Dreizehntes Kapitel.

[32] Serpentin und Luchs hatten einander, ohne ihrer Kindheit noch klar zu gedenken, wie Brüder erkannt. Es war einem jeden, als wär' er schon längst um den andern gewesen, und als zöge süße Gewohnheit einen jeden wieder zum andern hin.

Serpentin legte gern seine Hand in die von Luchs, folgte ihm auch auf jedem Schritte.

Der Graf hatte große Freude an der Zuneigung, die sich beide schenkten. Schon längst war der Tag verflossen, den Luchs sich zur Abreise vom Schlosse bestimmt hatte, aber immer fühlte er sich wieder von Serpentin zurückgehalten. Überall ging der bleiche stille Knabe ihm zur Seite. Der Graf, besorgt um Serpentins Gesundheit, die immer wankender zu werden schien, ließ sich von Serpentin das Wort geben, nicht ohne seinen Willen das Schloß zu verlassen. Heimlich aber hatte der Graf schon vor Tagen einen Brief an Meister Lambert, seinen alten Freund, gesandt, in welchem er ihm Serpentins Anwesenheit auf dem Schlosse verkündet und den Wunsch äußerte, ihn als seinen ältesten Freund, den er schon längst begraben glaubte, wiederzusehen, wo er alsdann den zarten Pflegesohn ihm wieder in die Arme führen werde. Deutlich wie noch nie stiegen indes in Luchs Gefühle aus seiner Kindheit auf. Es war ihm immer, als könnte er ohne Serpentin das Schloß nicht mehr verlassen; endlich aber gewann dennoch sein Trieb zu wandern, die Unruhe, die er stets fühlte, wenn er eine Zeitlang an einem Orte verweilt hatte, die Oberhand, und er war fest entschlossen am nächsten Morgen Kastell zu verlassen.

Noch an diesem Abend war Lambert angekommen.

Es war ihm nach dem Tode Sililiens Tröstung, seinen Serpentin wiederzusehen. Der Graf umarmte in ihm den alten Freund. Er führte ihn zu Serpentin, der erkrankt das Bett zu hüten gezwungen war. Serpentin zog den Meister mit Tränen an sein Herz, auch dem Meister traten Tränen in das Auge. Er konnte Sililiens Tod nicht verschweigen. Da stockten Serpentin die Tränen im Auge, und mildes Lächeln verbreitete sich über sein Gesicht.[32]

Luchs kam nur auf einen Augenblick in die Gesellschaft, Lamberts; er hielt sich den Abend und die Nacht über allein in seinem Gemach verschlossen.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 32-33.
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