XVII

[278] Jeden Tag enthielten die Zeitungen nun Nachrichten über den Fortgang der Untersuchungen, deren Ergebnisse sich nicht so glichen, wie einst die Brüder Weidelich. Dadurch gewann jeder dem andern gegenüber eine gewisse Originalität, was man nie für möglich gehalten hätte.

Isidors Wirkungskreis umfaßte eine Anzahl bäuerlicher Gemeinden, die um diese Zeit just in der Verbesserung ihrer Kreditverhältnisse begriffen waren. Sie bildeten Genossenschaften[278] für gegenseitiges Gewährleisten der hypothekarischen Sicherheit und dergleichen, kündeten dann insgesamt die beschwerlichsten wie die schlechteren Pfandbriefe und boten den Gläubigern neue Titel zu billigerem Zinsfuße an. Da gleichzeitig viele Kapitalisten ihr in Aktienunternehmungen angelegtes Geld nicht mehr sicher sahen, griffen sie gern wieder nach dem Grundbesitz. Der Notar aber war der Mittelsmann und Führer der ganzen Bewegung. Er schrieb ein Anleihen nach dem anderen aus, nahm die Einzahlungen in Empfang, löste die gekündeten Briefe ab, indem er die alten Gläubiger auszahlte und den neuen die neuen Pfandbriefe ausstellte und protokollierte, was das Zeug hielt: weil das alles sich in die Millionen belief, so verfuhr er vielleicht bescheiden, wenn er von den vielen Geldern, die ihm zwischen die Hände gerieten, nur einige Hunderttausend veraberwandelte, um damit sein Glück im Börsenspiel zu versuchen. Da er, wie recht und billig, als hohler Kopf, der ohne alles Urteil dareinfuhr, nur verlor, so sah er sich bald genötigt, einen veruntreuten Posten durch einen anderen zu ersetzen und darin immer eifriger fortzufahren, indem er rüstig die Schuldbriefe ausstellte und zuerst mit einiger Auswahl, dann ohne Wahl das dafür erhaltene Kapital zurückbehielt. Es handelte sich ohnehin um eine weitläufige und langwierige Besorgung, und so vermochte er längere Zeit die Leute mit allerlei trockenen Redensarten hinzuhalten, auch im dringenden Fall durch einen neuen Eingriff vorzubeugen immer in der Hoffnung, das Glück werde endlich großartig einschlagen und alles in Ordnung bringen. Er war sogar so kühn, viele gelöschte alte Titel, statt sie den Schuldnern zu übergeben, ohne Vermerk bei auswärtigen Bankgeschäften zu versetzen, während sie doch in den Protokollen abgeschrieben waren. Auf diese Art gewann er mehr als einmal den doppelten Betrag am nämlichen Briefe.

Hiebei führte er lang eine ziemlich sorgfältige geheime Buchhaltung, bis ihm dieselbe gleich dem ganzen Schwindel selbst über den Kopf wuchs und er die Übersicht verlor.[279]

Julians Verfahren war nicht so mühselig und kühn. Er begnügte sich, von jedem Kaufschuldbrief, den er zu fertigen hatte, ein Duplikat und ein Triplikat herzustellen, letztere Stücke eigenhändig in stiller Nacht, und diese Kunstwerke in einer besonderen Schatztruhe aufzubewahren. Sobald er nun ungerechtes Geld bedurfte, suchte er ein oder mehrere Stücke hervor und schaute zunächst nur darauf, ob die Originale, nach dem Inhaber zu urteilen, in festen Händen ruhten. Ergab sich aber ein Mangel an Vorrat solcher Stücke, so verfertigte und malte er in aller Form gänzlich erfundene Pfandbriefe, die in keinem Protokolle standen, und er sorgte nur dafür, daß es Personen betraf, die in guter Sicherheit dahinlebten und sich nicht auf dem Geldmarkte umtrieben. Er belastete die Höfe wohlhabender Bauern mit Schulden zugunsten weit davon entfernter Rentner, die sich von der unsichtbaren Bereicherung nichts träumen ließen. Da namentlich diese ganz in der Luft hängenden Hypotheken sehr solid aussahen und von Bankbeamten beim Anblick der darauf figurierenden Namen als gut geschätzt und belehnt wurden, so beschränkte Julian sich zuletzt ausschließlich auf den bequemeren Zweig und behing ihn mit zahlreichen Früchten; je nach Bedürfnis pflückte er dieselben, um am letzten Tage des Monats die ansehnlichen Börsenverluste zu decken.

