Fünfzehntes Kapitel

Frieden in der Stille. Der erste Widersacher und sein Untergang

[130] So verharrte ich im Hause und gelüstete nicht im mindesten ins Freie und zu meinen Genossen. Höchstens betrachtete ich einmal aus dem Fenster, was auf der Straße vorfiel, und zog mich sogleich wieder zurück, als ob die unheimliche Vergangenheit zu mir heranstiege. Unter den Trümmern und Erinnerungen meines verflogenen Wohlstandes befand sich ein großer Farbenkasten, welcher gute Farbentafeln enthielt, statt der harten Steinchen, die man sonst den Knaben für Farben gibt. Ich hatte schon durch Meierlein erfahren, daß man nicht unmittelbar mit dem Pinsel diese Täfelchen aushöhlen, sondern die selben in Schalen mit Wasser anreiben müsse. Sie gaben reichliche, gesättigte Tinten, ich fing an, mit diesen Versuche anzustellen, und lernte sie mischen. Besonders entdeckte ich, daß Gelb und Blau das verschiedenste Grün herstellten, was mich sehr freute; daneben fand ich die violetten und braunen Töne. Ich hatte schon längst mit Verwunderung eine alte in Öl gemalte Landschaft betrachtet, die an unserer Wand hing; es war ein Abend; der Himmel, besonders der unbegreifliche Übergang des Gelben ins Blaue, die Gleichmäßigkeit und Sanftheit desselben reizte mich stark an, ebensosehr der Baumschlag, der mich unvergleichlich dünkte. Obgleich das Bild unter dem Mittelmäßigen stand, schien es mir ein bewundernswertes Werk zu sein, denn ich sah die mir bekannte Natur um ihrer selbst willen mit einer gewissen Technik nachgebildet. Stundenlang stand ich auf einem Stuhle davor und versenkte den Blick in die an haltlose Fläche des Himmels und in das unendliche Blattgewirre der Bäume, und es zeugte eben nicht von größter Bescheidenheit, daß ich plötzlich unternahm, das Bild mit meinen Wasserfarben zu kopieren. Ich stellte es auf den Tisch, spannte einen[130] Bogen Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten Untertassen und Tellern; denn Scherben waren bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere Tage lang auf das mühseligste mit meiner Aufgabe; aber ich fühlte mich glücklich, eine so wichtige und andauernde Arbeit vor mir zu haben; vom frühen Morgen bis zur Dämmerung saß ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Essen. Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde atmete, stieg auch in meine Seele und machte von meinem Gesichte auf die Mutter hinüberscheinen, welche am Fenster saß und nähte. Noch weniger, als ich den Abstand des Originales von der Natur fühlte, störte mich die unendliche Kluft zwischen meinem Werke und seinem Vorbilde. Es war ein formloses, wolliges Geflecksel, in welchem der gänzliche Mangel jeder Zeichnung sich innig mit dem unbeherrschten Materiale vermählte; wenn man jedoch das Ganze aus einer tüchtigen Entfernung mit dem Ölbilde vergleicht, so kann man noch heute darin einen nicht ganz zu verkennenden Gesamteindruck finden. Kurz, ich wurde zufrieden über meinem Tun, vergaß mich und fing manchmal an zu singen, wie früher, erschrak je doch darüber und verstummte wieder. Doch vergaß ich mich immer mehr und summte anhaltender vor mich hin; wie Schneeglöckchen im Frühjahr tauchte ein und das andere freundliche Wort meiner Mutter hervor, und als die Landschaft fertig war, fand ich mich wieder zu Ehren gezogen und das Vertrauen der Mutter hergestellt. Als ich eben den Bogen vom Brette löste, klopfte es an die Tür, und Meierlein trat feierlich herein, legte seine Mütze auf einen Stuhl, zog sein Büchlein hervor, räusperte sich und hielt einen förmlichen Vortrag an meine Mutter, indem er in höflichen Worten Klage gegen mich einlegte und die Frau Lee wollte gebeten haben, meine Verbindlichkeiten zu erfüllen; denn es würde ihm leid tun, wenn es zu Unannehmlichkeiten kommen sollte! Damit überreichte der kleine Knirps sein unvermeidliches Buch und bat, gefällige Einsicht zu nehmen. Meine Mutter sah ihn mit großen Augen an, dann auf[131] mich, dann in das Büchelchen und sagte: »Was ist das nun wieder?