IV

[359] So sah und hörte er lange nichts mehr von dem Nachbarvölklein und vergaß dasselbe beinahe über all den Ereignissen, deren Zeuge und eifriger Mithelfer er an seinem bescheidenen Orte war. Zwinglis und seiner Freunde Werk hatte sich in der Zeit siegreich über die ganze offene Schweiz verbreitet und mit den deutschen Reformationsverhältnissen berührt; das mächtige Bern war hinzugetreten, weiches ein verschiedenes Temperament und eine andersgeartete politische Auffassung mitbrachte; mannigfache weitere Träger, Gegensätze und Ansprüche wirkten mit, so daß eine größere Masse in Bewegung ging, hier vorwärtsdrängend, dort schwerfälliger an sich haltend, und dazwischen schwankende, vermittelnde Teile schwebten, alles das um den festen Kern der katholischen Orte herflutend, welche unveränderlich, listig und entschlossen wie eine Insel inmitten der Flut widerstanden, auf altbewährte Kraft bauend und von den auswärts waltenden Mächten der Vergangenheit angefeuert.

Auf dieser stürmisch hin und wider wogenden See fuhr das Schifflein der Zürcher mit seinem Zwinglischen Steuermann ohne Aufenthalt weit voran. Mit vollkommener Einfalt in seinem Vertrauen auf die unmittelbare persönliche Vorsehung Gottes und ebenso großer Wachsamkeit und Kenntnis der Dinge und Menschen kämpfte er unermüdlich gegen List und Gewalt[359] der gegnerischen Welt; er war die Seele des geheimen und des offenen Rates, Lehrer und Prediger, Staatsmann und Diplomat und schrieb mit der gleichen Feder theologische Abhandlungen, Sittengesetze, Staatsschriften und Kriegspläne.

Denn endlich war die Sache zum kriegerischen Austrage gediehen; der Reformator lebte des heiligen Glaubens, daß diese Welt des Widerstandes nur gezwungen zu werden brauche, das Wort Gottes zu hören, um sich zu ergeben, und statt der völkerrechtlichen Verträge führte er lediglich das Evangelium in der Hand, während das alles den Widersachern unleidlich war und jener nicht wußte, daß ein Volk aus dem gleichen Grunde eine Religions- oder Staatsänderung abweisen kann, aus welchem eine Weibsperson ein für allemal einen Freier verwirft.

Aber unerschütterlich standen jetzt Regiment und Volk hinter dem Meister, wobei freilich die Eintracht und das gute Einvernehmen mit eine Frucht steten Berichtens und Anfragens bei den Gemeinden waren. Auch dem Hans Gyr, der eine Versinnlichung des Volksgeistes vorstellen konnte, wie dieser jetzt lebte, waren die Dinge geläufig, und er wurde in brauchbarer Tätigkeit zur Hand gefunden, als jetzt zu den Waffen gegriffen wurde.

Die beiden Lager des ersten Kappeler-Krieges standen sich jenseits des Albisgebirges gegenüber in der Weise, daß die Katholischen nicht genügend vorbereitet und zahlreich, die Zürcher aber im Vorteil waren an Macht sowohl als in der politischen Stellung überhaupt. Ihre Verbündeten waren zum großen Teil ebenfalls aufgebrochen und im Felde, während der österreichische König Ferdinand, mit welchem die fünf Orte ein Bündnis geschlossen, keine Anstalten traf, ihnen tatsächlich beizuspringen.

Da die fünf Orte unter diesen Umständen etwas kleinlaut und eine gute Zahl Vermittler und Schiedleute mit im Felde waren, kam es zu jenem Frieden, der nur von kurzer Dauer[360] sein sollte und die Zürcher sowie das von ihnen geführte Werk um den Vorteil brachte. Indessen bot das zürcherische Lager während der Zeit der Unterhandlungen das neuartige Bild eines reformierten Kriegslagers, wie es später vielleicht nur unter dem Schwedenkönig oder bei den englischen Puritanern eine Wiederholung fand, und in diesem Musterlager stellte der Hansli Gyr einen wahren Mustersoldaten vor.