Auch er führte Buch über das Nebengeschäft, schon um das Verzinsen auf den Banken nicht zu versäumen, was nicht ratsam war, dann aber auch behufs einer wohlgeordneten Reihenfolge in der Rückzahlung der geborgten Gelder. Es war eben der beiden Brüdern gebliebene Anteil am menschlichen Idealismus, das Unrecht nur mit dem Vorbehalte zu üben, es mit Fortunas Hilfe rechtzeitig gutzumachen und nicht etwa zugrunde zu gehen. Das hielt ihren leichten Mut auch nach dem Falle aufrecht und gab ihnen das Bewußtsein, nicht zum Trosse verächtlicher Sünder zu gehören.

Ungefähr eine Woche nach der Flucht erhielt Frau Netti einen Brief von Julian, welchen er auf dem Wege nach einem portugiesischen[280] Seehafen irgendwo aufgegeben, die Adresse mit verstellter Hand geschrieben.

»Meine heißgeliebte, verehrteste Gattin!« lautete der Brief. »Ein bitteres Schicksal hat mich von Deiner Seite gerissen (Du wirst das Nähere bereits vernommen haben!) und mich gezwungen, jenes kleine Lumpenländchen zu verlassen, wo ich geboren und in jugendlicher Unerfahrenheit der allgemeinen Verderbnis anheimgefallen bin. Ein Flüchtiger und Geächteter, eile ich jetzt besseren Zonen entgegen, wo der freie Mannesgeist Raum zur vollen Entfaltung findet und wo ich hoffe, in kurzer Frist den von einer philisterhaften und gelddurstigen Krämerwelt mir aufoktroyierten Fehltritt gutzumachen. Ich kann Dir eidlich beteuern, meine teuerste Gemahlin, daß dieser Fehltritt aus einem langen Martyrium bestand, ein Kampf ums Dasein war, dem ich einstweilen unterlegen bin, ich sage feierlich: einstweilen! Und jetzt, liebstes Weib! wie ich dereinst ewige Treue gelobt habe auch für den Fall, daß Deine Eltern Dich enterben sollten, jetzt baue ich auch auf Deine Treue und hoffe, Du werdest sie mir bewahren, nachdem ich ein Enterbter unseres Vaterlandes geworden bin! Über die Länder, durch welche ich bisher mit Sturmeseile gereist bin, kann ich Dir nichts Interessantes mitteilen, da ich begreiflicherweise keine großen Beobachtungen anstellen konnte. Aber von drüben, überm Meere, hoffe ich Dir die Neue Welt einläßlich zu schildern, die sich mir auftun wird, sobald ich festen und sichern Fuß gefaßt habe. Bis dahin kann ich Dir auch keine Adresse angeben. Grüße Deine verehrten Herren Eltern recht herzlichst von mir und sei so gut, es auch bei den meinigen zu tun und sie um Verzeihung für mich zu bitten! Es ist mir jetzt unmöglich, ihnen zu schreiben. Auch meine teure Schwägerin Setti grüße ich tausendmal! Ich bedaure nur meinen armen Bruder, den sie erwischt haben! Ich glaube, ich habe das schlimme Beispiel geahnt, das er mir unbewußt gegeben hat. Item, die Sonne wird auch für uns wieder aufgehen! Und nun lebe wohl, Geliebte! Und auf ein glückliches Wiedersehen,[281] wenn ich Dir eine Stätte bereitet habe! Dein getreuer Gatte J. W.«

Netti gab beim Abendtee, als alle beisammen waren, den Ihrigen den Brief zu lesen. Er wirkte fast erheiternd, besonders da sie die verlassene Frau so ruhig sahen. Dies war sie, weil sie jetzt die Rechnung endgültig abgeschlossen hatte, ohne Hoffnung auf eine mögliche Änderung des Mannes. Frau Marie fühlte sich fast zufrieden, Setti hingegen war immer niedergedrückt, weil ihr Umstand in nächster Nähe geborgen saß, wenn auch unfreiwillig.