« Sie durchging die reinlichen Rechnungen und sagte: »Also auch noch Schulden? Immer besser, ihr habt das Ding wenigstens großartig betrieben!« während Meierlein immer rief: »Es ist alles in bester Ordnung, Frau Lee! Diesen letzten Posten nach der Hauptrechnung bin ich jedoch erbötig nachzulassen, wenn Sie mir jene berichtigen wollten.« Sie lachte ärgerlich und rief: »Ei, ei! So, so? Wir wollen die Sache einmal mit deinen Eltern besprechen, Herr Schuldenvogt! Wie sind denn diese artigen Schulden eigentlich entstanden?« Da reckte sich der Bursche empor und sagte: »Ich muß mir ausbitten, ganz in der Ordnung!« Die Mutter aber fragte mich streng, da ich ganz verblüfft und in neuer Beklemmung dagestanden: »Bist du dem Jungen dieses schuldig und auf welche Weise? Sprich!« Ich stotterte verlegen ja und einige Tatsachen über die Natur der Schulden. Da hatte sie schon genug und jagte den Meierlein mit seinem Buche aus der Stube, daß er sich mit frechen Gebärden davonmachte, nachdem er noch einen drohenden Blick auf mich geworfen. Nachher befragte sie mich weitläufig über den ganzen Hergang und geriet in großen Zorn; denn es war vorzüglich das ehrbare Aussehen dieses Knaben gewesen, welches in ihr von meinen Vergehungen keine Ahnung aufkommen ließ. Sodann nahm sie Gelegenheit, gründlicher auf alles Geschehene einzutreten und mir eindringliche Vorstellungen zu machen, aber nicht mehr im Tone der strengen und strafenden Richterin, sondern der mütterlichen Freundin, die bereits verziehen hat. Und nun war alles gut.

Allein doch nicht alles. Denn als ich nun wieder in die Schule trat, bemerkte ich, daß mehrere Schüler, um Meierlein versammelt, die Köpfe zusammensteckten und mich höhnisch ansahen. Ich ahnte nichts Gutes, und als die erste Stunde zu Ende war, welche der Rektor der Schule selbst gegeben, trat mein Gläubiger respektvoll vor ihn hin, sein Büchlein in der Hand, und erhob in geläufiger Rede seine Anklage wider mich. Alles[132] war gespannt und horchte auf, ich saß wie auf Kohlen. Der Rektor stutzte, durchsah das Heft und begann das Verhör, welches Meierlein zu beherrschen suchte. Aber der Vorsteher gebot ihm Stille und forderte mich zum Sprechen auf. Ich gab einige kümmerliche Nachricht und hätte gern alles verschwiegen; doch der Mann rief plötzlich: »Genug, ihr seid beide Taugenichtse und werdet bestraft!« Damit trat er zu den aufliegenden Tabellen und bedachte jeden von uns mit einer scharfen Note. Meierlein sagte betreten: »Aber, Herr Professor –« »Still!« rief dieser und nahm das verhängnisvolle Buch, welches er in tausend Stücke zerriß, »wenn noch ein Wort darüber verlautet oder sich dergleichen wieder holt, so werdet ihr eingesperrt und als ein paar recht bedenkliche Gesellen abgestraft! Pack dich!«

Während der übrigen Unterrichtsstunden schrieb ich ein Briefchen meinem Widersacher, worin ich ihn versicherte, daß ich ihm nach und nach meine Schuld abtragen und ihm jeden Kreuzer zustellen wolle, den ich von nun an ersparen könnte. Ich rollte das Papier zusammen, ließ es unter den Tischen zu ihm hin befördern und erhielt die Antwort zurück: Sogleich alles oder nichts! Nach Beendigung der Schule, als der Lehrer fort war, stellte sich der Dämon an der Tür auf, umgeben von einer schaulustigen Menge, und wie ich hinausgehen wollte, vertrat er mir den Weg und rief: »Seht den Schelm! Er hat den ganzen Sommer hindurch Geld gestohlen und mich um fünf Gulden dreißig Kreuzer betrogen! Wißt es alle und seht ihn an!« – »Ein artiger Schelm, der grüne Heinrich!« ertönte es nun von mehreren Seiten, ich rief ganz glühend: »Du bist selbst ein Schelm und Lügner!« Allein ich wurde überschrieen, fünf oder sechs boshafte Bursche, welche stets einen Gegenstand der Mißhandlung suchten, scharten sich um Meierlein, folgten mir nach und ließen Schimpfworte ertönen, bis ich in meinem Hause war. Von jetzt an wiederholten sich solche Vorgänge beinahe täglich; Meierlein warb sich eine förmliche Verbindung zusammen, und wo ich ging, hörte ich irgendeinen Ruf hinter mir.