2.

[147] Einige Tage vergingen. Einmal gegen Abend klingelte er wieder an.

Klara kam ihm entgegengeeilt und streckte ihm beide Hände hin.

»Da sind Sie ja! Endlich! Seien Sie herzlich gegrüßt! Wie gehts Ihnen? Womit verbringen Sie Ihre Tage? Wir haben uns ja lange nicht gesehen.«

Sie zog ihn neben sich auf einen Sitz nieder. Er sah sie betroffen an. Ihr schönes feines Gesicht brannte, ihre Lippen umspielte ein Lächeln, das ihm fremd an ihr war. Er beantwortete ihre Fragen; sie ließ ihn jedoch kaum ausreden. In hastiger, übersprudelnder Weise erzählte sie ihm Dinge, die von keinerlei Interesse für ihn waren. Dabei warf sie von Zeit zu Zeit einen flüchtigen, jagenden Blick auf ihn. Er wurde immer verwunderter. Was mochte sie haben, sie, deren vornehme Ruhe, deren stolze Haltung bei all ihrer versteckten Wärme ihn so angezogen hatte.

Er hatte ein tiefes, wunderbares Wort von ihr[147] erwartet, einen stummen Händedruck nach der dunkeln Geschichte, die ihr die Mutter sicher mitgetheilt hatte. Er hatte erwartet, daß sie ihm sagen würde: »Ich will dir helfen, das Rätsel zu tragen, ich will mit dir stark sein und deine Augen mit meinen sonnigen Blicken stählen, daß sie lachen lernen, deine armen Augen«. Statt dessen suchte sie durch hüpfende Gedanken, durch zerstreuende Gespräche ihn über sich selbst hinwegzutäuschen. Andere Frauen waren bei seiner Geschichte ängstlich geworden und hatten sich von ihm abgewendet. Manche hatten einen Irrsinnigen in ihm vermutet. Sie that keins von beiden. Sie bemühte sich anscheinend, in seinem Verhängnis eine Schrulle von ihm zu erblicken, über die man ihn hinausbringen mußte. Um diesen Zweck zu erreichen, spielte sie die plaudersüchtige Schöne, die an den nichtigsten Gegenständen Interesse zu haben schien. O welch schlecht gewähltes Mittel! Welch grausame Enttäuschung für ihn! Er nahm kühl Abschied von ihr. Als er auf der dunklen Straße seiner Wohnung entgegenschritt, dachte er: es ergeht mir wie dem Tod. Die Einen lachen und witzeln über ihn, um sich über ihn hinwegzutäuschen, die Andern verbergen sich ängstlich vor ihm; aber Wenige wagen es, ihm tapfer Aug in Auge zu blicken, seiner ausgestreckten Rechten zu begegnen.

Bertram machte Licht, warf sich auf das Sopha[148] und sah an seine rechte Seite. Der Hund blickte mit stumpfen Augen zu ihm auf.

Was willst du eigentlich, unseliges Geschöpf? Was soll dein stummes Dahinschleichen neben mir? Oder wärst du ein bloßes Phantasiegebilde? Nein, nein. Da stehst du neben mir; ich könnte die Haare deines Felles zählen, ich sehe den eingeklemmten Schwanz, die stierenden, stumpfen, auf mich gerichteten Augen – ewig und immer – bei Tag, bei Nacht. Wenn jetzt ein liebes, treues Weib neben mir säße! Siehst du ihn? würde ich sagen. Sie würde ja oder nein antworten. Aber die bleierne Bangnis wäre unterbrochen. Ich würde vor sie hinknien, meinen Kopf in ihren Schooß legen und sie bitten: O fürchte dich nicht vor mir! Und dann würde ich ihn ihr beschreiben, wir redeten über ihn, und damit wäre der Bann des drückenden Geheimnisses gebrochen. Weshalb erschrickt man nur vor Dingen für die der Verstand keine Erklärung findet? Liegt nicht eine große Feigheit darin? Aber vielleicht würde Klara, nachdem sie die erste Verblüffung überwunden hatte, ihre natürliche, schlichte Einfachheit wiederfinden. Er ließ einige Tage vergehen, dann klopfte er aufs Neue bei beiden Damen an. Die Mutter sah ihn forschend und halb traurig an; die Tochter, auf deren etwas erschöpftem Gesicht er die Spuren innerer Qualen wahrzunehmen glaubte, kam ihm wie jüngsthin mit hüpfender[149] Heiterkeit entgegen. Er sah ihr ernst und flehend in die Augen. Sie wandte sich ab.

Nach einer in wertlosem Gespräche verbrachten halben Stunde konnte er sich nicht länger beherrschen, er faßte heftig ihre Hände.

»Klara, stellen Sie nun die Kindertanzschuhe fort und seien Sie wieder eine Erwachsene.«

Bei der hastigen Bewegung, mit der er ihre Hände ergriffen hatte, war ihr ein Ausruf des Schrecks entflohn. Sie fürchtete ihn also doch! Ihr lautes Gebahren sollte nur ihr Grauen vor ihm übertäuben. Also doch!

»Klara, behüte Sie Gott!« sagte er mit einer Stimme, die vor Zärtlichkeit und Thränen zitterte, und verließ sie.

Draußen war ihm, als töne ihm ein schwaches Rufen nach. Aber er hörte nicht darauf. Den Kopf mit den blassen gequälten Zügen in den Nacken geworfen schritt er weiter.

Das war der letzte Versuch gewesen. Nun würde er keinen mehr machen. Weshalb auch sich so heftig gegen die Einsamkeit sträuben? War er denn überhaupt einsam? Er blickte neben sich hin. – Dann begann er eine Opernarie zu pfeifen, bezahlte einige Rechnungen und reiste ab.

Man sah ihn auf einem großen Auswandererschiff auf dem Wege nach Australien. Er irrte durch fremde[150] Städte, hörte wunderliche Sprachen um sein Ohr schwirren, sah schwarze, gelbe und braune Menschenantlitze um sich. Aber kein Meer war zu breit, keine Insel zu fern, um den Schatten zu verhindern, ihm Gesellschaft zu leisten. Obwohl Bertram sich dies vorausgesagt hatte, machte es ihn doch unaussprechlich düster und hoffnungslos. Er schloß sich einer Karawane an, die die Wüste durchquerte; auch sein Hund ging mit. Er machte in Gesellschaft eines Abenteurers eine Ballonfahrt viertausend Meter über die Erde mit. Sein Hund fehlte nicht in der kleinen Gondel. Er stieg in die dunkelsten Schachte in Sibiriens Bleibergwerken, der Hund stieg mit.

Die Leute hielten ihn für einen Schwerkranken, so elend sah er aus. Menschen, mit denen er auf der Reise bekannt wurde, ermahnten ihn zum Arzt zu gehn und prophezeiten ihm sein baldiges Ende.

Er lächelte schmerzlich und beruhigte sie, er hätte seit seinem fünften Jahre nicht besser ausgesehen.

Eines Morgens erwachte er in einer seltsamen Stimmung. Eine Sehnsucht nach etwas, das irgendwo in der Welt für ihn in Erfüllung gehen sollte, pochte an sein Herz. Er befand sich zur Zeit im Norden Amerikas. Er benützte die raschesten Verkehrsmittel, um nach Europa zu kommen. Voll Ungeduld durchmaß er die Gallerie des Schnelldampfers, der ihn heimwärts bringen sollte.[151]

Quelle:
Maria Janitschek: Kreuzfahrer, Leipzig 1897, S. 147-152.
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