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[103] Als Hildegard nach langen, bangen Stunden endlich die Alpen, und von ihnen umkränzt den Spiegel des saphirblauen Bodensees auftauchen sah, vermochte sie ihrer Aufregung kaum mehr Herr zu bleiben. Sie warf einem Bahnhofbediensteten ihren Gepäckschein hin, gab ihre Adresse an, und flog ihrer Wohnung zu. Unterwegs wollte sie verschiedene ihr bekannte Leute auf der Straße anhalten, und die Frage an sie stellen, die ihr Herz bis zum Zerspringen beunruhigte. Lebt Einhart noch, lebt er? Aber ihre zitternden Lippen vermögen kein Wort hervorzubringen. Vor ihrem Hause schöpft sie tief Atem, stürmt die Treppen hinauf, klingelt an, und eilt an der öffnenden Aufwärterin vorbei in sein Zimmer.

Da sitzt er mit blassen eingefallenen Wangen in seinem Bett zwischen aufgesteckten Kissen. Sie fällt vor ihm nieder.

Seine Augen öffnen sich weit, weit. Er sagt aber kein Wort, legt ihr nur langsam die Hand auf den[103] Kopf. So bleiben sie beide lange Zeit. Dann faßt sie die schlanke, heiße Hand.

»Magst du mich noch, Einhart?«

Er antwortete nicht. Er sieht ihr ins Gesicht, in die schönen, vom Weinen geröteten Augen, die alles Harte, Trotzige verloren haben.

»Einhart, magst du mich noch?« wiederholt sie leiser.

Da geht ein Lächeln über sein Gesicht.

»Nein, ich mag dich nicht mehr.«

Sie steht auf und legt die Arme um seinen Hals. Er lehnt den Kopf an sie.

»Magst du mich? Jetzt?«

»Jetzt mag ich dich, weil ich dich zu verstehen beginne. Warst du nicht schlau? Sag ehrlich, als ich von dir ging, wußest du nicht genau, daß ich mich in der Öde, die sie Freiheit nennen, nach dir besinnen würde?«

»Nein, das ahnte ich nicht« versetzt er offen.

Sie sinnt einen Augenblick darüber nach, wie in dem männlichsten Manne doch das Kind mit all seiner jungen Naivität haften geblieben ist. Aber jetzt ruft diese Wahrnehmung kein höhnendes Lächeln mehr auf ihre Lippen, es treibt ihr Thränen in die Augen. Sie streichelt sein weiches braunes Haar, das an den Schläfen schon spärlich zu werden beginnt. Er muß fürchterlich[104] viel in sich durchgelitten haben. Früher fand sie es nie der Mühe wert, sein Angesicht zu studieren. Jetzt entdeckt sie alle die kleinen Züge und Schatten, die stumm getragener Kummer ins Antlitz gräbt. Bitteres Weh ergreift sie. Am liebsten möchte sie ihr Gesicht in seine Hände legen und sterben, um ihr eigenes häßliches Bild nicht zu sehen, das ihr die Wundmale dieses Mannes da weisen.

Aber sterben wäre feig. Neu aufbauen, neu aufbauen, was sie schon halb zerstört hat, das ist das beste, was sie thun kann. Und Gott sei Dank, daß sie es noch kann, und die Zerstörung, die sie angerichtet hat, keine vollständige war.

»Einhart« sagt sie, sich auf den Bettrand niederlassend, »nicht wahr, wenn du wieder aufgestanden bist und dich gesund fühlst, beginnst du aufs neue zu malen. Nicht Porzellanteller, und auch nicht Muster für Kleiderstoffe. Schöne große Bilder in Öl, so wie du sie früher machtest.« .....

Er blickt sie verwundert an.

»Wir wollen gemeinschaftlich das schönste Mädchen suchen, das deine Künstleraugen zu frohen Schöpfungen begeistert. Und dann ziehst du wieder am frühen Morgen hinaus in den grünen Wald und bannst die Goldtropfen, die die Sonne durch die Baumwipfel auf den Moosboden sickern läßt, auf deine Leinwand. Und das schöne Mädchen steht mit einem schlanken Henkelkrug an der[105] nahen Quelle und lächelt dir zu. Ich indessen will zu Hause frische Blumen in dein Atelier stellen und den Tisch mit duftigen Früchten und blitzendem Geschirr schmücken, damit du, wenn du heimkommst, dich freust und mich lieb hast.«

Er sieht sie immer verwunderter an.

»Ich phantasiere nicht, Einhart, Gott ist mein Zeuge. Ich habe denken gelernt, das ist alles.«

»Aber du wolltest doch eine moderne Streiterin im Kampf für Frauenfreiheit und Frauenrechte werden« meint er und lächelt schwach.

Und da beginnt sie ihm zu erzählen. Sie entwickelt ihm das Bild des Zwistes, des Phrasengeklingels, der Verworrenheit der Bestrebungen, das sie kennen gelernt hat. Sie läßt vor seinen Ohren Fräulein Buturunds männermordende Schwerthiebe sausen und Frau Sanghausens Appell ertönen. Man hört die Verwundeten aus der Winselstimme der Frau von Werdern klagen, und sieht Tücher schwenken bei Tini Froßens herausforderndem Kampfruf. Einhart horcht und lächelt.

»Das ist ja die reine Amazonenschlacht, was du da schilderst.«

»Mal sie!« ruft Hildegard. »Links den Chor der fliehenden Männer, rechts die Schar der sie verfolgenden Amazonen. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet mit Federn, Linealen, Bleistiften, Pinseln.«[106]

»Und die Eine von ihnen, die am grimmigsten auf ihrem Pferde hinrast, trägt die Züge meiner Hildegard.«

»Nein, nein, die laß eine weiße Fahne vor einem der verfolgten Männer senken.«

»Ists wirklich so?« fragt er.

Statt der Antwort legt sie die Lippen auf seine Stirn.

Quelle:
Maria Janitschek: Die Amazonenschlacht, Leipzig 1897, S. 103-107.
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