Fünfzehntes Kapitel

Der Grillenfang

[585] Ich schlief bis in den Nachmittag hinein, und als ich erwachte, wußte ich nichts mit mir anzufangen; die Welt und mein Kopf schienen mir beide leer und ausgestorben. Ich dachte an das[585] Ende des Kadettenfestes in meiner Knabenzeit, an dasjenige des Tellenspieles, und sagte mir Wenn alle deine Freudenfeste einen solchen Ausgang nehmen, so wird es besser sein, du gehst nicht mehr hinzu, wo es dergleichen gibt! Zunächst las ich das Narrenkleid zusammen, das zerstreut am Boden lag, und hing es im Atelier als malerischen Gegenstand an einen Nagel, und den Distel- und Stechpalmenkranz legte ich um den Zwiehansschädel, den ich auf die Kommode des kleinen Schlafzimmers setzte, um dergestalt ein heilsames Memento zu errichten. Das Spielerische und Ziersüchtige in uns bleibt in allem Elende und unter allen Gestalten lebendig, bis wir zerbrochen sind. Vielleicht ist es ein Teil des Gewissens; denn wie das Tier nicht lacht, so spielt der ganz Gewissenlose nicht, es sei denn um Gewinn.

In meiner dunkel müßigen Lage war mir der Besuch Reinholds, des Winzers und Geigenspielers, willkommen, der mich aufsuchte und einen Liebesdienst von mir verlangte. Er berichtete, daß der hilflose Zustand Agnesens noch stundenlange gedauert und sie sich erst gegen Morgen soweit erholt habe, daß die Heimschaffung möglich geworden, und zwar bereits bei Tageshelle. Allein nachteilige Gerüchte von einem sozusagen zuchtlosen Benehmen, von einer Berauschung, in deren Folge sie von einem reichen Bewerber sofort verlassen und aufgegeben worden sei, wären schon vorausgedrungen, und als das Gefährt vor dem Hause angekommen und das Mädchen, matt und niedergeschlagen, ausgestiegen sei, hätten sich die Nachbarfenster geöffnet und die Leute mit sichtlicher Verachtung oder wenigstens Mißbilligung zugeschaut. Er selbst habe nebst einer Magd vom Landhause die Arme begleitet, sich aber natürlich sofort wegbegeben, ohne mit in das Haus zu treten. Aber auch dies Erscheinen eines neuen Beschützers habe den bösen Schein noch verschlimmert, und es liege wohl an uns, die wir das Unsrige beigetragen, den Leumund des unschuldigen Wesens zu verteidigen. Er habe nun den Plan gefaßt und mit seinen[586] Freunden verabredet, heute abend unter dem Fenster des geprüften Fräuleins eine ernsthafte und ehrbare Musik, eine Serenade in würdigster Form, abzuhalten; um jede Störung zu vermeiden und das Ansehen der Sache zu erhöhen, sei schon die amtliche Erlaubnis eingeholt. Nach Schluß der Serenade aber gedenke er stracks hinaufzugehen und der Verlassenen feierlich seine Hand anzutragen.

»Absichtlich«, fuhr er fort, »will ich von allem, was vorausgegangen, nichts wissen, was man auch munkeln mag! Wie sie ist, in diesem Augenblicke, mit ihrem Gesichtchen, ihrer leichten Gestalt, mit ihrem ganzen Wesen und ihrem kleinen Schicksal gefällt sie mir und dünkt mich unentbehrlich! Und wenn ich mich irre, so wird es nur in dem Sinne sein, daß sie mehr ist, als ich geglaubt habe! Etwas warme Sonne, ein wenig Glück, was man so nennt, gleichsam ein Gläschen guten Rheinweins werden sie munter machen!«

»Und was soll ich hiebei tun?« fragte ich verwundert, aber auch mit Teilnahme, da mir das Vorhaben des gemütlichen Mannes als die beste Hilfe in der Not erschien.

»Was ich von Ihnen wünsche«, versetzte er, »ist, daß Sie gegen Abend in das schmale Haus, in das Juwelenkästchen, gehen und die Frauen suchen hinzuhalten, damit sie es nicht verlassen und doch von der Musik überrascht werden. Ferner sollen Sie, wenn es nicht von selbst geschieht, das Gespräch auf mich bringen, in nicht auffälliger Weise, und mich ein bißchen anrühmen, das heißt, nicht meine Person, sondern meine Verhältnisse, ich will sagen, meinen bescheidenen Wohlstand, der mir erlaubt, unbesorgt eine Frau heimzuführen. Ich wünsche, daß Sie das ganz beiläufig tun, jedoch als von etwas Bekanntem, sozusagen außer Zweifel Stehendem sprechen, so daß diese Voraussetzung bereits vorhanden ist, wenn ich komme, und ich nicht selbst davon anfangen muß. Es ist solches wichtig und in dergleichen Verwicklungen meistens von entscheidendem Einfluß. Und Sie werden nicht lügen, sofern Sie nicht etwa aufschneiden,[587] ich geb Ihnen mein Wort darauf! Etwas Grundeigentum und mein Kunsterwerb reichen zu einem bürgerlichen, doch keineswegs knauserigen Leben hin, und für die Zukunft ist mir das Erbe einer alten Tante sicher, die mich immer wegen des Heiratens plagt und eine Aussteuer bereithält wie für eine einzige Tochter. Halt – diesen Umstand könnten Sie etwas ausmalen! Es ist wirklich komisch, wie die Gute immer noch Einkäufe macht, sobald sie etwas sieht, wovon sie denkt, es wäre in meinem dereinstigen Haushalt zu brauchen, und so stapelt sie in ihrem von alters her angefüllten Hause stets neue Vorräte von kleinen und großen Dingen auf. – Also reden Sie, sprechen Sie! wollen Sie meine Wünsche erfüllen? Ich kann Ihnen sagen, es ist mir zu Mute wie einem, der einen Diamant, den ein Dummkopf weggeworfen hat, liegen sieht und nun fürchtet, es möchte ihn ein anderer finden, eh er selbst zur Stelle ist!«