[133] Ich hatte mein renommistisches Benehmen schon verloren und war wieder ungeschickt und blöde geworden; das reizte den Mutwillen und die Spottsucht meiner Verfolger, bis sie endlich müde wurden. Es waren alles solche Kumpane, welche selbst schon irgendeinen Streich verübt oder nur auf Gelegenheit warteten, Werg an die Kunkel zu bekommen. Es war auffallend, daß Meierlein trotz seines altklugen und fleißigen Wesens sich nicht zu ähnlich beschaffenen Naturen hielt, sondern immer in Gesellschaft der Leichtsinnigen, der Mutwilligen und Törichten zu sehen war, wie mit mir und den übrigen. Indessen nahmen nun die Ruhigen und Unbescholtenen unseres Alters teil gegen das verfolgungssüchtige Wesen jener, beschützten mich zu wiederholten Malen vor ihren Anfällen und ließen mich überhaupt weder Verachtung noch Unfreundlichkeit fahlen, so daß ich mehr als einem herzlich zugetan wurde, den ich vorher kaum beachtet hatte. Zuletzt blieb Meierlein ziemlich allein mit seinem Grolle, der aber dadurch nur heftiger und wilder wurde, so wie auch in mir jedes Vorgefühl einer Versöhnung erstarb. Wenn wir uns begegneten, so suchte ich wegzublicken und ging stumm vorüber; er aber rief mir laut ein giftiges und tödliches Wort zu, wenn wir allein in der Gegend oder nur fremde Menschen zugegen; waren wir aber nicht allein, so murmelte er dasselbe leise vor sich hin, daß nur ich es hören konnte. Ich hafte ihn nun wohl so bitter, als er mich hassen konnte; aber ich wich ihm aus und fürchtete den Augenblick, wo es einmal zur Abrechnung käme. So ging es ein volles Jahr lang, und der Herbst war wieder gekommen, wo eine große militärische Schlußübung stattfinden sollte. Wir freuten uns immer auf diesen Tag, weil wir da nach Herzenslust schießen durften. Aber für mich waren alle gemeinsamen Freuden trüb und kalt geworden, da mein Feind zugleich teilnahm und öfter in meine Nähe geriet. Diesmal wurde unsere Schar in zwei Hälften geteilt, von denen die eine den waldigen und steilen Gipfel einer Anhöhe besetzen, die andere aber den Fluß überschreiten,[134] den Hügel umgehen und einnehmen sollte. Ich gehörte zu dieser, mein Feind zu jener Abteilung. Wir hatten schon die ganze Woche vorher einen kleinen Brückenkopf gebaut und leichte Palisaden zugespitzt und eingerammelt, während einige Zimmerleute eine Brücke über das seichte Wasser geschlagen. Nun erzwangen wir mit unserm Geschütze höherer Verabredung gemäß den Übergang und trieben rüstig den Feind berghinan. Die Hauptmasse zog auf einem schneckenförmigen Fahrweg aufwärts, indessen eine weitgedehnte Plänklerkette das Gebüsch säuberte und über Stock und Stein vorwärtsdrang. Bei dieser war das größte Vergnügen und auch die stärkste Aufregung; die einzelnen Leute rückten sich auf den Leib, die zum Rückzuge bestimmten wollten durchaus nicht weichen, man brannte sich die Schüsse fast ins Gesicht, und mehr als ein Ladstock schwirrte, im Eifer vergessen, durch die Bäume, und nur das Glück der Jugend verhütete ernstliche Unfälle; auch war der alte Feldwebel, welcher die Plänkler beaufsichtigte, genötigt, mit seinem Stocke dazwischenzuschlagen und reichlich zu fluchen, um die Disziplin einigermaßen zu wahren. Ich befand mich auf einem äußersten Flügel dieser Kette, teilte aber die Aufregung meiner Kameraden nicht, sondern ging gedankenlos vorwärts, ruhig und melancholisch meine Schüsse abgebend und mein Gewehr wieder ladend. Bald hatte ich mich von den übrigen verloren und befand mich mitten am Abhange einer wilden, mir unbekannten Schlucht, in deren Tiefe ein Bächlein rieselte und die mit altem Tannenwalde erfüllt war. Der Himmel hatte sich bedeckt, es ruhte eine düstere und doch weiche Stimmung auf der Landschaft; das Schießen und Trommeln aus der Ferne hob noch die tiefe Stille der unmittelbaren