19.
19. [In eines Schlosses Fraungemach]

[64] In eines Schlosses Fraungemach

Hing ein uralter Spiegel,

Jetzt hält man ihn dort unterm Dach

Fest unter Schloß und Riegel.


Was mit demselben Spiegel sich

Voreinst hat zugetragen,

Das will ich, ist's auch fürchterlich,

Euch im Vertrauen sagen:


Sobald schlug Mitternacht die Stund',

Aufsprang von jenem Zimmer

Die Türe, und des Spiegels Rund

Ward hell wie Mondenschimmer.[65]


Dann aus dem Spiegel sah heraus

Ein Bild, starr, bleich, entsetzlich,

Wer's sah, den packte Frost und Graus,

Daß er zurücksprang plötzlich.


Wer war das? Eine Frau war das,

Stolz, eitel, ohne Frieden;

Bewundernd sich im Spiegelglas,

Ist sie vor ihm verschieden.


Verscheidend sprach zur Kammerfrau

Sie noch: »Färb' meine Haare,

Damit ich nicht zur Schau so grau

Lieg' in der Totenbahre.


Auch mach' vor der Ausstellungsstund'

Mir meinen Mund doch feiner,

Drück' sanft ihn mit dem Finger rund,

Dann wird er wohl auch kleiner.«


Sie wollte sprechen weiter noch,

Ich glaub' von einem Mieder,

Ich glaub' von falschen Zähnen, – doch

Da sank sie tot darnieder.


Die Dienerin hat nicht getan,

Was Eitelkeit begehrte,

Zum Spiegel jede Nacht sodann

Die Tote wiederkehrte.


Sie wollte färben die Frisur,

Wollt' suchen Zähn' und Mieder;

Doch schrie der Hahn, – schwand ohne Spur

Sie aus dem Spiegel wieder.


Gar viel man von der Geistin sprach

In jenem alten Spiegel,

Drum ließ der Schloßvogt unters Dach

Ihn bringen unter Riegel.


Schnell hab' ich diese Unnatur,

Zu mir heraufgekommen,

Einen Totenkopf auf der Frisur,

Klecksographisch aufgenommen.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 64-66.
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