Ich mußte innerlich lächeln über dies treffliche Stückchen Weltlauf, das sich so artig selbst berichtigte, wenn Reinholds Pläne gelangen. Gern sagte ich ihm zu, seine Wünsche zu erfüllen, so gut ich es verstände, und er eilte nach der weiter nötigen Verabredung in Hoffnung davon.

Mir konnte für den leeren öden Tag der Auftrag nur willkommen sein, so neu es mir war, eine Art Kuppelei zu betreiben. »Nachdem du fast zwei Tage lang das hintangestellte Schätzchen eines Don Juans gehütet hast«, sagte ich mir, »kannst du dies Altweibergeschäft dir auch noch gefallen lassen, es paßt zum andern, auch zu dem gefehlten Duell!«

Mit anbrechender Dämmerung begab ich mich auf den Weg und stand alsbald vor der Stubentüre der Frauen, die in tiefster Stille saßen; denn kein Laut war zu vernehmen. Erst auf ein Anklopfen hörte ich ein mattes »Herein!« und als ich eintrat, sah ich in dem halbdunklen Gemache nur die Frau Mutter in ihrem Lehnsessel, den Kopf in beide Hände gestützt. Auf dem Tische vor ihr lag ein kleines Kästchen. Mich erkennend, sagte[588] sie mit heiserer Stimme nichts als: »Ein schönes Fest für uns! Eine schöne Nacht und ein schöner Tag!«

»Ja«, antwortete ich kleinlaut, »es war etwas verhext und ist manchem wunderlich gegangen!«

Sie schwieg eine kleine Weile und fuhr dann geläufiger fort: »Eine schöne Wunderlichkeit! Wenn ich den Kopf vor die Türe strecke, so zeigen die Nachbaren mit Fingern auf mich! Eine Gevatterin nach der anderen, die sich sonst nie sehen lassen, ist heute eingedrungen, um sich an der Schande zu weiden! Da schleppt man das Kind zwei Nächte herum und schickt es mir betrunken nach Haus und durch fremde Leute! Und der hübsche reiche Bewerber, dieser Herr Lys, hat natürlich genug an der Aufführung, sagt ab und macht sich davon! Da sehen Sie, was wir alles erlebt haben!«

Sie zog einen Brief hervor, der unter dem Kästchen lag, und entfaltete ihn; es war aber zu dunkel, um lesen zu können. »Ich will Licht holen!« sagte sie, ging müde und verdrossen hinaus und kehrte mit einem bescheidenen Küchenlämpchen zurück, da es nicht der Mühe wert schien, einem von der schnöden Gesellschaft ein besseres Licht vorzusetzen. Ich las den kurzen Brief, worin Lys mit wenigen Zeilen anzeigte, daß er auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, abreisen müsse, für gute Freundschaft, die er genossen, herzlich dankte, Glück und Wohlergehen wünschte und die Tochter bat, ein kleines Andenken freundlich anzunehmen. Als ich das gelesen, öffnete die betrübte Frau das Kästchen, in welchem eine ziemlich kostbare Uhr mit feiner Kette glänzte.

»Ist dies reiche Geschenk«, rief sie, »nicht ein Beweis, wie ernst er gesinnt war, da er sich sogar jetzt noch so edel benimmt, trotz der Schmach, die man ihm angetan?«

»Sie irren sich!« sagte ich; »niemand hat sich etwas vorzuwerfen, am allerwenigsten das gute Fräulein! Lys hat Ihre Tochter von Anfang an sitzenlassen und ist einer anderen Schönheit nachgelaufen; und weil er von dieser zurückgewiesen wurde,[589] denn es ist, kurz gesagt, die nunmehrige Braut seines Freundes Erikson, hat er sich von hier entfernt. Ich weiß bestimmt, daß er für Ihr Kind verloren war, eh dasselbe aus Kummer und Aufregung unwohl wurde. Und es ist wahrscheinlich ein Glück für das Fräulein, nach meiner Meinung sogar gewiß!«

Die Frau sah mich groß an; aus dem Hintergrunde des schmalen, aber tiefen Zimmers ertönte ein stöhnender Laut. Erst jetzt gewahrte ich, daß Agnes in einem Winkel neben dem Ofen saß. Ihr Haar war aufgelöst, aber nicht wieder geflochten worden und bedeckte das Gesicht und die Hälfte der gebeugten Gestalt. Überdies hatte sie ein Tuch um Kopf und Schultern geworfen und in das Gesicht gezogen; das letztere drückte sie, vom Zimmer abgewendet, an die Wand und verharrte so ohne Bewegung.

