen brennen. Hier ist das deinige!« versetzte der Tod. Da schaute der Doktor hin und erblickte auf seinem Leuchter ein ganz kleines Licht-Stümpfchen, dessen Docht beinahe verglimmt war. »Hab' ich denn kein längeres Licht?« rief er erschrocken. »Du hattest ein langes, schieres Licht,« antwortete der Tod, »aber das hast du dem reichen Grafen geschenkt, als du mich betrogst.« Da griff das Patenkind des Todes in seiner Angst zu einem hellbrennenden Kinderlicht, um das auf seinen Leuchter zu stellen; aber es war zu spät. Ehe er so weit gekommen war, verlöschte sein Licht, und er fiel tot zu Boden. Das hatte er davon, dass er den Tod betrog.

Quelle:
Ulrich Jahn: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l, Norden/Leipzig 1891, S. 61-63.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
Volksmärchen Aus Pommern Und Rügen, Part 1 (German Edition)