Die Trommel rief täglich zu Predigt und Gebet; jeder war gut genährt und getränkt, aber es wurde keine Betrunkenheit gelitten noch Fluchen oder lästerliches Schwatzen. Keiner durfte eine Pflanze im Acker schädigen oder einen Zaunstecken entwenden, und freundliches Benehmen unter sich und gegen jedermann, selbst gegen die Feinde im Felde, war allgemeine Übung. Die Jüngeren verbrachten ihre Zeit mit fröhlichen Liedern oder mit solchen Spielen, welche die Glieder schmeidigten, mit Leibesübungen, wie Steinstoßen und gewaltiges Springen; alle landläufigen Dirnen wurden ferngehalten oder verjagt, wenn sich eine sehen ließ.

Hansli Gyr war einer der Eifrigsten, solche Ordnung zu halten. Für einen jungen Krieger (freilich jetzt bald nicht mehr ganz jung) betete er fast etwas zu gern und zu laut und mit zu feierlichem Gesichte, wie wenn er sich selbst wohlgefällig belauschen würde, obgleich dies wenigstens jetzt noch nicht der Fall war, wohl aber kommen konnte, wenn es lange so fortging. Immerhin hörte er sich nicht ungern sprechen, während er früher einsilbiger gewesen war. Das lag aber in den Zeitläufen und in der aufgeregten Teilnahme, in welcher der einzelne bei den gemeinsamen Angelegenheiten festgehalten wurde.

Sah er aber einen Burschen von fern mit einer Landmagd reden oder gar schäkern, so sandte er sofort eine Wache hin, zu betrachten, was dort vorgehe, und ließ sich gar eine kurzgeschürzte Kriegsdirne blicken, so hätte er am liebsten den Merkur oder die Venus auf sie gerichtet und abgeschossen, welche[361] unter dem Züricher Feldgeschütze standen, und der Vogel tat wohl, zu dem Lager der Katholischen zurückzufliegen, von woher er gekommen. Denn dort gab es Weiber die Menge nebst Karten- und Würfelspiel, obgleich Speise und Trank teuer waren.

Nachdem nun die im Felde anwesenden Vermittler und Schiedleute die Stimmung auf beiden Seiten so weit gebracht hatten, daß ein Frieden verhandelt werden konnte, wurde beschlossen, denselben vor offene Kriegsgemeinden zu bringen. Zuerst stellte sich das zürcherische Heer auf freiem Felde auf im weiten Ringe um eine hohe Bühne, auf welche das Banner, umgeben von den übrigen Fahnen, gepflanzt war, nach dem Ausspruche Wo das Banner weht, da ist Zürich. Dabei standen die Hauptleute und Fahnenträger, die Rottmeister aber vor ihren Leuten auf freiem Platze und unter ihnen Hans Gyr; ihnen lag ob, vor andern aufmerksam zu hören, was gesprochen wurde, und Hans stand in der Tat so ernst und schweigend da wie eine Bildsäule, sobald die dreißig Abgeordneten des katholischen Heeres, von einem Trompeter eingeführt, zu Pferde erschienen waren und vor der Tribüne hielten.

Zuerst stiegen die Schiedsmänner hinauf und hielten ihre zum Frieden mahnenden Reden, worauf die Katholiken ihre Redner absitzen, die Tribüne besteigen und ihre Klagepunkte vorbringen ließen, worauf sie wegritten und die zürcherischen Führer wieder auftraten, Zwingli an der Spitze, um über das Gehörte weiter zu sprechen und zu beraten.

Mit dem Ergebnis dieser Beratung ritten am dritten Tage die reformierten Abgeordneten, an sechzig Mann stark, in das Lager der fünf Orte hinüber. Dort stand in gleicher Weise die Heergemeinde versammelt, und es kam die Reihe nun an die Zürcher, vor dem katholischen Volke ihre Beredsamkeit zu entwickeln.