Da kam spät noch Herr Möni Wighart auf eine Tasse Tee mit dem guten Rum, welchen Salander zu beziehen wußte. Dieser ging in letzter Zeit nicht unter die Leute und sah es gern, daß der teilnehmende und doch stets anspruchslose Kumpan zuweilen ein Stündchen vorsprach.

Frau Marie hatte ihm die Untat längst verziehen, die er einst an ihr begangen, als er bei der ersten Rückkehr aus Brasilien ihren sehnlich erwarteten Martin sozusagen vor der Haustür in ein Wirtshaus verlockte.

Sie holte ihm sogleich einen Aschenbecher herbei.

Herr Wighart rief heuchlerisch: »Hoho! Man sollte mich für einen Schnapsbruder halten; nun, 's mag für einmal hingehen!« als ihm Martin Salander ans dem Rumfläschchen die Tasse bis zum Rande vollgoß.

»Warum ich so spät noch komme, ist etwas Lustiges, das ich erzählen muß! Es wird Euch ein klein wenig Spaß machen! Der verflossene Meister Notar Julian (Verzeihung, Frau Netti!) kommt noch täglich als ein trefflicher Humorist zum Vorschein!«

»Ein Humorist?« seufzte Netti. »Ach, du lieber Gott!«

»Hört nur! Ich komme aus den Vier Winden, wo einige Herren sitzen, die den ganzen Tag mit den Angelegenheiten des Bewußten zu tun hatten. Noch kurz vor der Abreise hinterlegte er bei der allgemeinen Not- und Hilfsbank einen schönen, neuen, vorstandsfreien Pfandbrief von zehntausend Franken und erhielt[282] darauf sechstausend. Als Schuldner erscheint in dem Instrument ein reicher, filziger alter Bauer hinter Lindenberg, genannt Ägidi, als Pfand dessen Hof und Land, und als Gläubiger der Bruder des Schuldners, ein anderer alter Filz, der sogenannte Schleifer in Nasenbach und bekannter Wucherer. Diese beiden Brüder führen seit Jahrzehnten eine Erbstreitigkeit um die andere, und wenn sie fertig sind, fangen sie von vorn an. Sie leben wie Hund und Katz gegeneinander und betrachten sich gegenseitig als den Fluch ihres Daseins, ohne alle Not, da jeder für sich genug hätte. Gut, die alten Männer waren heute nebst manchen anderen einberufen. Man zeigte ihnen, als die Reihe an sie kam, die schöne Hypothek und fragte, ob sie in Ordnung sei? Zuerst nahm sie der angebliche Schuldner in die Hand, weil er eher mit dem Aufsetzen der Brille fertig war; im übrigen sind beide übelhörig und verstanden zunächst kein gesprochenes Wort. Kaum hatte der Hofbesitzer herausstudiert, daß er dem feindlichen Bruder zehntausend Franken schuldig sein sollte, geriet er in eine fürchterliche Aufregung und zerriß den Brief von oben bis unten so von Zorn zitternd, daß die zwei Stücke zwei Sägen ähnlich wurden.