»Sie getraut sich nicht mehr am Fenster zu sitzen!« sagte die Mutter.

Ich ging hin, sie zu begrüßen und ihr die Hand zu reichen; allein sie wendete sich noch tiefer ab und begann leise in sich hinein zu weinen. Verlegen ging ich zum Tische zurück, und da ich von meinen eigenen Abenteuern moralisch geschwächt war, so kamen mir selbst Tränen in die Augen. Das rührte hinwieder die Witwe, daß auch sie anfing, wobei sich ihr Gesicht so stark verzerrte, wie man es nur an flennenden kleinen Kindern sieht. Es war ein ganz merkwürdiger, unbehaglicher Anblick, über welchem sich meine Augen schnell trockneten. Aber auch bei der Frau war der Gewitterschauer wie bei Kindern rasch zu Ende, und mit ganz veränderter Stimme lud sie mich erst jetzt zum Sitzen ein. Zugleich fragte sie, wer eigentlich der Fremde gewesen, der Agnesen in der Frühe heimbegleitet habe? Ob der die Unglücksgeschichte nicht noch weiter verbreiten werde? Keineswegs, antwortete ich; denn das sei ein gutbestellter braver Mensch; und ich säumte nun nicht, mit anscheinend gleichgültigen Worten und mit der nötigen Vorsicht diejenige Beschreibung des Gottesmachers und seiner Verhältnisse[590] anzubringen, die seinen Wünschen entsprechen mochte. Nur bei der Schilderung der Tante und ihrer Ausstattungssucht, welche es einer dereinstigen Frau des Neffen fast unmöglich mache, außer ihrer Person etwas im Hause unterzustellen, zu legen, aufzuschichten oder zu hängen, wurde mein Vortrag belebter, weil er mich selber belustigte. Übrigens, schloß ich, werde Herr Reinhold mit der Erlaubnis der Frauen heute abend seinen Besuch abstatten, um der Anstandspflicht zu genügen und sich nach dem Befinden des erkrankten Fräuleins zu erkundigen, und weil er wisse, daß ich die Ehre hätte, im Hause eingeführt zu sein, so habe er mich ersucht, die Erlaubnis auszuwirken und ihn alsdann vorzustellen. Diese höfliche Ankündigung gab der Frau einen Teil ihres Selbstvertrauens zurück.

»Kind!« rief sie auffahrend, »hörst du? Wir bekommen Besuch; geh, zieh dich an, mache dein Haar auf, du siehst ja aus wie eine Hexe!«

Aber Agnes regte sich nicht, und auch als die Mutter hinging und sie sanft rüttelte, wehrte sie ab und bat wimmernd, sie ruhig zu lassen, oder das Herz breche ihr entzwei. In ihrer Verzweiflung begann jene den Tisch zu decken und Tee zu bereiten; sie holte ein paar Schüsseln mit kalten Speisen und eine Torte herbei und setzte alles auf den Tisch. Schon für gestern abend, klagte sie, habe sie ein Dütchen des feinsten Tees gekauft und etwas zum Knuspern bereitgehalten, da sie auf die frühzeitigere Rückkunft der jungen Leutchen gehofft habe; jetzt möge die kleine Mahlzeit uns doch noch dem erwarteten Besuch zu Ehren nützlich werden; verdorben sei nichts.

Wir saßen, und das Wasser kochte in dem blanken, wenig gebrauchten Teekesselchen seit geraumer Zeit, und noch meldete sich kein Besuch, weil es überhaupt noch zu früh war. Die gute Frau wurde ungeduldig; sie fing an zu zweifeln, ob Reinhold wirklich kommen werde; ich suchte sie zu beruhigen, und wir warteten wieder eine gute Weile. Endlich wurde sie Wartens[591] satt und machte den Tee fertig; wir tranken eine Tasse, aßen etwas weniges und harrten wieder, plauderten mit zerstreuten Worten und Gedanken, bis die ermüdete Frau über meiner Einsilbigkeit einnickte. So trat jetzt eine tiefe Stille ein, und nach einiger Zeit merkte ich an den sanften regelmäßigen Atemzügen, die ich vom Ofenwinkel her vernahm, daß auch Agnes schlummerte. Da ich selbst keineswegs genug geschlafen hatte, fielen mir die Augen ebenfalls zu, und ich schlief zur Gesellschaft mit, während die kleine Lampe das Zimmer schwach erleuchtete.

