Achtzehntes Kapitel

Judith

[358] Die barmherzigen Brüder waren durch die Politik wieder rüstig und munter geworden und hatten die Flaschen neu füllen lassen,[358] obgleich Mitternacht lange vorüber, als Judith plötzlich aufbrach und sagte: »Frauen und junge Knaben gehören nun nach Hause! Wollt Ihr nicht mitkommen, Vetter, da wir den gleichen Weg haben?« Ich sagte ja, doch müßte ich erst nach meinen Verwandten sehen, welche wahrscheinlich auch mitkommen würden. »Die werden wohl schon fort sein«, erwiderte sie, »denn es ist spät; wenn ich nicht darauf gerechnet hätte, daß ich mit Euch gehen könnte, so wäre ich auch längst fort.« – »Oho!« riefen die Zecher, »als ob wir nicht auch da wären! Wir alle begleiten Euch! Das soll nicht gesagt sein, daß die Judith nicht Begleiter zur Auswahl habe!« Sie erhoben sich und sorgten, noch den frischen Wein unterzubringen, während Judith mir winkte und, auf dem Flur angekommen, sagte: »Diese vier Heiden wollen wir schön anführen!« Auf der Straße sah ich, daß der Saal, wo meine Vettern und Basen sich aufgehalten, schon dunkel war, und mehrere Leute bestätigten ihre Heimkehr. So mußte ich der Judith folgen, als sie mich durch ein dunkles Seitengäßchen ins Freie und durch einige Feldwege auf die Landstraße führte, daß wir einen Vorsprung gewannen und die vier Männer hinter uns rufen hörten. Indem wir eilend weiterschritten, gingen wir um einige Spannen entfernt nebeneinander her; ich hielt mich spröde zurück, während mein Ohr keinen Ton ihres festen und doch leichten Schrittes verlor und begierig das leise Rauschen ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel, aber das Frauenhafte, Sichere und die Fülle ihres Wesens wirkte aus allen Umrissen ihrer Gestalt wie berauschend auf mich, daß ich alle Augenblicke hinüberschielen mußte, gleich einem angstvollen Wanderer, dem ein Feldgespenst zur Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in seiner Angst sein christliches Bewußtsein wachruft zum Schutze gegen den unheimlichen Begleiter, trug ich während des verlockenden Ganges einen geistlichen Hochmut der Sprödigkeit und der Unfehlbarkeit in mir. Judith sprach von den Männern und lachte über sie, erzählte mir unbefangen die Dummheiten, die der eine[359] ihr gemacht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte Mondgöttin wäre? Wenigstens habe sie das immer vermutet, wenn sie jenes Lied in einem Buche gelesen; es habe auch gut für den Schlingel gepaßt. Dann fragte sie mich plötzlich, warum ich so stolz geworden sei und sie so lange nie mehr angesehen, viel weniger besucht habe? Ich wollte mich damit entschuldigen, daß sie keinen Verkehr mit dem Hause meines Oheims pflege und ich daher schicklicherweise auch nicht veranlaßt sei, sie zu sehen.

»Ach was!« sagte sie, »Ihr seid ja ebensogut mein Vetter und könnt mich von Rechts wegen wohl heimsuchen, wenn Ihr wollt! Damals, wo Ihr so jung gewesen, habt Ihr mich so gern gehabt, und Ihr seid mir immer ein wenig lieb; aber jetzt habt Ihr ein Schätzchen, in welches Ihr verliebt seid, und meint, keine andere Frau mehr ansehen zu dürfen!«