Leider waren sie in diesem Punkte nicht gut bestellt. Der Reformator selbst hätte bei dem gegen ihn obwaltenden Hasse in[362] keinem Falle mitgehen können; die ersten Hauptleute aber waren dem Reformationswerke nie grün gewesen und dem Frieden allzu günstig gestimmt, so daß von ihrer Vertretung keine große Wirkung erhofft wurde. Es blieb nichts anders übrig, als einen Advokaten von Beruf zum Sprecher zu wählen, welcher vor dem aufmerksamen Heer der Waldstätte, das an Landsgemeinden regelmäßig gewöhnt war, seine Aufgabe nur dürftig löste.

Es waltete daher eine kühle und ungewisse dünne Stimmung über der Szene; da trat zuerst Hansli Gyr den Herren zur Seite und erhob das Wort, indem er aus seinem Volksgemüte heraus zu demjenigen der Gegner sprach, wie es der Meister Ulrich nicht besser hätte wünschen können. Frischweg und verständlich ließ er jene hören, was dem reformierten Volke das Herz bewege und wie es auf seine Wege geraten; was es für recht und billig halte und wie es zu seinen Führern stehen werde bis in den Tod, einem gerechten Frieden aber nicht entgegen sei, sondern mit Freuden zu seinen alten Eidgenossen zurückzukehren sich sehne, sobald diese zu gerechten und notwendigen Friedensartikeln die Hand bieten.

Ihm folgten ohne Zögern andere Kriegsleute aus den zürcherischen Landgemeinden und verteidigten in kräftiger Rede ihre und ihrer Herren Sache. Das katholische Heervolk erhielt durch dieses Auftreten den bestimmten Eindruck, daß die reformierte Bevölkerung mit sich einig sei und wisse, wohin sie wolle, und die Gemeinde ging nachdenklich über das Gehörte auseinander.

Die Schiedleute, Männer von Straßburg, Konstanz, Basel, Bern usw., eifrig und ängstlich, den Krieg und die offenbare Spaltung der Eidgenossenschaft zu hindern, setzten sich nun in der Mitte zwischen den beiden Lagern, in dem Dorfe Steinhausen, zusammen und minderten oder mehrten die Artikel, wie dieselben dann beiden Teilen vorgelegt und nach abermaliger Beratung und Zögerung schließlich angenommen wurden.[363]

Kein Teil war recht zufrieden; immerhin war eine Hauptsache für die Reformierten erreicht, nämlich daß die fünf Orte der Ferdinandischen Vereinigung absagten und den Bündnisbrief herausgaben. Der Landammann von Glarus, welcher mit nassen Augen erst den Ausbruch der Tätlichkeiten verhindert und die Verhandlungen ermöglicht hatte, zerschnitt das Pergament mit seinem Dolche vor allem Volke und mit jener Genugtuung, welche wohlmeinende, aber nicht weitsehende Friedensstifter in solchen Augenblicken empfinden.

Das Heer der fünf Orte kehrte mißmutig und in gedrückter Stimmung nach seinen Bergen zurück, die Zürcher aber als eine Art Sieger mit fliegenden Fahnen und beim Schalle der Musik in ihre Stadt.