Wir mochten ein Stündchen einträchtig geschlummert haben, als wir durch eine volltönige, aber sanfte Musik geweckt wurden und gleichzeitig das Fenster von rotem Glanze erhellt sahen. Die überraschte Witwe und ich eilten zum Fenster. Auf dem kleinen Platze standen acht Musizierende vor einigen Musikpulten, vier Knaben hielten brennende Fackeln empor, und am Eingange des Platzes gingen zwei Polizeimänner auf und ab, welche die rasch sich sammelnden Zuhörer in Ordnung hielten. Zu den Geigern hatte Reinhold noch einige Bläser mit Horn, Hoboen und Flöte angeworben; er selbst saß auf einem Feldstühlchen und handhabte das Violoncell.

»Jesus Maria! was ist das?« sagte die erstaunte Mutter Agnesens.

»Zünden Sie Lichter an!« erwiderte ich; »das ist eben der Herr Reinhold mit seinen Freunden, der Ihrer Tochter eine Serenade bringt! Ihr gilt die Musik, um ihr vor der Welt und dieser Stadt eine Ehre zu erweisen!«

Ich öffnete einen Flügel des Fensters, indessen die Frau nach ihren Staatsleuchtern eilte und die rosenroten Kerzen entflammte, welche jetzt trefflich zustatten kamen. Das Adagio aus einem ältern Italiener floß mit dem lauen frühzeitigen Lenzhauche gar prächtig herein.

»Kind!« flüsterte die Mutter dem aufhorchenden Mädchen zu, »wir haben ein Ständchen, wir haben ein Ständchen! Komm,[592] sieh nur hinaus!« Ich hörte ihre Stimme zum ersten Mal so herzlich erfreut und wirklich beseelt zu dem Kinde reden, so erlösend wirkte der musikalische Vorgang auch auf sie, und Agnes wandte ihr bleiches Gesicht stumm nach dem Fenster. Dann erhob sie sich langsam und ging heran. Sowie sie aber die vielen Gesichter auf der Straße und unter allen Nachbarfenstern im Fackellichte erblickte, floh sie wieder nach ihrem Sitze, legte die gefalteten Hände in den Schoß und neigte das Haupt leise zur Seite, um keinen Ton der schönen Musik zu verlieren. So blieb sie, bis die drei Stücke, welche die Männer aufführten, zu Ende waren und die Musik mit einer melodisch heiteren, fast reigenartigen Wendung geschlossen hatte, die Musikanten aufbrachen und still hinweggingen, während das Volk auf der Gasse lauten Beifall klatschte. Auch die sauberen Kästchen und Futterale, in welchen sie ihre Instrumente trugen, erhöhten beim Publikum den Eindruck des Außergewöhnlichen und Vornehmen; die Leute betrachteten, indem sie sich langsam zerstreuten, neugierig das merkwürdige Haus, und die am Fenster stehende Frau genoß alles bis zum letzten Momente; selbst das Forttragen der Pulte dünkte ihr das Feierlichste und Großartigste, was sie erleben konnte.

Als sie endlich das Fenster zumachte und sich umwandte, stand Reinhold in der Stube und begrüßte sie ehrerbietig, und ich nannte zugleich seinen Namen. Dann entschuldigte er sich wegen der Freiheit, die er sich genommen, eine so aufdringliche Störung zu bringen, welche sie der allgemeinen Karnevalsstimmung zu gut halten wolle; und sie erwiderte ihm mit großen Komplimenten und Danksagungen, wobei sie in einen so glückselig singenden Ton geriet, daß es beinahe klang, wie wenn einer in Flageolettönen auf der Geige spielen würde. Plötzlich unterbrach sie sich, um die Tochter herbeizurufen, die ihr ungebührlich lang im Winkel zu säumen schien. Diese war aber unbemerkt hinausgeschlüpft und kam jetzt wieder herein. Sie hatte über ihr Morgenkleid, in welchem sie den Tag über getrauert,[593] einen weißen Shawl geschlagen und die Enden auf den Rücken gebunden. Das schwarze Haar hatte sie einfach zusammengefaß und im Nacken in einen mächtigen Knoten geschlungen, alles in einer Minute und wahrscheinlich ohne in den Spiegel zu sehen. In Haltung und Gesichtsausdruck schien sie um zehn Jahre älter; selbst die Mutter sah sie mit großen Augen an, wie wenn sie einen Geist erblickte. Aufrechten Ganges trat Agnes dem Gottesmacher entgegen, richtete mit ruhigem Ernste die Augen auf ihn und gab ihm die Hand. Wäre sie in Sammet und Seide gehüllt gewesen, so hätte sie den Blick Reinholds nicht so bannen können, wie sie jetzt mit ihrer einfachen Erscheinung tat, und ich selbst mußte sogleich denken Gott sei Dank, daß Lys fort ist und sie nicht mehr sieht, sonst ginge das Unheil von neuem an!