»Ich ein Schätzchen?« erwiderte ich, und als sie diese Behauptung wiederholte und Anna nannte, leugnete ich die Sache auf das bestimmteste. Wir waren unversehens beim Dorfe angekommen, in welchem noch viele Stimmen laut wurden und die jungen Leute über die Gasse gingen; Judith wünschte ihnen aus dem Wege zu gehen, und obgleich ich nun füglich meine Straße hätte ziehen können, leistete ich doch keinen Widerstand und folgte ihr unwillkürlich, als sie mich bei der Hand nahm und zwischen Hecken und Mauern durch ein dunkles Wirrsal führte, um ungesehen in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Äcker verkauft und nur einen schönen Baumgarten nächst dem Hause behalten, in welchem sie ganz allein wohnte. Der genossene Wein erhöhte die Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir so durch die engen Wege hinschlüpften, und als, bei dem Hause angekommen, Judith sagte: »Kommt herein, ich will noch einen Kaffee kochen!« und ich hineinging und sie die Haustüre fest hinter uns verriegelte, da klopfte mir das Herz mit ungewisser Furcht, während ich mich übermütig des Abenteuers freute und mich vermaß, dasselbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu bestehen. An Anna dachte ich gar nicht,[360] mein wallendes Blut verfinsterte ihr Bild und ließ nur den Stern meiner Eitelkeit durchschimmern; denn, genau erwogen, wollte ich nur um meiner selbst willen meine Standhaftigkeit erproben. Doch darf ich mir gestehen, daß es im Grunde eine Art romantischen Pflichtgefühls war, welches mich antrieb, keiner merkwürdigen Erfahrung auszuweichen. Auch verlor sich die unheimliche Aufregung, sobald Judith Licht angezündet und ein helles Feuer entflammt hatte. Ich saß auf dem Herde und plauderte ganz vergnüglich mit ihr, und indem ich fortwährend in ihr vom Feuer beglänztes Gesicht sah, glaubte ich stolz mit der Gefahr spielen zu können und träumte mich in die Lage der Dinge zurück, wie ich vor zwei Jahren noch ihr Haar auf- und zugeflochten hatte. Während der Kaffee singend kochte, ging sie in die Stube, um ihr Halstuch abzulegen und ihr Sonntagskleid auszuziehen, und kam im weißen Untergewande zurück, mit bloßen Armen, und aus der schneeweißen Leinwand enthüllten sich mit blendender Schönheit ihre Schultern. Sogleich ward ich wieder verwirrt, und erst allmählich, indem ich unverwandt sie anschaute, entwirrte sich mein flimmernder Blick an der ruhigen Klarheit dieser Formen. Ich hatte sie schon als Knabe ein- oder zweimal so gesehen, wenn sie beim Ankleiden nicht sehr auf mich achtete, und obgleich ich jetzt anders sah als damals, schien doch die gleiche Vorwurfslosigkeit auf diesem Schnee zu ruhen; auch bewegte sich Judith so sicher und frei, daß diese Sicherheit auch auf mich überging. Sie trug den fertigen Kaffee in die Stube, setzte sich neben mich, und indem sie das herbeigeholte Kirchenbuch aufschlug, sagte sie: »Seht, ich habe alle die Bildchen noch, die Ihr mir gezeichnet habt!« Wir betrachteten die kindischen Dinger, eins ums andere, und die unsicheren Striche von damals kamen mir höchst seltsam vor, wie vergessene Zeichen einer unabsehbar entschwundenen Zeit. Ich erstaunte vor diesen Abgründen der Vergessenheit, die zwischen den kurzen Jugendjahren liegen, und betrachtete die Blättchen sehr nachdenklich; auch die Handschrift, womit ich[361] die Sprüche hineingeschrieben, war eine ganz andere und noch diejenige aus der Schule. Die ängstlichen Züge sahen mich traurig an; Judith sah auch eine Zeitlang still auf das gleiche Bildchen mit mir, dann sah sie mir plötzlich dicht in die Augen, indem sie ihre Arme um meinen Hals legte, und sagte: »Du bist immer noch der gleiche! An was denkst du jetzt?« – »Ich weiß nicht!« erwiderte ich. – »Weißt du«, fuhr sie fort, »daß ich dich gleich fressen möchte, wenn du so studierst, ins Blaue hinaus!« und sie drückte mich enger an sich, während ich sagte: »Warum denn?« – »Ich weiß selbst nicht recht; aber es ist so langweilig unter den Leuten, daß man oft froh ist, wenn man an etwas anderes denken kann; ich möchte dies auch gern, aber ich weiß nicht viel und denke immer das gleiche, obschon mir etwas Unbekanntes im Kopfe herumgeht; wenn ich dich nun so staunen sehe, so ist es mir, als ob du gerade an das denkst, woran ich auch gern sinnen möchte; ich meine immer, es müßte einem so wohl sein, wenn man mit deinen geheimen Gedanken in die Weite spazieren könnte!« So etwas hatte ich noch niemals zu hören bekommen; obgleich ich wohl einsah, daß die Judith sich allzusehr zu meinen Gunsten täuschte, was meine inneren Gedanken betraf, und ich tief beschämt errötete, daß ich glaubte, die Röte meiner brennenden Wange müsse ihre weiße Schulter anglühen, an welcher sie lag so sog ich doch Wort für Wort dieser süßesten Schmeichelei begierig ein, und meine Augen ruhten dabei auf der Höhe der Brust, welche still und rein aus dem frischen Linnen emporstieg und in unmittelbarster Nähe vor meinem Blicke glänzte wie die ewige Heimat des Glückes. Judith wußte nicht, oder wenigstens nicht recht, daß es jetzt an ihrer eigenen Brust still und klug, traurig und doch glückselig zu sein war. Ich fühlte mich ganz außer der Zeit; wir waren gleich alt oder gleich jung in diesem Augenblicke, und mir ging es durch das Herz, als ob ich jetzt die Ruhe vorausnähme für alles Leid und alle Mühe, die noch kommen sollten. Ja, dieser Augenblick schien so sehr seine Rechtfertigung in sich selbst zu[362] tragen, daß ich nicht einmal aufschreckte, als Judith, in dem Gesangbuch blätternd, ein zusammengefaltetes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt und ich nach langem Sinnen jenes beschriebene und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte, das ich vor Jahren einst den Wellen übergeben hatte. »Leugnest du noch, daß dies gute Kind dein Schätzchen sei?« sagte sie, und ich leugnete es aus Mutwillen zum zweiten Male, das Blatt als eine vergessene Kinderei erklärend.

