Vorwort

Es wird wohl manchem bei Lesung und Betrachtung dieser Blätter vielleicht zu Sinne kommen, wie er schon in frühester Jugend durch Zerdrückung von kleinen färbenden Beeren, ja gar Fliegenköpfen und so weiter auf zusammengelegtem Papier, ohne Kunst, ohne Hilfe von Bleistift und Pinsel, Zeichnungen hervorgehen sah. Dessen erinnere ich mich auch noch aus meiner Jugend.

Die Zunahme meiner halben Erblindung war die Ursache, daß ich es in diesem jugendlichen Spiel weiterbrachte; denn dadurch fielen mir, wenn ich schrieb, sehr oft Tintentropfen aufs Papier. Manchmal bemerkte ich diese nicht und legte das Papier, ohne sie zu trocknen, zusammen. Zog ich es nun wieder voneinander, so sah ich, besonders wenn diese Tropfen nahe an einen Falz des Papiers gekommen waren, wie sich manchmal symmetrische Zeichnungen gebildet hatten, namentlich Arabesken, Tier- und Menschenbilder und so weiter. Dies brachte mich auf den Gedanken, diese Erscheinung durch Übung zu etwas größerer Ausbildung zu bringen.

Das Verfahren und die dadurch entstandenen Bilder teilte ich schon vor sieben Jahren vielen meiner Freunde aus der Nähe und Ferne mit, auch wurden sie sehr oft in Albums von Freundinnen mit einer Erklärung durch einen von meiner Hand geschriebenen Vers begehrt, auch in Lotterien zu Stuttgart und Dresden, die wohltätige Frauen zum Besten der Armen veranstaltet hatten, für solche gewinntragend freudig aufgenommen.

Dieses Spiel mit den dicken Klecksen verbreitete sich auch damals bald unter vielen und wurde eine Zeitlang in unserer Gegend und auch in der Ferne fast zu einem Modespiel von Alten und Jungen, selbst in Schulen oft zum großen Jammer der Lehrer. Ein Liebhaber dieser Kunst in Stuttgart hat sogar, wie ich höre, derlei Tintenbilder durch Lithographie vervielfältigen lassen.[39]

Schon vor sieben Jahren gab ein geistreicher Freund der Kunst und des Humors der Art, solche Bilder aus Tintenklecksen zu machen, den Namen der Klecksographie. Auch die in diesen Blättern gegebenen Bilder entstanden auf keine andere Weise. Ich will hier nur noch etwas ausführlicher wiederholen, wie solche Bilder entstehen und auch diese entstanden.

Tintenkleckse (schwäbisch Tintensäue), die auf der Seite des Falzes (auf dessen rechter oder linker Seite, aber nie auf beiden) eines zusammengelegten Papiers gemacht werden, geben (nachdem man das Papier über dieselben legte und sie dann mit dem Ballen oder dem Finger der Hand bestreicht), kraft ihrer Doppelbildung, die sie durch ihr Zerfließen und Abdruck auf dem reinen Raume der anderen Seite der Linie erhalten, der Phantasie Spielraum lassende Gebilde der verschiedensten Art. Bemerkenswert ist, daß solche sehr oft den Typus längst vergangener Zeiten aus der Kindheit alter Völker tragen, wie zum Beispiel Götzenbilder, Urnen, Mumien und so weiter. Das Menschenbild wie das Tierbild tritt da in den verschiedensten Gestalten aus diesen Klecksen hervor, besonders sehr häufig das Gerippe des Menschen. Wo die Phantasie nicht ausreicht, kann manchmal mit ein paar Federzügen nachgeholfen werden, da der Haupttypus meistens gegeben ist. So kann zum Beispiel ein Menschenbild in seiner ganzen Gestalt und Bekleidung herauskommen, jedoch vielleicht ohne Kopf, Hand und so weiter, wo, was auch in nachstehendem geschehen, hie und da das Fehlende leicht zu ersetzen ist.

Bemerkt muß werden, daß man nie das, was man gern möchte, hervorbringen kann und oft das Gegenteil von dem entsteht, was man erwartete.

Es kamen also auch diese hier gegebenen sogenannten Hadesbilder nicht durch meinen Willen und durch meine Kraft hervor, ich bin der Zeichenkunst ganz unfähig, sondern sie kamen auf jene oben beschriebene Weise allein durch Tintenkleckse zutage und erforderten dann oft gar keine, oft nur unerhebliche Nachhilfe durch einige Federstriche oder durch künstliche Nachzeichnung von Gesichtern.

Zu bemerken habe ich auch noch, daß diese Bilder natürlich nicht nach dem Texte, sondern daß der Text nach ihnen gemacht wurde, und so möge auch der Leser und Betrachter dieser Blätter sie und ihre Erklärung in Versen mit Nachsicht aufnehmen.


Im Februar 57.

Justinus Kerner.


Vorwort

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 37,40.
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