Reinhold aber betete mit stummer Anschauung sein eigenes Werk an; denn, buchstäblich zu sagen, hatte er die geknickte Blume aufgerichtet, daß sie wieder leben konnte. Die Ehren, die er ihr gegeben, leuchteten so rein von ihrer Stirn und um die stillen dunklen Augensterne, daß er demütig betreten nicht zu Worten zu kommen wußte, auch als wir nun am Tische saßen und die Mutter neuen Tee machte. Es ging etwas verlegen und einsilbig zu, bis die Alte auf die rheinische Heimat des Gastes zu reden kam und ihn fragte, ob es wahr sei, daß sein hiesiger Aufenthalt nicht mehr lange dauere und er dorthin zurückkehre? Das löste ihm die Zunge, indem er dartat, wie Kirchen und Prälaten mit ihren Bestellungen seiner harrten und auf die gewonnenen Fortschritte in der Arbeit zählten. Dann freute er sich des Lobes der schönen Heimat. »Mein Haus«, sagte er, »liegt außerhalb des alten Städtchens am sonnigen Abhang, wo man den Rheingau hinauf und hinunter schaut; Türme und Felsen schwimmen in bläulichem Dufte, durch welchen das breite Wasser zieht. Hinter dem Garten legt sich der Wein an den aufsteigenden Berg, und oben steht eine Kapelle unserer lieben Frau, die weit über das Land hinschaut und sich[594] ins letzte Abendrot taucht. Dicht daneben habe ich ein kleines Lusthäuschen gebaut und unter demselben ein Kellerchen in den Stein gehauen, wo stets ein Dutzend Flaschen klaren Weines liegen. Wenn ich nun einen neuen Kelch fertig habe, so steige ich, eh ich die innere Vergoldung anbringe, hier hinauf und leere das Gefäß drei- oder viermal auf das Wohl aller Heiligen und aller frohen Leute. Denn ich will nur gestehen, meine Silberarbeit, etwas Musik und der Wein sind meine einzige Freude gewesen und meine besten Tage die sonnigen Feiertage der Mutter Gottes, wenn ich zu ihrem Preise in den benachbarten Kirchen spielte, während unten auf bekränztem Altare meine Gefäße glänzten; und ich muß bekennen, daß nachher ein Räuschchen an heiterer Pfaffentafel mir als der Gipfel des Daseins erschien. Das wird freilich nicht mehr so sein, ich weiß jetzt etwas Besseres –«

Er stockte bei diesen Worten, die er mit wachsender Wärme gesprochen, ermannte sich aber sogleich, erhob sich vom Stuhle und wendete sich an die Frauen: »Was soll ich längere Umschweife machen? Ich bin hier, um dem Fräulein ein redliches Herz anzubieten, mit allem Zubehör von Hand, Haus und Hof; kurz, ich bin gekommen, einen Heiratsantrag zu machen! Ich bitte um gütiges Gehör und bitte, sofern meine Handlungsweise allzu rasch und verwegen erscheint, zu bedenken, daß gerade solche Festivitäten, wie die soeben beendigte, nicht selten mit derartig unvorgesehenen Ereignissen abschließen!«

Die gute Witwe, an die äußerste Sparsamkeit gewöhnt, hatte soeben ein Stückehen Zucker, das ihr wider Willen in die Tasse gefallen, mit dem Löffelchen herausgefischt und im stillen auf die Untertasse gelegt, um zu retten, was noch nicht geschmolzen war. Sie leckte das Löffelchen schnell und zierlich ab und begann darauf, vor Vergnügen errötend, in ihren schönsten Tönen von der großen Ehre zu singen, aber auch von der nötigen Bedenkzeit und Überlegung, die man sich gestatten müsse. Allein die Tochter unterbrach sie, womöglich noch blasser als[595] bisher: »Nein, liebe Mama! Auf die Frage des Herren Reinhold muß nach allem, was wir erlebt und was er für mich getan, sogleich die Antwort folgen, und mit deiner Erlaubnis sage ich ja! Ich habe das Mißgeschick nicht verdient, das mich betroffen; um so williger muß der Dank für meinen Retter sein, der mich aus Verlassenheit und Verachtung emporhebt!«

Mit Tränen der Rührung, die ihr aus den Augen quollen, schritt sie dicht an den glücklichen Freier heran, legte die Arme um seinen Hals und drückte die sehnend geöffneten Lippen, die noch nie geküßt, auf die seinigen.

Er streichelte mit schüchterner Zärtlichkeit ihre Wangen, verwandte aber kein Auge von ihr. Erstaunt und ratlos sah die Witwe zu, und Agnes rief: »Sei nur ruhig und zufrieden, Mutter! Gestern noch habe ich zur Heiligsten Jungfrau gebetet, sie möchte meinem Herzen geben, was ihm gebührt; heute hab ich den ganzen Tag geglaubt, sie habe mich unerhört gelassen, und jetzt halt ich es doch im Arm, was mir gehört und mir besser zum Heile dient als das, was ich meinte!«

Jetzt schien mir der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich schicklich als überflüssig entfernen konnte; denn ich wußte nicht, wo ich hinblicken sollte. Schnell gab ich allen die Hand und eilte davon, ohne mich halten zu lassen oder gehalten zu werden. Auf der Straße sah ich nochmals an das Haus hinauf, wo das Mondlicht auf dem schwarzen Madonnenbilde über der Haustüre lag und den goldenen Halbmond sowie die Krone schwach beglänzte.