In diesem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hause, welche wir als diejenigen der vier Männer erkannten. Sogleich löschte sie das Licht aus, daß wir im Dunkeln saßen; doch die unten begehrten nichtsdestominder Einlaß, indem sie riefen: »So macht doch auf, schöne Judith, und wartet uns mit einer Tasse heißen Kaffees auf! Wir wollen uns ehrbar benehmen und noch ein vernünftiges Wort sprechen! Aber macht auf, zum Lohn dafür, daß Ihr uns so an geführt habt; es ist Fastnacht, und Ihr dürft ohne Gefährde einmal die vier ruhmwürdigsten Kumpane des Landes bewirten!«

Wir hielten uns aber ganz still; schwere Regentropfen schlugen an die Scheiben, es wetterleuchtete sogar, und in der Ferne donnerte es, daß es klang, als wäre es Mai oder Juni. Um Judith kirre zu machen, sangen die Männer mit heuchlerischer Sorgfalt ein vierstimmiges Lied, so schön sie konnten, und ihr überwachter Zustand gab ihren Stimmen wirklich etwas gerührt Vibrierendes. Als dies alles nichts half, fingen sie an zu fluchen, und einer kletterte am Spalier zum Fenster empor, um in die dunkle Stube zu sehen. Wir bemerkten wohl seine spitzige Kapuze, die er über den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit einem Mal ein Blitz die Stube, und der Späher konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen erkennen.