Die Auslegung und Durchführung des Friedenstraktates verursachte bald genug neue Schwierigkeiten und Anstöße an allen Enden, so gutmeinend und vorzüglich in an sich rechtlicher und eidgenössischer Hinsicht das Instrument abgefaßt war, trotzdem es im Feldlager entstanden. Denn wo die Zeiten ineinanderströmen und die Leidenschaften, die reinen und die unreinen, darauf einherfahren, sind die Rechtsleute schwache Dammwächter. Als Zeichen der wiedereintretenden Verschlimmerung zeigte sich die wider den Frieden neuerdings erwachende Neigung der fünf Orte mit dem Österreicher abermals anzubinden, und die stets wache Bereitschaft des Bruders Karls V., mit seinen hinterlistigen Einwirkungen die Schweizer auseinanderzubringen, ohne tatsächlich einen Mann daranzuwagen. Eine derartige Hinterlist veranlaßte den sogenannten Müsserkrieg, durch welchen Hansli Gyr wieder ins Feld kam. Der berüchtigte Kondottiere Jakob Medicis, der von Karl V. zum Markgrafen und Kastellan von Musso, einem festen Schloß am Comersee, gemacht worden war, fiel in die den Graubündnern gehörigen Täler von Kläven und Veltlin, nachdem er ähnliche Überfälle schon früher gewagt und bündnerische Gesandte nach Mailand mit Assassinat hatte anfallen und aufheben lassen. Sein Verwandter,[364] Markus Sittich von Hohenems, machte Miene, ihm mit östreichischen Völkern beizuspringen, und es gelang der Plan insoweit, als die Aufmerksamkeit der evangelischen Orte auf diesen Punkt gezogen wurde. Zürich mahnte Bern und die übrigen zur Hilfe für Bünden, und es zog eine hinreichende Macht an Ort und Stelle, warf den Eindringling unverweilt aus dem Lande, veranlaßte die Regierung zu Inspruck zu einer höflichen Entschuldigung wegen des unliebsamen Vorfalls und übertrug dann mit den Bündnern die Fortsetzung des Krieges gegen den von Musso dem Herzog von Mailand sowie das eroberte Gebiet des erstern. Etwa zweitausend Mann blieben behufs der Belagerung des Schlosses zurück, dessen Zerstörung die Schweizer selbst besorgen wollten. Diese Mannschaft wurde unter den Befehl des Herrn Stephan Zeller von Zürich gestellt, welcher den Hansli Gyr bewog, bei ihm zu bleiben, statt mit den Heimkehrenden zu ziehen.

Besagter Stephan Zeller war nämlich ein gar frommer, wachsamer und reformatorischer Mann, welcher sich vornahm, die gute Ordnung des Kappeler Lagers hier einzuführen, nachdem er zu seiner Betrübnis bemerkt hatte, daß auf dem jetzigen Kriegszuge von jener christlichen Zucht nicht viel zu sehen gewesen, teils weil viele Kriegsleute von der alten Observanz dabei, teils weil man außer Landes war und es einen fremden Feind zu schlagen gab. Statt der gottesfürchtigen Liedlein, die Zwingli in seinem alten Toggenburger Dialekt gedichtet und in Noten gesetzt hatte, sangen die Knechte wieder: »Nun schürz dich, Gretlein, schürz dich«, und »Frisch auf, gut G'sell, laß ume gan!« und ließen den Worten häufig die Tat folgen, was dem würdigen Hauptmann keineswegs gefiel; und eben zu einer Unterstützung und Mittelsperson gegen die Verwilderung, gewissermaßen als einen Mustersoldaten, behielt er den Hansli bei sich. Der entsprach dieser Anforderung mit großem Eifer; er suchte mit unveränderlichem Ernste Zucht und Ordnung aufrechtzuhalten, ging in Mäßigkeit und Sitte mit gutem Beispiele[365] voran und war dem Hauptmann, der bei Tag und Nacht alle Posten und Wachen selbst beging und untersuchte, behilflich in seiner Arbeit.

Denn der eingeschlossene Raubtyrann war mit allem Rüstzeug und mit Leuten wohl versehen und sein Nest außerordentlich fest; und so streng ihn die Schweizer mit Hilfe eines trefflichen Geschützmeisters, welchen Landgraf Philipp von Hessen der Stadt Zürich gesandt, beschossen, so ergiebig erwiderte jener das Feuer, und es bedurfte aller Vorsicht, dem Schaden desselben in den offenen Stellungen auszuweichen.