»Himmel, welch katholische Wirtschaft!« sagte ich zu mir selbst und schüttelte den Kopf über das krause Leben. Beim Morgengrauen dieses Tages hatte ich den spitzigen Degen auf einen Gottesleugner gezückt, und nun, da es Nacht war, lachte ich wieder über diese Heiligenanbeter.

Am nächsten Morgen war es mir weniger lächerig zu Mut, als es galt, die unterbrochene Arbeit wiederaufzunehmen. Während die Künstlerschaft wohl in ihrer großen Mehrheit[596] fest und unbekümmert auf der gewohnten Bahn weiterschritt, fand ich mich unschlüssig, was zunächst zu tun sei. Als ich mich umsah, hatte ich die Empfindung, als ob ich monatelang nicht in dem Zimmer gewesen, meine halbfertigen Sachen Denkmäler einer verschollenen Zeit wären. Eines nach dem andern zog ich hervor, und alles dünkte mich schal und unnötig, wie eine bloße Liebhaberei. Ich grübelte und grübelte, konnte aber dem grauen Wesen, das mich beschlich, nicht auf den Grund kommen. Dazu kam das Gefühl der Vereinsamung; Lys war fort und verloren, wahrscheinlich auch für die Kunst, da er in letzter Zeit hatte durchblicken lassen, daß er bei der ersten geringen Erschütterung das Glas fallen lassen werde. Aber auch Erikson hatte mir gestern in einem flüchtig der Freude abgewonnenen Augenblick anvertraut, er beabsichtige gleich nach der Hochzeit seine verzwickte Malerei an den Nagel zu hängen und mit den großen Mitteln seiner Frau das Seefahrtsgeschäft seines heimatlichen Hauses wiederaufzunehmen und in Flor zu setzen. Die Zeit sei günstig, und in mäßiger Frist wolle er selbst reich sein. Und nun wackelte ich auch, und alle drei Peripherie-Germanen, die wir uns in gewissem Sinne besser geschienen hatten als die feste große Heerschar des Binnenvolkes, fielen ab wie Feilenspäne, fahren auseinander, um keiner den andern wahrscheinlich jemals wiederzusehen!

Fröstelnd schleppte ich, um eine Zuflucht zu suchen, einen neuen, kaum angefangenen Karton hervor, eine auf den Rahmen gespannte graue Papierfläche von mindestens acht Schuh Breite und entsprechender Höhe. Es war nichts darauf zu sehen als ein begonnener Vordergrund mit je einem verwitterten Fichtenbaum zu beiden Seiten des künftigen Bildes, dessen Idee ich damals vor Monaten aufgegeben und die mir gänzlich aus der Erinnerung geschwunden ist. Um nur etwas zu tun und vielleicht meine Gedanken zu beleben, machte ich mich daran, den einen der zwei mit Kohle entworfenen Bäume mit der Schilffeder auszuführen, gewärtig, was dann weiter werden[597] wollte. Aber kaum hatte ich eine halbe Stunde gezeichnet und ein paar Aste mit dem einförmigen Nadelwerke bekleidet, so versank ich in eine tiefe Zerstreuung und strichelte gedankenlos daneben, wie wenn man die Feder probiert. An diese Kritzelei setzte sich nach und nach ein unendliches Gewebe von Federstrichen, welches ich jeden Tag in verlorenem Hinbrüten weiterspann, sooft ich zur Arbeit anheben wollte, bis das Unwesen wie ein ungeheures graues Spinnennetz den größten Teil der Fläche bedeckte. Betrachtete man jedoch das Wirrsal genauer, so entdeckte man den löblichsten Zusammenhang und Fleiß darin, indem es in einem fortgesetzten Zuge von Federstrichen und Krümmungen, welche vielleicht Tausende von Ellen ausmachten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war. Zuweilen zeigte sich eine neue Manier, gewissermaßen eine neue Epoche der Arbeit; neue Muster und Motive, oft zart und anmutig, tauchten auf, und wenn die Summe von Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu der unsinnigen Mosaik erforderlich war, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte ich gewiß etwas Sehenswertes liefern müssen. Nur hier und da zeigten sich kleinere oder größere Stockungen, gewisse Verknotungen in den Irrgängen meiner zerstreuten gramseligen Seele, und die sorgsame Art, wie die Feder sich aus der Verlegenheit zu ziehen gesucht, bewies, wie das träumende Bewußtsein in dem Netze gefangen war. So ging es Tage, Wochen hindurch, und die einzige Abwechslung, wenn ich zu Hause war, bestand darin, daß ich, mit der Stirne gegen das Fenster gestützt, den Zug der Wolken verfolgte, ihre Bildung betrachtete und indessen mit den Gedanken in der Ferne schweifte.