Nähe, ich stand still und lehnte mich ausruhend auf das Gewehr, indem ich einer halb weinerlichen, halb trotzigen Laune anheimfiel, welche mich öfter beschlichen hat gegenüber der großen Natur und welche der Bedrängten Frage nach Glück ist. Da hörte ich Schritte in der Nähe, und auf dem[135] schmalen Felspfade, in der tiefen Einsamkeit, kam mein Feind daher; das Herz klopfte mir heftig, er sah mich stechend an und sandte mir gleich darauf einen Schloß entgegen, so nah, daß mir einige Pulverkörner ins Gesicht fuhren. Ich stand unbeweglich und starrte ihn an; hastig lud er sein Gewehr wieder, ich sah ihm immer zu; dies verwirrte ihn und machte ihn wütend, und in unsäglicher Verblendung der Gescheitheit, der vermeintlichen Dummheit und Gutmütigkeit mitten ins Gesicht zu schießen, wollte er in dichter Nähe eben wieder anlegen, als ich, meine Waffe wegwerfend, auf ihn losfuhr und ihm die seinige entwand. Sogleich waren wir ineinander verschlungen, und nun rangen wir eine volle Viertelstunde miteinander, stumm und erbittert, mit abwechselndem Glücke. Er war behend wie eine Katze, wandte hundert Mittel an, um mich zu Falle zu bringen, stellte mir das Bein, drückte mich mit dem Daum hinter den Ohren, schlug mir an die Schläfe und biß mich in die Hand, und ich wäre zehnmal unterlegen, wenn mich nicht eine stille Wut beseelt hätte, daß ich aushielt. Mit tödlicher Ruhe klammerte ich mich an ihn, schlug ihm gelegentlich die Faust ins Gesicht, Tränen in den Augen, und empfand dabei ein wildes Weh, welches ich sicher bin, niemals tiefer zu empfinden, ich mag noch so alt werden und das Schlimmste erleben. Endlich glitten wir aus auf den glatten Nadeln, welche den Boden bedeckten, er fiel unter mich und schlug das Hinterhaupt dermaßen wider eine Fichtenwurzel, daß er für einen Augenblick gelähmt wurde und seine Hände sich öffneten. Sogleich sprang ich unwillkürlich auf, er tat das gleiche; ohne uns anzusehen, ergriff jeder sein Gewehr und verließ den unheimlichen Ort. Ich fühlte mich an allen Gliedern erschöpft, erniedrigt und meinen Leib entweiht durch dieses feindliche Ringen mit einem ehemaligen Freunde.

Von dieser Zeit an trafen wir nie wieder zusammen; er mochte aus meiner verzweifelten Entschlossenheit herausgefühlt haben, daß er im ganzen doch an den Unrechten gerate, und vermied[136] jetzt jede Reibung. Aber der Streit war unentschieden geblieben, und unsere Feindschaft dauerte fort; ja sie nahm zu an innerer Kraft, während wir uns in den Jahren, die vergingen, nur selten sahen. Jedes Mal aber reichte hin, den begrabenen Haß aufs neue zu wecken. Wenn ich ihn sah, so war mir seine Erscheinung, abgesehen von der Ursache unserer Entzweiung, an sich selbst unerträglich, vertilgungswürdig; ich empfand keine Spur von der milden Wehmut, welche sich sonst beim Anblicke eines verfeindeten Freundes mit dem Unwillen vermischt; ich fühlte den reinen Widerwillen und daß, wie sonst Jugendfreunde für das ganze Leben eine Zuneigung bewahren, dieser für die gleiche Dauer mein Jugendfeind sein würde. Ähnliche Empfindungen mochte er bei meinem Anblick erfahren, wozu noch der Umstand kam, daß die anfängliche Ursache unserer Feindschaft, die Geschichte des Schuldbuches, für ihn an sich selbst unvergeßlich sein mußte. Er war unterdessen in ein Comptoir getreten, hatte seine eigentümlichen Fähigkeiten fort und fort ausgebildet, erwies sich als sehr brauchbar, klug und vielversprechend und erwarb sich die Neigung seines Vorgesetzten, eines schlauen und gewandten Geschäftsmannes; kurz, er fühlte sich glücklich und sah voll Hoffnung auf sein zukünftiges Selbstwirken. So kann ich mir gar wohl denken, daß die arge Enttäuschung, welche sein erster jugendlicher Versuch, ein Geschäft zu machen, erfuhr, für ihn ebenso nachhaltig schmerzlich sein mußte als einer kindlichen Dichter- oder Künstlernatur der erste verneinende Hohn, welcher ihren naiven und harmlosen Versuchen zuteil wird.