Der Schleifer aber, der nichts anders glaubte, als daß der Bruder eine ihm nützliche und zustehende Urkunde vernichte, fiel über ihn her, und augenblicklich verkrallten sich ihre Hände in den beidseitigen Halsbinden, und die Greise hämmerten sich mit den kurzen, kraftlosen Faustschlägen auf die Köpfe. Mit Mühe brachte man sie auseinander und schrie ihnen, als sie atemlos dastanden, den Sachverhalt in die Ohren. Allein, sobald sie vernahmen, daß irgend jemand auf das Schriftstück, das notdürftig zusammengefügt auf dem Tische lag, sechstausend Franken ausbezahlt erhalten habe, gerieten sie, ohne sich um etwas anderes zu kümmern, wieder aneinander, zerklaubten sich aber diesmal in kürzester Frist Kinn und Backen und zerrissen sich die Naslöcher. Abermals wurden sie unter großem Gelächter, das endlich den amtlichen Ernst überwand, gebändigt. Den eingebildeten[283] Gläubiger packten zwei Männer an den Schultern, drückten ihm das Gesicht gegen den Brief und fragten ihn bei Ja und Nein, ob er diese zehntausend Franken dem Notar von Lindenberg für den Ägidibauer, der hier neben ihm stehe, selbst oder durch einen anderen übergeben und diesen nämlichen Brief dagegen empfangen und jemals besessen habe?

Nach ängstlichem Besinnen, währenddessen ihm das Blut auf die unglückliche Hypothek tropfte, krächzte er schließlich: ›Nein, davon weiß ich nichts! Man soll mich gehen lassen!‹

›Aber ich will wissen, wer die Sechstausend auf meinem Hof gekriegt hat!‹ schrie der andere, dem der Zusammenhang noch immer nicht klar schien. Sie wurden jedoch ohne weiteren Bescheid vor die Tür geführt, wo die übrigen Zeugen harrten. Man gab ihnen ihre Hüte und Stecken und schickte sie fort. Kaum auf die Gasse gelangt, benutzte ihre verfluchte Leidenschaft die langentbehrte Gelegenheit und hetzte die betörten Filze aufs neue aneinander. Ohne zu wissen wohin, und ohne sich lassen zu können, so fesselte sie der Haß, liefen sie auf beiden Seiten der Straße fort unter greulichem Schimpfen und Drohen; es war bei Gott ein widerwärtiges Beispiel, wohin der elende Geiz und Neid sogar ein paar betagter Brüder treiben kann. Ich kam gerade dazu und lief mit dem Publikum den Rasenden nach, bis sie unversehens aneinander gerieten und mit den langen Weißdornstöcken dareinhieben, ohne sich zu treffen. Es kam dann ein Stadtpolizist und führte die armen Teufel auf die Wache. Nachher ging ich auf Vier Winden, wo ich das andere vernahm, wie ich es erzählt.

Ist das nicht ein verzwickter Streich von dem Notarius, ein köstlicher Einfall sogar, den geldstollen Brüdergreisen aus einem Pfandbriefe die Haare zu verstricken als Gläubiger und Schuldner? Viel Haare waren es freilich nicht mehr, und die spärlichen Streifen, die noch herumhingen, haben sie sich vollends ausgerauft!«

»Das ist kein lustiger Einfall gewesen,« sagte Netti; »ich erinnere[284] mich jetzt, daß er schon früher einmal klagte, wie er bei den reichen Geizhälsen Geld für Klienten gesucht habe und von beiden grob abgewiesen worden sei. Nun hat er sie eben doch noch benutzt, ohne sie zu fragen!«

»Er hat sie vermutlich schon damals anschmieren wollen. Jetzt muß natürlich die Not- und Hilfsbank den Schaden tragen!« versetzte Salander. »Indessen ist es in der Tat ein traurig lächerliches Phänomen!«

»Jawohl!« entgegnete Frau Marie, »wie man in der Nacht beim Anblick einer Feuersbrunst sagt, es sei furchtbar schön! Behüt uns der Himmel!«

Wie sie noch so sprachen, halb zehn Uhr war schon vorbei, schellte jemand stark an der Hausglocke. Nach einem Weilchen kam Magdalene mit einem Briefe, den ein Gefängnisbote gebracht. Der Aufseher habe ihm denselben schon am Nachmittag übergeben; allein er sei wegen vieler Arbeit erst jetzt nach Hause entlassen worden und bringe den Brief doch noch auf Bitten des inhaftierten Weidelich.

Das Schreiben war wirklich von Isidors Hand und an seine Frau Setti gerichtet, die zusammenfuhr.