So arbeitete ich eines Tages wieder mit eingeschlummerter Seele, aber großem Scharfsinn an der kolossalen Kritzelei, als an die Türe geklopft wurde. Ich erschrak und fahr zusammen; aber schon war es zu spät, den Rahmen wegzuschaffen. Reinhold und Agnes treten herein, und kaum hatten wir uns begrüßt,[598] so erschien Erikson mit seiner nunmehrigen Frau Rosalie, und ich sah mich von Geräusch, Leben und Schönheit wachgerüttelt. Beide Paare hatten nämlich die Hochzeit bereits hinter sich und in der Stille abgetan, Reinhold aus Ungeduld, um seine Liebesbeute rasch zu bergen, Erikson aber, weil die Verwandten Rosaliens und die Geistlichen erst nachträglich konfessionelle Schwierigkeiten zu machen versuchten. Allein Rosalie war, im geheimen und von einflußreicher Seite gefördert, schnell zu Eriksons Glaubenspartei übergetreten, behauptend, wie Paris seinerzeit eine Messe, sei ihr Schatz eine Beichte wert und noch eher, und die Trauung war alsobald gefolgt. »Wir sind demnach schon auf der Hochzeitsreise!« schloß Erikson seinen kurzen Bericht; »einstweilen nur auf den Gassen dieser Stadt, morgen aber auf der Landstraße und bald, so hoff ich, schon im eigenen Schiff!«

Seine Gattin hatte inzwischen das andere Paar begrüßt und sich mit der ganz glücklichen und wohlaussehenden Agnes unterhalten. Erikson aber stand vor der Staffelei und beschaute höchst verwundert meine neuste Arbeit. Dann betrachtete er mich mit bedenklichem Gesichte, und wie ich verlegen und rot wurde, und sagte, erst den Kopf schüttelnd, dann mit demselben schalkhaft nickend:

»Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten und begonnen, ein Problem zu lösen, welches von größtem Einflusse auf die deutsche Kunstentwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine Realität, durch keine Tendenz getrübt werden dürfe, sprechen und räsonieren zu hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdrucke gebrauchte. Du hast hier einen gewaltigen Schritt vorwärts getan von noch nicht zu bestimmender Tragweite. Denn was ist das Schöne? Eine[599] reine Idee, dargestellt mit Zweckmäßigkeit, Klarheit, gelungener Absicht. Die Million Striche und Strichelchen, zart und geistreich oder fest und markig, wie sie sind, in einer Landschaft auf materielle Weise placiert, würden allerdings ein sogenanntes Bild im alten Sinne ausmachen und so der hergebrachten gröblichsten Tendenz frönen! Wohlan! Du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche, schnöd Inhaltliche hinausgeworfen! Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommenen Freiheit des Schönen schwebend; dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich, in der reizendsten Abstraktion! Und diese Verknotungen, aus denen du dich auf so treffliche Weise gezogen hast, sind sie nicht der triumphierende Beweis, wie Logik und Kunstgerechtigkeit erst im Wesenlosen ihre schönsten Siege feiern, im Nichts sich Leidenschaften und Verfinsterungen gebären und sie glänzend überwinden? Aus Nichts hat Gott die Welt geschaffen! Sie ist ein krankhafter Abszeß dieses Nichtses, ein Abfall Gottes von sich selbst. Das Schöne, das Poetische, das Göttliche besteht eben darin, daß wir uns aus diesem materiellen Geschwür wieder ins Nichts resorbieren, nur dies kann eine Kunst sein, aber auch eine rechte!«

»Aber, liebster Mann, wo willst du hin!« rief Frau Erikson, die, aufmerksam geworden, sich zu uns gewendet hatte. Der Gottesmacher sperrte Mund und Augen auf; denn die schnurrigen Redensarten waren seinem einfachen Gemüt in Scherz und Ernst unverständlich und fremd. Ich selbst fühlte mich etwas erheitert durch Eriksons Munterkeit, stand jedoch verlegen am Fenster.