Inzwischen aber nahmen die Knechte, von alten Söldnern aufgestiftet, Ärgernis an der strengen Ordnung, in welcher sie gehalten werden wollten, und spielten dem Hauptmann einen Schabernack, wo sie konnten. Bald artete dies Wesen in eigentliche Anfeindungen und Anschwärzungen aus, die einige nach Zürich zu fördern wußten, also daß Bericht hierüber verlangt und der Hauptmann seinerseits wiederum geärgert und gekränkt wurde.

Der üble Wille mancher schlimmen Gesellen kehrte sich natürlich auch gegen den Hansli, der es treulich mit dem Hauptmann hielt und von ihnen der tugendreiche Feldküster genannt wurde; und wo sie ihm eine Falle zu stellen verhofften, unterließen sie es ungern. Nicht ohne einen Anhauch von Selbstgerechtigkeit ertrug er solche Unbill, seine Wege um so unbestechlicher mit feierlichem Wesen verfolgend.

An einem schönen Septembertage, als das Schießen ruhte, überschritt er den Lagerkreis und wandelte unter dem paradiesischen Himmel dahin, der sich über dem dunkelblauen See von Como wölbte. Er gelangte endlich vor ein Haus, in welchem ein mailändischer Wirt, die Kriegsläufe und Anwesenheit der verschiedenen Heerhaufen benutzend, sich festgesetzt hatte und neben gutem Wein allerhand Kramsachen verkaufte, wie sie von den Soldaten im Felde gesucht werden. Ein paar wohlgestalte Nichten unterstützten das Geschäft und lockten ebenso[366] stark als das Getränke die mailändischen wie die schweizerischen Soldaten herbei.

Unter einer steinernen Bogenhalle, zu welcher eine lange, halbverfallene Treppe hinaufführte, saßen auch jetzt zehn oder zwölf wackere Eidgenossen und zechten. »Da geht der tugendsame Küster!« sagte einer, als er den Hansli unten vorüberschreiten sah. »Lockt ihn herauf!« rief ein anderer, »wir wollen ihn einmachen!«

Sogleich rief der erste hinunter »Rottmeister! Hie gute Gesellen und guter Wein, auf einen Schluck!«

Hansli Gyr bedachte, daß sich vielleicht eine Unordnung verhüten und eine rechtzeitige Rückkehr ins Lager betreiben lasse, wenn er auf ein Stündchen teilnehme, und er kletterte in die Burg der Fröhlichkeit hinauf und setzte sich zu den Zechbrüdern.

Der dunkle Wein war wirklich so frisch und gut, daß er sein kühles Herz erwärmte und Hansli den zutrinkenden Gesellen mehr nachgab, als ihm nützlich war, zumal das goldene Wetter und der scheinbar harmlose Frohsinn der Gesellschaft ihre Rechte geltend machten und ihn seine ernsthaften Grillen vergessen ließen. Einzig die hübschen Aufwärterinnen hielten einiges Bedenken wach; doch würdigte er sie nicht manchen Blickes, sondern hielt sich als einer, dem dergleichen fremd ist.

Da brachte unversehens einen Krug Wein, den er selbst zum besten gab, die schönste Weibsgestalt herbei, die er je gesehen, hoch und fern, mit dunklen Haarflechten, noch dunkleren Augen und reich in grüne Seide gekleidet, Brust und Arme in faltiges, weißes Nesseltuch gehüllt. »Das ist die lange Freska von Bergamo!« hieß es unter den Soldaten (zu deutsch Fränzchen oder Franzi), was aber Hans überhörte, weil er nur auf die auserwählte Erscheinung sehen mußte, die sich keineswegs unbescheiden, aber mit lächelnder Sicherheit bewegte und ohne weiteres an seiner Seite Platz nahm, als er sein gutgefülltes Geldbeutelchen hervorzog, nur um für den Augenblick sich mit[367] ihr zu schaffen zu machen; denn die Worte versagten ihm trotz der ungewohnten Weinlaune, in die er unbewußt geraten war. Immer wieder mußte er das edelgeformte Gesicht, die schlanke Gestalt, die im Knochengerüste hochgewölbte breite Brust anschauen, was alles eher für einen Fürsten gemacht schien als für arme Kriegsgesellen; und soviel schöne Weiber er in Italien auch schon gesehen hatte, so war ihm dergleichen eine doch noch nie vorgekommen.