»Ist der Mann fort?« fragte Salander, und als die Magd es bejahte, meinte er, da man Julians Brief einmal habe, so möge man den Isidorischen auch annehmen und Setti ihn für sich lesen, ehe sie ihn zum besten gebe! Man müsse die Dinge jetzt anfangen, von der Seite der Merkwürdigkeit aus zu betrachten, sonst komme man schwer darüber hinweg.

»Ich habe genug an dem Briefmuster, das Nettli erhalten hat,« sagte Setti, »und zweifle nicht, daß meine Epistel von gleichem Werte ist. Ich begehre sie nicht zu lesen und schenke sie euch! Lest, ich geh ins Bett!«

Damit erhob sie sich und wollte gehen. Der Vater hielt sie jedoch zurück.

»Halt!« sagte er, »du mußt ihn auch hören, und Herr Wighart soll ihn auch hören, so wird es etwas, das gewissermaßen[285] alle angeht, rein sachlich oder gegenständlich neutral! Die Mutter mag vorlesen; so kann sie sofort aufhören, sowie nach ihrem Gefühl etwas Peinliches zum Vorschein kommen sollte!«

»O du Erzdüftler!« sprach Marie Salander lächelnd; »gib her den Brief.« Während ihr Mann schon seit einigen Jahren einer Brille bedurfte, wenn er lesen wollte, las sie das Geschreibsel mit bloßen Augen, ohne nur die Lampe näher zu verlangen:

»Herzlich geliebtes Wesen! Teuerste Gattin! Endlich finde ich einen Augenblick der Fassung, um Dir aus dem Kerker ein Lebenszeichen übersenden zu können. Ich will mich über das bis dato Erduldete und wie es gekommen ist, jetzt nicht weiter verbreiten. So Gott will, wird der Tag unserer Wiedervereinigung nicht ausbleiben, wo wir das Unglück mit frohem Rückblicke in traulichem Geplauder genugsam betrachten können! Möge es so sein! Für jetzt möchte ich Dich nur mit einigen kleinen Wünschen behelligen, deren Erfüllung in diesem provisorischen Zustande mir zustatten käme. Da die Wut der Verhöre etwas nachzulassen scheint, bleibt mir so viel freie Zeit, daß die Untätigkeit mir peinlich wird. Da bin ich auf den Gedanken gekommen, sowohl um mir selbst Rechenschaft zu geben, als vielleicht auch der Gesamtheit nützlich zu sein, eine sozialpädagogische Studie zu schreiben über Pflichtverletzungen und ihre Quellen im Staats- und Volksleben und die Verstopfung der letzteren, vom Standpunkt eines Selbstprüfers. Leider fehlt es mir an gutem Schreibmaterial, an das ich gewöhnt bin; das, was ich hier bekomme, ist miserabel. Schicke mir daher ein Buch weißes, starkes, aber gut satiniertes Papier, Imperial, ferner eine Schachtel von meinen Stahlfedern, die Du ja kennst, ein Fläschchen blaue Tinte, ein dito rote und zwei Federhalter. Alles dies bekommst Du in der Handlung von I.G. Schwarz & Co. am besten. Bezüglich der Kost befinde ich mich einstweilen nicht so übel, da meine Eltern die Verpflegung garantiert haben; denn Du weißt, daß ich ohne einen Rappen Geld fortgeschleppt worden bin. Doch wäre eine kleine Aufbesserung sehr erwünscht, woher untenstehende Notierung.[286] Endlich fehlt es mir an geeigneter Lektüre. Es sind wohl Bücher zu haben, die aber mehr für Kinder oder Versorgte in Korrektionsanstalten passen. Eine gute geographische und historische Beschreibung der nord- und südamerikanischen Staaten wäre mir willkommen, nebst einigen Bänden Gerstäcker oder so was. Auch fehlt mir der Schlafrock, den ich vergessen habe. Du könntest ihn vielleicht durch den Gemeindammann aus unserem Tuskulum herauspraktizieren lassen. Er hängt gewiß noch hinter der Tür wie immer. Tue mir also die Liebe und berücksichtige folgendes Verzeichnis meiner dermaligen Wünsche:


  • 1. Obiges Schreibmaterial.
  • 2. Der Schlafrock.
  • 3. Eidamerkäs, 1 Laib mittlerer Größe.
  • 4. Salamiwurst, große 1/2, kleine 1/1.
  • 5. Ein Topf eingemachte Zwetschgen.
  • 6. Eine Flasche Kognak.
  • 7. Bücher in obigem Sinn.
  • 8. Ein paar Dutzend Zigarren zur Probe, mittelstarke.
  • 9. Meine Haarbürsten, die ich vergessen. Vielleicht mit dem Schlafrock zu bekommen.
  • 10. Ein oder zwei Schlipse.

Unwandelbar Dein getreuer Isidor.


PS. Meine Demission beim großen Rate habe ich schicklicherweise schon jetzt geglaubt erklären zu müssen. Dennoch fühle ich das Bedürfnis, auf dem laufenden zu bleiben, so gut möglich. Vielleicht wäre der Herr Vater so gütig, mir zeitweilig die wichtigsten Traktanda und Sitzungsberichte zukommen zu lassen?«

»Danke fürs Zutrauen!« murrte Martin Salander. »Bist du zu Ende, Marie?«

»Ja, gottlob!« antwortete sie und legte den Brief hin. »Wie gefällt dir die Epistel, Setti? Gedenkst du dich auf den Weg zu machen und die verlangten Dinge einzukaufen?«[287]

Die Gattin des Briefschreibers sagte mit sichtlich bleicher Nasenspitze:

»Ich friere vor Kälte, die mich überfallen hat, ich will zu Bett gehen! Gute Nacht, allerseits!«

»Nun, Freund Möni?« sagte Martin, nachdem die eine Tochter sich entfernt, »ist der nicht auch ein Humorist?«

Wighart hatte schon seine Zigarrenspitze eingepackt.

»Nein, da hört der Scherz auf!« sagte er verdutzt; »der Topf mit den eingemachten Zwetschgen hat mich darniedergeworfen!«

»Der Eidamerkäse und das Papier für die Studie sind aber auch nicht übel, sowie die Ratstraktanden!« seufzte Salander. »Keine Spur von Scham oder Reu, lauter Aufgeblasenheit! Es kommt mir vor, wie wenn wir auf einer hohlen Stelle der Erdrinde säßen!«

»Nur nicht gleich so verzweifelt!« mahnte die Mutter; »wenn die Köpfe hohl sind, so kann die Erde doch noch ein Weilchen vorhalten! Morgen will ich doch einmal bei den Eltern im Zeisig nachsehen, wie es ihnen geht! Vielleicht ist es eher angebracht, dort ein gutes Wort oder einen kleinen Trost einzulegen!«

»Das ist wohlgesprochen, Verehrteste!« sagte Möni Wighart. »Ich bin gestern wieder einmal beim Friedensrichter im Roten Mann gewesen, er hat einen herrlichen Neuen; der Mann ist freilich auch weiß am Kopfe, aber noch immer munter! Dort vernahm ich, daß die Frau Weidelich, als die Flucht des anderen Sohnes bekannt war, bettlägerig geworden sei und der alte Weidelich herumgehe wie ein Schatten an der Wand. Aber stets sei er bei der Arbeit, stehe noch eine Stunde früher auf und gehe später zu Bett, immer schweigend, mit allem möglichen beschäftigt, als ob er das Unglück damit bannen oder ungeschehen machen wollte. Und dabei sorge er noch für die Frau und ihre Pflege! Jetzt will ich euch aber nicht länger zur Last sein, ihr Herrschaften, und haltet euch nur frisch oben. Recht geruhsame Nacht! Wie heißt es doch in dem Brief, fällt mir noch ein. Laßt sehen!«[288]

Er nahm den noch offen liegenden Brief und las.

»Richtig, da steht's. Salamiwurst, große ein Zweitel, kleine ein Eintel! Es klingt doch drollig! Recht gute Nacht nochmals!«

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 5, Berlin 1958–1961, S. 278-289.
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