Wir waren schon konfirmiert, er etwa achtzehn, ich sechszehn Jahre alt; wir begannen uns selbständiger zu bewegen und lernten nun Verhältnisse und Menschen kennen. Wenn wir an öffentlichen Orten zusammentrafen, so vermieden wir, uns anzusehen, aber jeder weihte seine Freunde in seinen Haß ein, welcher manchmal um so gefährlicher zu wirken und auszubrechen drohte, als nun ein jeder mit solchen jungen Leuten[137] umging, die seiner Beschäftigung und seinem Wesen entsprachen und also einen empfänglichen Boden für eine weiterzündende Feindschaft bildeten. Deswegen dachte ich mit Sorge an die Zukunft und wie das denn nun das ganze Leben hindurch in der so engen Stadt gehen sollte? Allein diese Sorge war unnütz, indem ein trauriger Fall ein frühes Ende herbeiführte. Der Vater meines Widersachers hatte ein altes wunderliches Gebäude gekauft, welches früher eine städtische Ritterwohnung gewesen und mit einem starken Turme versehen war. Dies Gebäude wurde nun wohnlich eingerichtet und in allen Winkeln mit Veränderungen heimgesucht. Für den Sohn war dies eine goldene Zeit; da nicht nur das Unternehmen überhaupt eine Spekulation vorstellte, sondern auch eine Menge Geschicklichkeiten an den Mann gebracht werden konnten. Jede Minute, die er frei hatte, steckte er unter den Bauleuten, ging ihnen an die Hand und übernahm viele Arbeiten ganz, um sie zu ersetzen und zu sparen. Mein Weg zur Arbeit führte mich alltäglich an diesem Hause vorüber, und immer sah ich ihn zwischen zwölf und ein Uhr, wenn alle Arbeiter ruhten, und am Abend wieder, mit einem Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fenstern oder auf Gerüsten stehen. Er war seit der Kinderzeit fast gar nicht mehr gewachsen und sah in seiner Emsigkeit, an den ungeheuerlichen Mauern hängend, höchst seltsam aus; ich mußte unwillkürlich lachen und hätte fast einem freundlichern Gefühle Raum gegeben, da er in diesem Wesen doch liebenswürdig und tüchtig erschien, wenn er nicht einst die Gelegenheit wahrgenommen hätte, einen ansehnlichen Pinsel voll Kaltwasser auf mich herunterzuspritzen.

Eines Tages, als ich des Hauses bereits ansichtig war, führte mich mein milder Stern durch eine Seitenstraße einen andern Weg; als ich einige Minuten später wieder in die Hauptstraße einbog, sah ich viele erschreckte Leute aus der Gegend jenes Hauses herkommen, welche eifrig sprachen und lamentierten. Um die Wegnahme einer alten Windfahne auf dem Turme zu[138] bewerkstelligen, hatten die Bauleute erklärt, ein erhebliches Gerüste anbringen zu müssen. Der Unglückliche, der sich alles zutraute, wollte die Kosten sparen und während der Mittagsstunde die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte sich auf das steile hohe Dach hinausbegeben, stürzte herab und lag in diesem Augenblicke zerschmettert und tot auf dem Pflaster.

Es durchfuhr mich, als ich die Kunde vernommen und schnell meines Weges weiterging, wohl ein Grauen, verursacht durch den Fall, wie er war; aber ich mag mich durchwühlen, wie ich will, ich kann mich auf keine Spur von Erbarmen oder Reue entsinnen, die mich durchzuckt hätte. Meine Gedanken waren und blieben ernst und dunkel; aber das innerste Herz, das sich nicht gebieten läßt, lachte auf und war froh. Wenn ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam geschaut, so glaube ich zuversichtlich, daß mich Mitleid und Reue ergriffen hätten; doch das unsichtbare Wort, mein Feind sei mit einem Schlage nicht mehr, gab mir nur Versöhnung, aber die Versöhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich konstruierte zwar, als ich mich besonnen, rasch ein künstliches und verworrenes Gebet, worin ich Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergessenheit bat; mein Inneres lächelte dazu, und noch heute, nachdem wieder Jahre vorübergegangen, fürchte ich, daß meine nachträgliche Teilnahme an jenem Unglücke mehr eine Blüte des Verstandes als des Herzens sei, so tief hatte der Haß gewurzelt!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 130-139.
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