Zweite Vorstellung.

[56] Bald teilte sich die Gesellschaft in Partien; einige setzten sich an die runden Tische unter die Linden zum Wein und Gesang; andere tanzten, noch andere aber gingen Arm in Arm[56] am grünen Ufer in Lieb' spazieren. Ich ging allein den Fluß entlang.

Unzählig viel Sterne standen am Himmel; auch stand der Mond da und sah in den Spiegel des Flusses; von manchem fernen Berge aber schimmerte das Fenster einer Kirche oder einer Burg ins Tal herab.

Mit dumpfem Nachhall brachen sich die Wellen des Flusses an den felsigen Ufern. Nach und nach erloschen die fernen Stimmen; nur Holders klagender Ruf scholl noch ins Tal hinab. Er in hatte sich aus Gitter seines Fensters gestellt und rief die vorüberziehenden Wolken um Hilfe an.

Endlich schwieg auch dieser.

Ich vernahm den Klang einer Harfe, die mit Gesang begleitet wurde. Ich sah den Fluß hinauf, da war es mir im Scheine des Mondes, als schwimme eine Meerfrau mit einer Harfe singend daher.

Der Gesang kam immer näher; da erkannte ich, daß er von einem Schiffe kam, welches den Strom herschwamm. Ich rief den Schiffern zu, zu landen: denn ich war fest entschlossen, in dieser schönen Nacht mit ihnen zu fahren.

Wir waren bald eins – und ich holte in der Stille meine Reisetasche aus der Herberge. Eine blinde Harfnerin, welche einen Knaben zum Führer hatte, befand sich auf dem Schiffe; sie hatte im Sinne, auf einen benachbarten Jahrmarkt zu reisen; auch waren noch mehrere Mädchen und Handwerksbursche auf diesem Marktschiffe.

Unter den Mädchen aber war eines, welches mir wegen seiner fremden Mundart und eigenen Wesens bald auffiel.

Es schien kein Landmädchen zu sein wie die andern; es war blau gekleidet und hatte ein schwarzes Band um das lange goldene Haar und die hohe Stirne und war, wie ich nachher erfuhr, von einer Insel der Nordsee, kam mir auch nicht anders vor, als wie eine Meerfrau, so ungewöhnlicher Art war es.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 56-57.
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