So oft sie aufstand und wegging, kam sie doch immer wieder zu ihm zurück und gab sich, ohne unhöflich zu sein, mit den andern nicht ab. Der gestrenge Rottmeister sah und hörte nichts mehr als die schöne Person, die sich ruhig und traut mit ihm unterhielt und ihm dabei nicht wie eine verdächtige Gesellin, sondern wie eine wackere gute Freundin in die Augen sah, indem sie nach seiner Heimat und seinen Schicksalen, nach seinen Gewohnheiten und dem, was er gern habe, fragte.

Der Abend rückte vor, es wurde Nacht, die Sterne funkelten am Himmel und aus dem Seespiegel, und Hansli merkte nicht, daß einer der Gesellen nach dem andern sich weggedrückt hatte und selbst der Wirt mit seinen Leuten verschwunden war, bis die lange Freska mit ihrer wohllautenden Stimme sagte: »Hier wird's zu kühl, wir müssen hineingehen, wenn Ihr noch einen Becher trinken wollt!«

Sie gingen in das anstoßende Gemach, welches, ebenfalls leer und still, von einer Lampe schwach erhellt wurde, die am Gewölbe hing. Er war nun ganz verliebt, sein Herz klopfte in der Fülle seiner Lebenslust, die plötzlich aus dem langen Schlaf erwachte, und da der zu reichlich genossene Wein zugleich seinen Verstand umnebelt hatte und er doch wiederum ein redlicher Mensch war, so tauchte, wie sie jetzt ernst und schweigend in seinen Armen lag, das Projekt in ihm auf, das herrliche Wesen, das an sich ein Glück und ein großes Vermögen wert zu sein schien, mit sich zu nehmen und zu heiraten, wenn sie ihn möchte. Das schien ihm indessen keineswegs unzweifelhaft[368] sicher; auf der andern Seite war es aber wohl des Versuches wert, die Seele eines solchen Körpers zu erretten und dem Papsttum zu entreißen.

Wie er derartige Gedanken in seinem heißen Kopfe erwog, spielte er mit der weißen Hand des Weibes und lüftete einen Goldreif, den sie an einem ihrer Finger trug. Plötzlich bemerkte er, daß der Ring ganz genau demjenigen glich, welchen er einst der Ursula geschenkt hatte, und ein Zwillingsbruder desselben, vom gleichen Schmiede verfertigt, sein mußte.

Hansli erblaßte; denn das bleiche liebe Antlitz der armen Ursula stieg vor seinem Geiste empor und warf seinen Widerschein auf sein Gesicht.

»Was ist das für ein Ring?« fragte er mit gepreßter Stimme.

»Das ist der Ring von meinem Geliebten, der mich heiraten wird!« antwortete die schöne Freska gelassen.

»Wo ist er und was ist er?«

»Er ist eigentlich ein Bäcker und Wirt, in den letzten Jahren aber ein Bandit gewesen, da es ihm schlecht ging. Jetzt ist er flüchtig und sitzt in Neapel, weil er im Solde eines großen Herren einen Grafen erschlagen hat und entdeckt worden ist. Sobald ich mir genug Geldes erworben habe, gehe ich zu ihm, und wir errichten irgendwo im Süden eine Locanda und Bäckerei. Nächstens gehe ich nach Rom, wo ich eine Schwester habe, die bei einem Kardinale lebt.«

»Und willst du wirklich an jenem Verlobten hangen, der ein Totschläger und Verworfener ist?«

»Warum nicht? Ein Verworfener ist er nicht, sondern nur ein armer wilder Mensch, der nötig hat, daß man ihm hilft und für ihn sorgt. Wir sind von Kindesbeinen an füreinander gewesen und lassen nicht voneinander!«

