Die Prälatin mit dem Eulenkopfe

[146] Ich war nämlich ihr Liebling noch vom Osterholz her und konnte sie wohl leiden, weil sie wie eine Eule aussah, was mir wegen meiner Vögelliebe merkwürdig war, und weswegen ich sie immer sehr begierig ansah. Mein Vater versäumte nicht, so oft wir eine gebratene Gans verspeisten, ihr ihr Lieblingsstück, das spitze fette Hinterteil, durch mich zu übersenden, welches Geschäft ich auch so freudig, wie das Füttern eines Vogels verrichtete.

Meinem Vater, dessen Ernst sich im Umgange, besonders mit Frauen, gern verlor, gab sie manche Veranlassung zu Scherzen. Oft noch im Mondenschein, wenn sie mit ihrem Eulengesichte aus dem Erker der vis à vis von uns stehenden alten Prälatur sah und herüberrief, entspann sich zwischen beiden ein scherzhaftes Zwiegespräch durch die Fenster im Geplätscher des untenstehenden Brunnens. Wenn aber die Prälatin auch manchmal einsam und nur von mir bemerkt im Mondenschein aus den alten Mauern heraussah, und zugleich die Ratten aus dem Keller der Oberamtei ihre Prozession über den Platz nach dem Brunnen angetreten hatten, so kam das mir wie ein Märchen vor.

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Justinus Kerner: Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Frankfurt a. M. 1978, S. 146-147.
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