»Die verwünschte Hexe sitzt ganz aufrecht und munter am Tisch!« rief er gedämpft hinunter; ein anderer sagte: »Laß mich einmal sehen!« Doch während sie sich ablösten und die Stube wieder finster war, huschte Judith schnell zu ihrem Bett, nahm[363] die weiße Decke desselben und warf sie über den Stuhl, worauf sie mich leis nach dem Bett hinzog, welches man vom Fenster aus nicht sehen konnte. Als jetzt ein zweiter, noch stärkerer Blitz die Stube ganz klar machte, sagte der Mann, welcher die Augen wie eine Doppelbüchse auf den Stuhl gerichtet hatte: »Sie ist es nicht, es ist nur ein weißes Tuch; das Kaffeegeschirr steht auf dem Tisch, und das Kirchenbuch liegt dabei. Der Himmelteufel ist am Ende frömmer, als man glaubt!«

Judith aber flüsterte mir ins Ohr: »Der Schelm hätte dich jetzt ganz gewiß erblickt, wenn wir sitzen geblieben wären!«

Doch die gewaltigen Regengüsse, Blitz und Donner, die nun hereinbrachen, vertrieben den Späher vom Fenster; wir hörten, wie sie ihre Kutten schüttelten und auseinandersprangen, um im Dorfe ein Unterkommen zu suchen, da sie alle weit von Hause waren. Als wir nichts mehr von ihnen hörten, saßen wir noch eine Weile ganz still auf dem Bette und lauschten auf das Gewitter, welches das Häuschen erzittern machte, so daß ich mein eigenes leises Zittern nicht recht davon unterscheiden konnte. Ich umfaßte Judith, um nur dies beklemmende Zittern zu unterbrechen, und küßte sie auf den Mund; sie küßte mich wieder, fest und warm; doch dann löste sie meine Arme von ihrem Hals und sagte: »Glück ist Glück, und es gibt nur ein Glück; aber ich kann dich nicht länger hierbehalten, wenn du mir nicht gestehen willst, daß du und des Schulmeisters Tochter einander gern habt! Denn nur das Lügen macht alles schlimm!«

Ohne Rückhalt begann ich nun, ihr die ganze Geschichte zu erzählen von Anfang bis zu Ende, alles, was je zwischen Anna und mir vorgefallen, und verband die beredte Schilderung ihres Wesens mit derjenigen der Gefühle, die ich für sie empfand. Ich erzählte auch genau die Geschichte des heutigen Tages und klagte der Judith meine Pein in betreff der Sprödigkeit und Scheue, welche immer wieder zwischen uns traten. Nachdem ich lange so erzählt und geklagt, antwortete sie auf meine Klagen nicht, sondern fragte mich: »Und was denkst du dir jetzt eigentlich[364] darunter, daß du bei mir bist?« Ganz verwirrt und beschämt schwieg ich und suchte ein Wort; dann sagte ich endlich zaghaft: »Du hast mich ja mitgenommen!« – »Ja«, erwiderte sie, »aber wärest du mit jeder anderen hübschen Frau ebenso gegangen, die dich gelockt hätte? Besinne dich einmal hierauf!« Ich besann mich in der Tat und sagte dann ganz entschieden: »Nein, mit gar keiner!« – »Also bist du mir auch ein bißchen gut?« fuhr sie fort. Jetzt geriet ich in die größte Verlegenheit; denn die Frage zu bejahen, fühlte ich nun deutlich, würde die erste eigentliche Untreue gewesen sein, und doch, als ich versuchte ehrlich nachzudenken, vermochte ich noch weniger ein Nein hervorzubringen. Endlich konnte ich doch nicht anders und sagte: »Ja – aber doch nicht so wie der Anna!« – »Wie denn?« Ich umschlang sie ungestüm, und indem ich sie streichelte und ihr auf alle Weise schmeichelte, fuhr ich fort: »Siehst du! für die Anna möchte ich alles mögliche ertragen und jedem Winke gehorchen; ich möchte für sie ein braver und ehrenhafter Mann werden, an welchem alles durch und durch rein und klar ist, daß sie mich durchschauen dürfte wie einen Kristall; nichts tun, ohne ihrer zu gedenken, und in alle Ewigkeit mit ihrer Seele leben, auch wenn ich von heute an sie nicht mehr sehen würde! Dies alles könnte ich für dich nicht tun! Und doch liebe ich dich von ganzem Herzen, und wenn du zum Beweis dafür verlangtest, ich sollte mir von dir ein Messer in die Brust stoßen lassen, so würde ich in diesem Augenblicke ganz still dazu halten und mein Blut ruhig auf deinen Schoß fließen lassen!«