Also diese verlorene Seele bleibt einem verbannten Mörder getreu und hält an ihm fest, dachte Hansli bei sich selbst, und du elender Mensch hast die unschuldige Seele der Ursel verlassen und jetzt verraten wollen![369]

Er war bereits wieder nüchtern geworden; der Schweiß stand ihm auf der Stirne, auch hatte er schon die seltsame Person fahrenlassen und empfand einen Abscheu vor dem unbegreiflichen Gemische ruhigen, praktischen Wesens, gemeiner Zweckmäßigkeit, Liebe, Selbsttreue und Schamlosigkeit, welches in der edlen Gestalt zum Vorschein kam.

»Gute Nacht!« sagte er; »leuchtet mir ein wenig!«

»Wo wollt Ihr hin?« erwiderte sie verwundert, aber ruhig; »geht hier durch die Küche, da kommt Ihr auf den bessern Weg.«

Allein er hörte nicht darauf, ging nach der Vorlaube, durch die er gekommen, und begann im Dunkeln die gefährliche Treppe hinabzusteigen; denn die Schöne hatte schweigend die Türe hinter ihm zugeschlagen, statt ihm zu leuchten. Er gleitete auch bald aus auf den verwitterten Steinstufen und stürzte in ein dichtes Lorbeergebüsch hinunter, das ihn zum Glücke vor hartem Schaden bewahrte. Doch hatte er einige Mühe, sich zurechtzufinden und auf festen Fuß zu kommen und sein Quartier zu suchen.

»Ist es möglich! Ist es möglich!« sagte er wiederholt vor sich her, ohne sich in seiner Verwirrung klar bewußt zu sein, ob er die lange Freska oder sich selber meine. Denn er war ja noch länger als das Weibsbild und von festerem Stoffe und war doch gefallen.

Am nächsten Tage machte er kein heiteres Gesicht, als er die Zechbrüder traf, die ihn mit verschmitzten Augen beguckten und mit halblauten Spottworten verfolgten.

»Ihr habt recht und habt nicht recht!« sagte er, sich umwendend zu ihnen, »doch habt ihr mir mehr Gutes als Übles getan!«

»Ei, das haben wir auch bezweckt, Herr Rottmeister!« riefen sie mit Gelächter, »wer wollte Euch etwas Schlimmes wünschen? Heut ist auch ein Tag, und da könnet Ihr ruhig mit den Tugendwerken fortfahren!«

Eine Botschaft und Verrichtung, mit welcher er von den Befehlshabern[370] unerwartet nach Zürich gesandt wurde, kam ihm soeben erwünscht, und er machte sich zur selben Stunde auf den Weg.

In der Heimat hatten sich die Dinge wieder zum innern Kriege angelassen und drängten nach jener Entscheidung hin, welche durch die unglückliche Kappeler Schlacht zuungunsten Zürichs ausfiel und die Reformation auf dem Punkte festhielt, auf dem sie gerade stand.

Die Stadt Zürich war jetzt mit Gelehrten und Theologen wohl besetzt, ein Geist der Klugheit und Überlegenheit erfüllte sie; jedermann hatte die Heilige Schrift und die Traktate in der Hand, und die allgemeine Wohlweisheit beleidigte und reizte nicht nur die katholischen Gegner, sondern selbst die Freunde; das starke Bern, wo die weltliche Staatsklugheit die Oberhand Über die geistliche behielt, empfand den schulmeisterlichen Ton ebenso unangenehm, so daß, als Zürich durch gewaltsame Rechtsverletzungen und einseitiges Vorgehen sich in seinem Eifer in gefahrvolle Lage gebracht, ein Berner Regent einem zürcherischen, der zu Tathandlungen mahnte, zu verstehen gab, die Zürcher werden sich wohl allein Zu helfen wissen, da sie so gescheit seien.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 7, Berlin 1958–1961, S. 359-371.
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