»Aber mein Lob«, fuhr er feierlich fort, »muß sogleich einen Tadel gebären oder vielmehr die Aufforderung zu weiterm energischen Fortschritt! In diesem reformatorischen Versuch liegt noch immer ein Thema vor, welches an etwas erinnert; auch wirst du nicht umhinkönnen, um dem herrlichen Gewebe einen Stützpunkt zu geben, dasselbe durch einige verlängerte Fäden[600] an den Ästen dieser alten, verwetterten, aber immer noch kräftigen Fichten zu befestigen, sonst fürchtet man jeden Augenblick, es durch seine eigene Schwere herabsinken zu sehen. Hiedurch aber knüpft es sich wiederum an die abscheulichste Realität, an gewachsene Bäume mit Jahrringen! Nein, braver Heinrich, nicht also! nicht hier bleibe stehen! Die Striche, indem sie bald sternförmig, bald in der Wellenlinie, bald mäandrisch, bald radial sich gestalten, bilden ein noch viel zu materielles Muster, welches an Tapeten oder gedruckten Kattun erinnert. Fort damit! Fange oben an der Ecke an und setze einzeln nebeneinander Strich für Strich, eine Zeile unter die andere; von zehn zu zehn mache durch einen verlängerten Strich eine Unterabteilung, von hundert zu hundert eine Oberabteilung, von tausend zu tausend einen Abschluß durch einen dickern Sparren oder Sperrling. Solches Dezimalsystem ist vollkommene Zweckmäßigkeit und Logik, das Hinsetzen der einzelnen Striche aber der in vollendeter Tendenzfreiheit, in reinem Dasein sich ergehende Fleiß. Zugleich wird dadurch ein höherer Zweck erreicht. Hier in diesem Versuche zeigt sich immer noch ein gewisses Können; ein Unerfahrener, Nichtkünstler hätte die Gruselei nicht zustande gebracht. Das Können aber ist von zu leibhafter Schwere und verursacht tausend Trübungen und Ungleichheiten zwischen den Wollenden; es ruft die tendenziöse Kritik hervor und steht der reinen Absicht fort und fort feindlich entgegen. Das moderne Epos zeigt uns die richtige Bahn! In ihm zeigen uns begeisterte Seher, wie durch dünnere oder dickere Bände hindurch die unbefleckte, unschuldige, himmlischreine Absicht geführt werden kann, ohne je auf die finsteren Mächte irdischen Könnens zu stoßen! Eine goldschnittheitere ewige Gleichheit herrscht zwischen der Brüderschaft der Wollenden. Mühelos und ohne Kummer teilen sie einige tausend Zeilen in Gesänge und Strophen ab, und wer kann ermessen, wie nahe die Zeit ist, wo auch die Dichtung die zu schweren Wortzeilen wegwirft, zu jenem Dezimalsystem der leichtbeschwingten Striche greift und[601] mit der bildenden Kunst in einer identischen äußeren Form sich vermählt? Alsdann wird der reine Schöpfer- und Dichtergeist, der in jedem Bürger schlummert, durch keine Schranke mehr gehemmt, zutage treten, und wo sich zwei Städtebewohner träfen, wäre der Gruß hörbar: ›Dichter?‹ – ›Dichter!‹ oder: ›Künstler?‹ – ›Künstler!‹ Ein zusammengesetzter Senat geprüfter Buchbinder und Rahmenvergolder würde in wöchentlichen olympischen Spielen die Würde des Prachteinbandes und des goldenen Rahmens erteilen, nachdem sie sich eidlich verpflichtet, während der Dauer ihres Richteramtes selbst keine Epen und keine Bilder zu machen, und ganze Kohorten verbildeter Verleger würden die gekrönten Werke in stündlich erfolgenden Auflagen über ganz Deutschland hin so tiefsinnig verlegen, daß sie kein Teufel wiederholen könnte!«

»Mann, hör auf!« rief Rosalie nochmals, »ich kenne dich nicht mehr!«

»Laß es gut sein!« sagte Erikson; »dieses Geschwätz sei für einmal mein gerührter Abschied von der Kunst! Von nun an wollen wir dergleichen hinter uns werfen und uns eines wohlangewandten Lebens befleißen!«

Dann nahm er mich mit ernsterm Blicke bei der Hand, führte mich hinter die große Spinnwebe und sagte leise: »Lys kommt nicht mehr zurück; ich habe seine Bilder zusammenrollen, in Kisten packen und ihm in die Heimat schicken müssen, ebenso seine Bücher und Möbeln. Er hat mir geschrieben, er wolle als Kandidat für die Deputiertenkammer seines Landes auftreten und werde nie mehr malen, weil man die Augen dazu brauche, was ich nicht verstehe. So fällt er aus einer Torheit in die andere, und ich möchte weinen über ihn. Und nun komme ich daher und finde dich an einem abenteuerlichen Grillenfang stehen, wie die Welt vielleicht noch keinen zweiten geboren hat! Was soll das Gekritzel? Frisch, halte dich oben, mache dich heraus aus dem verfluchten Garne! Da ist wenigstens ein Loch!« Mit diesen Worten stieß er die Faust durch das Papier und riß es kreuz[602] und quer auseinander Ich reichte ihm dankbar die Hand; denn seine Worte und energische Bewegung bewiesen mir seine verstehende Teilnahme.

Nachdem wir hinter der Kulisse hervorgetreten und das Loch auch von vorn betrachtet hatten, wurde rasch Abschied genommen, natürlich mit dem Vorbehalte dereinstigen Wiedersehens, obgleich ich von den vier Personen keine einzige je wieder erblickt habe. Eine Minute später war es wieder totenstill in meinem Gemache, und die weißgestrichene Türe, durch welche die schönen Frauen und Männer verschwunden, flimmerte mir vor den Augen wie eine Leinwand, von welcher mit einem Zuge ein Bild warmen Lebens weggewischt worden ist.[603]

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 585-604.
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