Ich erschrak sogleich über diese Worte und entdeckte zugleich, daß sie nichts weniger als übertrieben, sondern ganz der Empfindung gemäß waren, die ich von jeher für Judith unbewußt getragen.

Mit meinen Liebkosungen plötzlich innehaltend, ließ ich die Hand auf ihrer Wange liegen, und in diesem Augenblicke fühlte ich eine Träne darauf fallen. Zugleich seufzte sie und sagte: »Was tue ich mit deinem Blute! – Oh! nie hat ein Mann gewünscht,[365] brav, klar und lauter vor mir zu erscheinen, und doch liebe ich die Wahrheit wie mich selbst!«

Betrübt sagte ich: »Aber ich könnte doch nicht dein ernsthafter Liebhaber oder gar dein Mann sein?« – »Oh, das weiß ich wohl und fällt mir auch gar nicht ein!« erwiderte sie, »ich will dir auch sagen, was du von mir zu denken hast! Ich habe dich zu mir gelockt, erstens, weil ich wieder einmal ein wenig küssen wollte, was ich auch gleich hernach tun will, du bist mir dazu gerade recht! Zweitens wollte ich dich als ein hochmütiges Bürschchen ein wenig in die Schule nehmen, und drittens macht es mir Vergnügen, in Ermangelung eines andern, den Mann zu lieben, der noch in dir verborgen ist, wie ich dich schon als Kind gern gesehen habe.« Mit diesen Worten packte sie mich und fing an, mich zu küssen, daß es mir glutheiß wurde und ich, nur um die Glut zu kühlen, ihre feuchten Lippen festhalten und wiederküssen mußte. Als ich Anna geküßt, war es gewesen, als ob mein Mund eine wirkliche Rose berührt hätte; jetzt aber küßte ich eben einen heißen, leibhaften Mund, und der geheimnisvolle balsamische Atem aus dem Innern eines schönen und starken Weibes strömte in vollen Zügen in mich über. Dieser Unterschied war so spürbar, daß mitten im heftigen Küssen Annas Stern aufging, eben als Judith mehr wie für sich flüsterte: »Denkst du nun auch an dein Schätzchen?« – »Ja«, erwiderte ich, »und ich geh nun!« und wollte mich losmachen.

