Fünfzehntes Kapitel.

[35] Der Graf ließ Serpentin in ein lichtes Gewand kleiden und ihn in einen Sarg voll Rosen niederlegen. Seine kristallene Flöte, die einzige Habseligkeit, die man außer einigen Kleidungsstücken bei ihm fand, ward ihm zur Seite gelegt. Im Chor der alten Kapelle war ihm eine Ruhestätte bereitet. Vier weißgekleidete Hirtenknaben trugen ihn im Morgenrote unter Begleitung des Grafen und Lamberts dahin. Auch viele Knaben und Mägdlein der Gegend folgten seinem Sarge mit weißen Gewanden. Die Kapelle war rings mit Rosen ausgekleidet. Der Schloßkaplan, ein ehrwürdiger Greis mit silberhellem Haare, sprach ein kurzes Gebet, weihte den Sarg mit heiligem Wasser ein und gab ein Zeichen, ihn, das Haupt gegen Morgen gerichtet, in die Gruft zu versenken.

Im nämlichen Momente trat der Feuerball der emporsteigenden Sonne der Kapelle gegenüber, die gemalten Glasscheiben mit ihren Heiligenbildern brannten in verklärten Farben, und hellauf glühte die ganz mit Rosen ausgekleidete Kapelle und goß Duft und Schimmer auf den langsam versinkenden Sarg. Aus all der Klarheit aber blickte das Bild des Gekreuzigten, vor dem Serpentin erst kürzlich noch in so hehrer Andacht gekniet war, freundlich lächelnd hernieder.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 35.
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