Erste Vorstellung.

[83] Der Mühlknecht war des Morgens nicht mehr zu finden: wahrscheinlich war er noch in der Nacht weitergewandert. Er hatte außen an meine Türe mit Kreide geschrieben:[83]


»Es stehen zwei Stern' am Himmel,

Die leuchten wie das rote Gold:

Der eine zu meinem Liebchen,

Der andre durch das finstre Holz.«


Ich machte meinen Bündel zusammen und zog von dannen. Es war noch früh am Tage. Die Städter lagen noch all in ihren Betten; denn es waren die Läden der Fenster rings an ihren Häusern verschlossen.

Die Hähne aber waren schon wach und riefen einander aus den entferntesten Höfen zu; auch hörte ich den Schlag einer Wachtel.

Ich watete geflissentlich recht in dem betauten Stadtgras; denn meine Schuhe waren noch von gestern sehr bestaubt und wurden jetzt wieder ganz neu und schwarz, worüber ich eine gar innige Freude empfand; denn ich erkannte, daß dieses Stadtgras absichtlich der Reinlichkeit wegen erhalten wird und eigentlich eine Reihe blühender Schuhbürsten darstellt. Das Stadtpflaster aber war sozusagen ein Blasenpflaster; denn es war gar zu scharf und jämmerlich bestellt.

Die vielen Bäume dufteten gar herrlich durch die Stadt und waren recht wach; durchkreuzten auch schon die Schwalben und Sperlinge pfeifend die Straßen und nisteten unter den Dächern und Bogengängen der Häuser.

An dem Tore hielt ein Bürger Wache; der war wohl tief in Gedanken über die teure Zeit versunken, oder schlief er; er war an das Schilderhaus gelehnt, hatte die Augen fest geschlossen, über den Mund aber lief ihm eine vom Baum gefallene Weidenraupe.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 83-84.
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