»So geh!« sagte sie lächelnd, doch löste sie ihre weichen bloßen Arme auf eine so sonderbare Weise auseinander, daß es mir schneidend weh tat, mich frei zu fühlen, und eben wieder im Begriffe war, in dieselben zu sinken, als sie aufsprang, mich noch einmal küßte und dann von sich stieß, indem sie leise sagte: »Nun pack dich, es ist jetzt Zeit, daß du heimkommst!« Beschämt suchte ich meinen Hut und eilte davon, daß sie laut lachte und mir kaum nachkommen konnte, um mir die Haustüre auf zumachen. »Halt«, flüsterte sie, als ich davonlaufen wollte, »geh da oben durch den Baumgarten hinaus und ein wenig ums Dorf[366] herum!« und sie kam mit mir durch den Garten in ihrem leichten Gewande, obgleich es regnete und stürmte, was vom Himmel heruntermochte. Am Gatter stand sie still und sagte: »Hör einmal! ich sehe nie einen Mann in meinem Hause, und du bist der erste, den ich seit langer Zeit geküßt! Ich habe Lust, dir nun erst recht treu zu bleiben, frage mich nicht warum, ich muß etwas probieren für die lange Zeit, und es macht mir Spaß. Dafür verlange ich aber, daß du jedesmal zu mir kommst, wenn du im Dorfe bist, in der Nacht und heimlich; am Tage und vor den Leuten wollen wir tun, als ob wir uns kaum ansehen möchten. Ich verspreche dir, daß es dich nie gereuen soll. Es wird in der Welt nicht so gehen, wie du es denkst, und vielleicht auch mit Anna nicht; das alles wirst du schon sehen; ich sage dir nur, daß du später froh sein sollst, wenn du zu mir gekommen bist!« – »Nie komme ich wieder!« rief ich etwas heftig. – »Bst! nicht so laut«, sagte sie; dann sah sie mir ernsthaft in die Augen, daß ich trotz Sturm und Dunkelheit die ihrigen glänzen sah, und fuhr fort: »Wenn du mir nicht heilig und auf deine Ehre versprichst, daß du wiederkommen willst, so nehm ich dich sogleich wieder mit, nehme dich zu mir ins Bett, und du mußt bei mir schlafen! Das schwör ich bei Gott!«

Es kam mir gar nicht in den Sinn, über diese Drohung zu lachen oder dieselbe zu verachten; vielmehr versprach ich, so schnell ich konnte, in Judiths Hand, daß ich wiederkommen wollte, und eilte davon.

Ich lief zu, ohne zu wissen wohin; denn der strömende Regen tat mir wohl; so war ich bald aus dem Dorfe und auf eine Höhe gekommen, auf welcher ich weiterging. Der Morgen graute und warf ein schwaches Licht in das Unwetter; ich machte mir die bittersten Vorwürfe und fühlte mich ganz zerknirscht, und als ich plötzlich zu meinen Füßen den kleinen See und des Schulmeisters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den grauen Schleier des Regens und der Dämmerung, da sank ich erschöpft auf den Boden und brach gar jämmerlich in Tränen aus.[367]

Es regnete immerfort auf mich nieder, die Windstöße fuhren und pfiffen durch die Luft und heulten erbärmlich in den Bäumen, ich weinte dazu wie ein Kind; gehörigerweise machte ich niemandem Vorwürfe als mir selbst und dachte nicht daran, der Judith irgendeine Schuld beizumessen. Ich fühlte mein Wesen in zwei Teile gespalten und hätte mich vor Anna bei der Judith und vor Judith bei der Anna verbergen mögen. Aber ich gelobte, nie wieder zu jener zu gehen und mein Gelöbnis zu brechen; denn ich empfand ein grenzenloses Mitleid mit Anna, die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen Füßen jetzt so still schlafend wußte. Endlich raffte ich mich auf und stieg wieder ins Dorf hinunter; der Rauch stieg aus den Schornsteinen und kroch in wunderlichen Fetzen durch den Regen; etwas gefaßter sann ich darüber nach, was ich im Hause des Oheims über mein nächtliches Ausbleiben vorgeben wolle, etwa, ich hätte mich verirrt und sei die ganze Nacht umhergestreift. Dies war seit den kritischen Kinderjahren das erste Mal, wo ich zu einem Zwecke wieder lügen mußte; mehrere Jahre hindurch hatte ich nicht mehr gewußt, was lügen sei, und diese Entdeckung machte mir vollends zu Mute, als ob ich aus einem schönen Garten hinaus gestoßen würde, in welchem ich eine Zeitlang zu Gast gewesen.[368]

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 358-369.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der grüne Heinrich [Zweite Fassung]
Der grüne Heinrich. Zweite Fassung
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 3: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 3: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon